„Nein, mich ergreift kein freudiger Schauer angesichts der Macht, ich finde sie abscheulich, wo immer sie beansprucht oder erlistet, erkämpft, erzwungen oder wohl erworben sei. Das Ach, das sie enthält, und die Nacht, auf die sie sich reimt, das ist sie: Der Seufzer und die Finsternis in unserem Leben“ (Günter Eich, Dankrede zum Büchnerpreis 1959).
Das klingt dramatisch. Tatsächlich aber wird, wer heute zum Thema Macht im Internet recherchiert, kaum mit existenziellen Fragen konfrontiert, sondern eher auf Webseiten von Wirtschaftsverbänden und Unternehmenscoachings geleitet. Macht wird in diesen Kontexten gern an Moral und Verantwortung gekoppelt und ihre Ausübung mit dem Ziel einer effizienten Unternehmensführung begründet.
Zwischen diesen beiden Polen — dem Nachweis ihrer sozialen Grausamkeit und der Behauptung ihrer Zweckmäßigkeit — treten die Manifestationen der Macht historisch und kulturell in immer neuen offenen und versteckten Konstellationen auf den Plan.
In Politik und Gesellschaft wird Macht innerhalb der Grenzen einer sozial kodierten Führungsrolle legitimiert, so in einer parlamentarischen Demokratie, wo, zumindest theoretisch, das Volk die Macht an die von ihm gewählten Vertreter delegiert. Ihre signifikantesten Wirkungen entfaltet sie jedoch allemal dort, wo sie zwar präsent ist, ihre Mechanismen jedoch unterhalb der Bewusstseinsschwelle einrasten: also überall.
Macht ist nichts Gegenständliches, sondern eine unsichtbare Eigenschaft menschlicher Beziehungen. Sie ist deshalb nicht an sich, sondern immer nur als Wirkung zu beschreiben.
In welchen Kontexten Menschen einander auch begegnen mögen — Macht ist dabei eigentlich immer im Spiel. Von der ersten Sekunde an. Das kann jeder, sofern er dazu bereit ist, in seinen Alltagserfahrungen verifizieren. Seine Beobachtungen und Einschätzungen behält er dabei allerdings lieber für sich, denn sie offenzulegen käme einem Tabubruch gleich, der die jeweilige Beziehung auf eine schwere Probe stellen könnte. Die Voraussetzung dafür, dass unsere Beziehungen Bestand haben, ist nämlich, dass der Machtfaktor, der sie determiniert, unausgesprochen bleibt. In diesem Dilemma der Unaufrichtigkeit, das nur den wenigsten bewusst ist und das, selbst wenn es tatsächlich einmal zur Sprache kommt, nur in den seltensten Fällen aufgelöst werden kann, leben wir.
Im Gegensatz zu vergangenen Epochen, in denen Macht als natürliches Privileg der herrschenden Klassen betrachtet wurde und deshalb fraglos war, ist Macht heutzutage, sofern sie nicht im affirmativen Sinne zur Verantwortung für ein Unternehmen oder das Gemeinwohl umgedeutet wird, eher negativ konnotiert. Unwillkürlich werden die meisten Menschen an den Machtmissbrauch in Kirchen und sozialen Institutionen sowie an Gewalt gegen Frauen und Kinder denken, sprich an diejenigen Varianten eines Machtverhältnisses, denen objektive Abhängigkeiten zugrunde liegen.
Grundsätzlich gilt, dass, wo immer Macht sich manifestiert, sie niemals gerecht verteilt sein kann. Das Wesen der Macht ist Streben nach Dominanz, und erst das Ringen um sie — ein mehr oder weniger subtiles Kampfgeschehen — macht sie überhaupt beschreibbar.
Mit anderen Worten: Ist die Machtfrage einmal geklärt, dann ist die Macht verschwunden — allerdings nur, um in einer neuen Konstellation unverzüglich wieder aufzuerstehen. Denn die Macht ist schlau. So einfach lässt sie sich aus unserem Leben nicht vertreiben.
„Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden“, schrieb einst der traurige Satiriker Kurt Tucholsky.
Doch sollte es nicht möglich sein, dass wir uns der Strukturen von Macht und Unterwerfung zumindest bewusst werden? Wenn es stimmt, dass Macht sich immer dort am effektivsten artikuliert, wo ihre Mechanismen unentdeckt bleiben, dann wäre dies ein erster Schritt, um den Teufelskreis aus Machtausübung und Machtgewährung zu durchbrechen.
