Ballade für einen Verrückten
von Horacio Ferrer; Nachdichtungen von Katrin McClean
Die Nachmittage in Buenos Aires haben dieses gewisse Etwas .... du weißt schon. Ich gehe aus dem Haus auf die Arenales Allee. Es ist alles wie immer, auf der Straße und in meinem Inneren ... als er plötzlich hinter einem Baum hervorkommt. Eine seltsame Mischung aus vorletztem Landstreicher und dem ersten blinden Passagier auf der Reise zur Venus. Eine halbe Melone auf dem Kopf, die Streifen des Hemdes auf die Haut gemalt, die Schuhsohlen an die Füße geklebt, und ein kleines Taxi-Frei-Schild in jeder Hand. Ha, ha, ha, ha.
Es scheint, dass ich die einzige bin, die ihn sieht. Er geht durch die Leute hindurch und die Fensterpuppen zwinkern mir zu. Die Ampeln geben ihm dreimal himmelblaues Licht und die Orangen vom Obsthändler an der Ecke werfen mir ihre Blüten zu. Und so, halb tanzend, halb fliegend, nimmt er die Melone ab, grüßt mich, schenkt mir ein Taxischild und sagt:
Ich weiß, dass ich verrückt bin, verrückt, verrückt.
Siehst du nicht, wie der Mond durch die Callao-Straße rollt
Und eine Parade von Astronauten und Kindern
einen Walzer um mich herum tanzt.
Tanz, komm, flieg.
Ich weiß, dass ich verrückt bin, verrückt, verrückt.
Ich sehe Buenos Aires aus dem Nest eines Spatzen
Und ich sah dich so traurig ...
Komm, flieg, erlebe
die verrückte Phantasie,
die ich für dich habe.
Verrückt, verrückt, verrückt
Wenn es Nacht wird in deiner Großstadt-Einsamkeit
tauche ich am Ufer deiner Bettdecke auf
mit einem Gedicht und einer Posaune,
um das Herz wach zu halten
Verrückt, verrückt, verrückt
Wie ein wahnsinniger Akrobat
werde ich über den Abgrund deines Decolletes springen,
bis ich spüre, dass dein Herz verrückt nach Freiheit wird.
Du wirst schon sehen.
Mit solchen Reden lockt mich der Verrückte,
ihm in seine Super-Sport-Illusion zu folgen.
Und wir laufen über die Giebeldächer,
mit einer Schwalbe als Motor.
Aus der Irrenanstalt kommt Applaus
Hurra, Hurra....die Verrückten, die die Liebe erfunden haben.
Und ein Engel und ein Soldat und ein Mädchen
tanzen einen Walzer für uns.
Und schöne Menschen kommen auf die Straße,
um uns zu grüßen.
Und der Verrückte, mein Verrückter, was weiß ich,
lässt die Glocken läuten mit seinem Lachen
und am Ende sieht er mich an und singt mit sanfter Stimme:
Liebe mich so, verrückt, verrückt, verrückt...
erklimme diese verrückte Zärtlichkeit,
die in mir ist,
zieh dieses Kleid einer Lerche an und flieg,
flieg jetzt mit mir, komm, flieg, komm:
Liebe mich so, verrückt, verrückt, verrückt.
Öffne dich der Liebe,
damit wir sie wieder beleben können,
die totale, verrückte Magie
komm, flieg, komm.
Hurra, Hurra, Hurra,
Er ist verrückt, ich bin verrückt,
Verrückte, Verrückte, Verrückte,
Er ist verrückt, ich bin verrückt.
Die Städte
Und also sprachen wir, Herr: Schenke uns die Gnade, Städte zu errichten, gleich den Bäumen, die reifen, bevor sie vertrocknen.
(Die Entstehung, Kapitel 1972, Erster Vers vom Testament der Zukunft)
Städte. Gegründet, um zu hassen.
Städte: So groß. Wozu?
Städte: Stehende Leichen.
Städte, die wieder zu Staub werden.
Wenn der Stern nicht mehr zu sehen ist,
werden die Erde, das Leben und die Sonne verschwinden.
Dann wird die totale Einsamkeit herrschen,
die der Endpunkt aller Zerstörung ist.
Wie schön muss es sein, wieder aufzubauen.
Liebster, küss mich, bis wir einen Sohn hervor bringen,
mit dem Schwung eines Maurers im Frieden.
Wie schön, eine Stadt wird mir geboren,
die Straße blutet mir über die Füße,
und die Brücke gebar das Vertrauen in meinem Herzen.
Und in jeder Pfütze wird eine junge Möwe sein,
und in jeder Schmiede einer, der die Sonne erfindet,
und an jeder Tür die Inschrift der Sterne,
und in jedem Traurigen ein Lehrling Gottes.
Städte. Städte, die es geben wird.
Hört die Verkündigung.
Städte. Ich fange schon an, sie zu bauen.
Städte, die vom Staub zurückkehren werden.
Das weiße Fahrrad
Hast du ihn gesehen? Bestimmt hast du ihn auch irgendwann einmal gesehen: Ich meine diesen unendlich einsamen Radfahrer, so einsam, dass er nur nachts durch die Straßen promenierte. Die Hosenbeine immer straff in die Strümpfe gestopft, die Baskenmütze tief über die Ohren gezogen. Weißt du, wen ich meine? Keiner weiß, woher er verdammt noch mal kam, und wohin zum Teufel er ging. Wie auch immer, wenn du ihn noch mal vorbei fahren siehst, schau ihn mit deiner ganzen Liebe an, denn es könnte ja sein, dass noch einmal ...
Dieser Typ mit dem weißen Fahrrad,
er pfiff eine kleine Polka, wenn er in der Stadt aufkreuzte.
Seine Räder waren zum Jammern, viel zu klein und total verbogen.
Was hat der Ärmste sich abgestrampelt, den Bart bis runter aufs Pedal.
Sein Lenker waren die Hörner einer Ziege
und hinten in einem kleinen Karren hatte er ein Fisch und ein Brot geladen.
Er pfiff auf dem letzten Loch, wenn er eine Gasse hoch strampelte.
Und gleichzeitig feuerte er sich selber an und schrie beim Fahren:
Los komm, Gott, .... Mach, Gott!....
Reiß dich zusammen und fass dir ein Herz,
du weißt genau, gewinnen heißt nicht,
irgendwo anzukommen, sondern weiter zu gehen.
Alle, die auf dem Bürgersteig waren,
haben sich gekrümmt vor Lachen.
Wir haben ihn fast zu Tode gelacht!
Aber er, mit Augen wie eine Romanfigur,
grüßte uns und bedankte sich
und wiederholte immer wieder:
„Los komm, Gott ... Mach, Gott,
Gib alles, was du hast, Gott“
Und dann eines Abends versprühte sein jämmerliches Fahrrad mit Hänger
plötzlich einen riesigen phosphoreszierenden Schweif. Es war unglaublich!
Die Diebe in den Bussen gaben die geklauten Brieftaschen zurück.
Die Mächtigen machten dem Hunger ein Ende.
Die Ufos enthüllten uns das Mysterium des Friedens.
Der Bürgermeister persönlich stopfte die Schlaglöcher in den Straßen,
und selbst ich, Junge, ich, der ich nichts als Leid kenne, habe geweint vor Freude,
und unter diesem Licht die Polka des Radfahrers getanzt.
Aber dann, ich weiß nicht, ich schwör’s, ich weiß nicht, woher diese gespenstische Wut,
ich weiß nicht, warum wir das gemacht haben. Wir haben es getan, ohne es zu wollen.
Wir haben diesen Typen, diesen armen Burschen, hinterrücks überfallen,
und auf sein weißes Fahrrad eingetreten.
Wir haben es in Grund und Boden getrampelt, eiskalt, ohne zu hadern,
tausend Stücke haben wir daraus gemacht.... Und dann hab ich gesehen, wie er
sich am Kinn kratzte und sagte: „Gerettet sollen sie sein!“
betrachtete sein Fahrrad, lächelte und ging zu Fuß davon.
(Mein alter Junge unser, der du auf dieser Erde gewandelt bist:
Wie konntest du vergessen, dass wir keine Engel sind, sondern nur Männer und Frauen?)
Alter,
sei nicht traurig,
es war nicht alles umsonst,
verlier nicht deinen Glauben
an einen Kometen mit Pedalen.
Komm schon, komm!
Ich weiß doch,
dass du wieder kommst.
Horacio Ferrer (1933 bis 2014) wurde in Montevideo (Uruguay) geboren und lebte als Schriftsteller und Journalist in Buenos Aires. 1955 lernte er Astor Piazolla kennen, mit dem er bis 1973 eng zusammen arbeitete. Danach wurde er mit eigenständigen Gedichtbänden berühmt. 1990 gründete er die nationale Tango-Akademie von Buenos Aires, deren Präsident er bis zu seinem Tod 2014 war.
Mehr von Horacio Ferrer:
Horacio Ferrer trägt La Bicicleta Blanca vor: https://www.youtube.com/watch?v=2M53_7JE3Xo
Bicicleta Blanca mit Piazolla und Raul Lavié: https://www.youtube.com/watch?v=99xnE4sJDNc
Balada para un Loco, mit der italienischen Sängerin Milva und Astor Piazollas Orchester: https://www.youtube.com/watch?v=QYbuoC4mewk
Ciudades, mit Amelita Baltar: https://www.youtube.com/watch?v=THzcFn3KFmU
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