Erst wenn es uns also gelingt, die Macht — unabhängig davon, ob sie aktiv oder passiv in uns wirkt — zu entmachten, wird es langfristig möglich sein, unsere Konditionierungen zu überkommen und uns als freie Menschen zu begegnen. Denn frei ist in einer Beziehung weder derjenige, der Macht ausübt, noch derjenige, dem sie widerfährt.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der typische Machtmensch in seiner Kindheit selbst zum Objekt gemacht worden sein und deshalb, einem negativen Wiederholungszwang folgend, seine späteren Beziehungen nach eben diesem Modell gestalten, um seinen Selbstwert zu bestätigen und kontinuierlich zu steigern. Derjenige, der sich dem Machtwillen eines anderen Menschen unterwirft, wird, aus durchaus vergleichbaren Gründen, die Erniedrigung zum Objekt verinnerlicht und sich in der Rolle des geborenen Opfers eingerichtet haben. Das dynamische Wechselspiel von Narzissmus und Macht wird zu gleichen Teilen durch die Machtgelüste des Herrschers und das Bedürfnis des Beherrschten nach Unterwerfung, Schutz und blinder Gefolgschaft geprägt. Dass weder dem einen noch dem anderen die fatalen Mechanismen der eigenen Verhaltensmuster bewusst sind, ist die notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Machtausübung.
Es ist wahrscheinlich, dass sich diese beiden Prototypen im Laufe ihres Lebens in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder begegnen werden: in Freundschaften, Liebesbeziehungen und am Arbeitsplatz. Der eine wird seine Minderwertigkeitskomplexe durch das Ausleben von Macht kompensieren, der andere sein Selbstwertgefühl durch Identifikation mit demjenigen herstellen, der ihn zu Handlungen bewegt, die er freiwillig niemals unternehmen würde — ein Umstand, den der Soziologe Max Weber in die bündige Formel fasst: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“
Haben sich die passenden Partner einmal gefunden, ist es erfahrungsgemäß nahezu unmöglich, ein solches Beziehungsmuster, zumal wenn es für beide Seiten „funktioniert“, zu beenden. Um Macht effektiv auszuüben, bedarf es, sofern es sich nicht um ein objektives Abhängigkeitsverhältnis handelt, der stillschweigenden Übereinkunft aller Beteiligten, und so ist die einzige Möglichkeit, die blinde Mechanik der Herrschaft außer Kraft zu setzen, der kategorische Dissens: Weder gebe ich dir das Recht, über mich zu herrschen, noch möchte ich dich beherrschen.
Ein solcher Transformations- beziehungsweise Heilungsprozess kann immer nur in unseren persönlichen Beziehungen beginnen. Die Veränderung im Privaten ist, so unwahrscheinlich dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch erscheinen mag, das Modell für die Entmachtung der politischen Macht.
Herrschaftsstrukturen prägen unser Zusammenleben auf allen Ebenen. Erst mit der Aufklärung und der Französischen Revolution, die deren Proklamationen in politisches Handeln umsetzt, wird die Frage nach ihrer Legitimation zum ersten Mal offen gestellt. Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Sozialwissenschaften liefern fundamentale Erkenntnisse zur Funktionsweise von Macht und institutionalisierter Herrschaft, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Im Zuge der Digitalisierung, die unsere Lebenswelt in den vergangenen drei Jahrzehnten radikal verändert hat, stellt sich die Frage nach den Grenzen der Macht heute allerdings in zunehmend beunruhigender Form.
Hochentwickelte technologische Prozesse ermöglichen es, weltweite Informationsströme gezielt zu steuern und dadurch die Interessen der selbst ernannten Eliten in den Köpfen der Menschen rund um den Globus zu implantieren: scheinbar ohne jeden Zwang und unter Vorspiegelung der grundfalschen Tatsache, dass jeder Erdenbewohner durch Internetzugang zum gleichberechtigten Player auf der Weltbühne werden kann. Dabei setzen die globalen Machthaber — nicht anders als manipulative Freunde oder Familienmitglieder — auf Verschleierung. Um ihre Macht, unabhängig von den jeweiligen Inhalten und Zielen, optimal auszuspielen, machen sie deren Adressaten zu Komplizen, indem sie ihnen suggerieren, an Meinungsbildungsprozessen und Konsumentscheidungen aktiv beteiligt zu sein — und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Präsidentenwahl oder den Kauf einer Markenjeans handelt.
Grundsätzlich gilt: Je subtiler die Techniken der Manipulation, desto schwieriger für den Einzelnen, sich gegen den überwältigenden Konsens der Masse zu positionieren. Es liegt dann nahe, zumal bei Menschen, die außerstande sind, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, Ohnmacht durch freiwillige Unterwerfung zu kompensieren.
Dieselbe Konstellation, die man aus persönlichen Beziehungen kennt, kommt auch auf gesellschaftlicher Ebene zum Tragen: eine pathologische Bedürftigkeit beider Seiten, die in einem schamhaft verschwiegenen Pakt momentane Befriedung erfährt.
Es versteht sich von selbst, dass ein derartig pathologisch irregeleiteter Pseudoausgleich der Interessen unmöglich von Dauer sein kann. Je mehr der eine versklavt wird, desto weniger wird er sich noch als menschliches Subjekt erfahren und desto mehr Gewalt muss der andere gegen ihn aufbringen, um ihn noch beherrschen zu können. Aus dieser Dynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Machtprozessen ab. Denn auch derjenige, der sich in der scheinbar überlegenen Position befindet, ist in Wahrheit abhängig von denjenigen, denen er seinen Willen aufzwingt. Das kindliche Bedürfnis, um jeden Preis geliebt und bewundert zu werden, bringt ihn in die ausweglose Lage, neben seinen eigenen zugleich die Wünsche der von ihm Unterdrückten erfüllen zu müssen.
Die ungelösten Beziehungskonflikte, die jedem individuellen und kollektiven Machtverhältnis zugrunde liegen, sind das entscheidende Motiv dafür, dass Macht unfähig ist, sich selbst zu begrenzen, und im Gegenteil dazu tendiert, sich nach einer Phase der Konsolidierung sukzessive von ihren ursprünglichen Inhalten abzulösen und an deren Stelle sich selbst zu setzen. Das daraus resultierende Sinnvakuum ist der untrügliche Indikator für den Niedergang von Weltreichen, Diktaturen und vielleicht der demokratischen Systeme westlicher Prägung, wie wir sie kennen.
Macht kann, nach allem, was uns die Geschichte lehrt, nicht anders, als immer mehr Macht zu fordern. Ausdehnung ist ihr Wesen, und insofern ist sie aufs Engste mit der Frage nach Leben und Tod verbunden. Für Elias Canetti ist der Inbegriff des Beherrschten derjenige, der auf Befehl eines Machthabers bereit ist, in den Tod zu gehen — weshalb noch in jedem gewöhnlichen Befehl das Echo einer Todesdrohung mitschwingt.
Das klingt apodiktisch und wirkt, zumal in Kontexten, in denen Macht gern an Verantwortung für die Gemeinschaft gekoppelt wird, wie böses Märchengeschehen. Doch Macht gehört nun einmal zu den Nachtseiten des Menschseins. Sie ist und wirkt überall, und der Versuch, sich aus ihren Fängen zu befreien, kann auf keinen Fall darin bestehen, sie ins Positive zu wenden. Ein Ausweg aus dem Teufelskreis der Verstrickung ist tatsächlich nur unter der einen Voraussetzung denkbar, dass alle Beteiligten sich ihrer innewerden.
„Es wird Ernst gemacht, die perfekt funktionierende Gesellschaft herzustellen. Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien. Die Chance, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, wäre vertan.“
Eine Fundamentalkritik der Macht formulierte der Schriftsteller Günter Eich in seiner Dankrede zum Büchnerpreis 1959, in der er ihren raffinierten Verführungsstrategien bis in die feinsten Verästelungen hinein nachspürt. Als Schriftsteller liegt ihm naturgemäß die Sprache besonders am Herzen, und so steht im Zentrum seiner Argumentation die der Macht innewohnende Tendenz, sich ihrer zu bemächtigen. Erschreckend aktuell liest sich heute, was Eich vor 65 Jahren in Darmstadt der literarischen Prominenz der jungen Bundesrepublik ins Gewissen sprach, als er sie unmissverständlich daran erinnerte, dass es nicht die Inhalte sind, mit denen man die Macht in ihre Schranken verweist, sondern die Art und Weise, wie man mit Sprache umgeht. Daran, wie ein Schriftsteller seine Worte wählt und seine Sätze bildet, lasse sich ablesen, ob er die Mechanik der Macht durchschaut habe und wie er sich zu ihr verhalte. Gewidmet hat Eich seine Überlegungen all denen, die das Elend der Welt nicht vergessen, wenn sie glücklich sind.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die damals die Reden der Preisträger veröffentlichte, weigerte sich im Falle Günter Eichs. So genau sollte ihre Leserschaft nun doch nicht erfahren, was Macht mit uns macht. Heute ist Eichs Rede durch einen Klick im Netz problemlos aufrufbar.
Die Verfasserin dieser Zeilen bekennt: Es ist ihr kein anderer Text von vergleichbarer Tiefe der Intuition und Schärfe der Gedankenführung bekannt.
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