Jens Wernicke schreibt in seinem persönlichen Rubikon-Artikel „Die Sehnsucht nach Leben“ von selbst erlebter emotionaler Grausamkeit, davon, wie er innerlich starb. Ein Artikel, der mich sehr berührt hat. Doch wer jetzt glaubt, es handele sich um einen isolierten Einzelfall, der täuscht sich.
Die Nachfrage nach Psychotherapieplätzen übersteigt bei Weitem das Angebot. Praxen würden überquellen, nähmen sie alle Hilfesuchenden an. Haben traumatisierte Menschen nach monatelanger Wartezeit endlich einen Therapieplatz ergattert, werden sie mit 50 Minuten pro Woche abgespeist, nicht wissend, dass sie nicht nur mehr Zeit, sondern auch umfangreichere, ganzheitliche Therapien benötigen. Das Fatale ist, dass niemand darauf zu kommen scheint, dass die Lösung nur an der Wurzel zu packen ist. Und diese Wurzel ist weit verzweigt und tiefgreifend.
Jens Wernicke schreibt von einer Gesellschaft, die tagtäglich ihre Kinder und sich selbst traumatisiert, ohne dies wahrhaben zu wollen. Da stellt sich die Frage, wo man am besten anfängt. Jeder bei sich selbst und in seinem Wirkungskreis: Wir müssen aufhören, unsere Kinder wie Befehlsempfänger zu behandeln. Das Schulsystem benötigt ebenso eine Reformierung wie das Gesundheits- und Finanzsystem. Unsere Gesellschaft krankt.
Doch wie sollen traumatisierte Verantwortliche zur Gesundung einer traumatisierten Gesellschaft beitragen? Also tut es Not, erst einmal zu erkennen, dass wir viele Baustellen haben, und zu akzeptieren, dass jeder seine eigene Geschichte aufarbeiten muss, um am Ende für sich und die Gesellschaft einen heilsamen Beitrag zu leisten. Und dafür müssen ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden!
Es scheint, als sei diese Aufgabe zu groß. Wir stehen vor dem Berg der Ignoranz. Bestes Beispiel derzeit ist, wie wir bezüglich „Fridays for Future“ unseren jungen Menschen begegnen, die aufstehen, protestieren und sich willig für Veränderungen zeigen. Sie werden belächelt und Lügen gestraft. Sie werden mit ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen. Das zeigt doch mehr als deutlich, wie unsere Gesellschaft, also wir, mit Schutzbefohlenen und jungen Menschen umgehen. Wir degradieren sie zu Dummköpfen und Sündenböcken, um uns weiter im Wohlstandssud wälzen und in der Komfortzone bleiben zu können. Meines Erachtens ist Machterhalt hier die Triebfeder (1).
Anderen sogenannten Minderheiten — zum Beispiel alten, arbeitslosen, kranken, behinderten, eingewanderten, geflüchteten Menschen — wird die gleiche Härte und Ignoranz entgegengeschleudert. Es ist, als ob die Messlatte für viele von uns zu hoch gehängt wird.
Ließe sich die Gesellschaft nicht immer wieder zwecks Machterhalt spalten, wären diese Minderheiten einfach nur eines: Menschen und somit in der Mehrheit.
So aber fallen sie durch das Sieb des Systems. Sie werden geopfert; sie sind Opfer, weil sie eine traumatische Geschichte haben, zu Opfern gemacht, weil sie in einem konkurrenzgesteuerten System als Randgruppe nur verlieren können.
Es ist ein steiniger Weg, sich einzugestehen, dass man Opfer ist, und angemessen bei entsprechenden Menschen um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Deshalb und weil es in einer Täter-Opfer-Dynamik zunächst keinen anderen Weg gibt, entwickeln viele geschundene Seelen eine Opferhaltung als Überlebensstrategie. Sie klagen und jammern über Ungerechtigkeiten, die ihnen immer wieder zuteilwerden, oder sind der Überzeugung, es ja nicht besser verdient zu haben. Diese Haltungen werden vom System der Gesellschaft bedient, bestätigt und manifestiert. Nur Wenige sind in der Lage, aus dieser Verkettung auszubrechen. Der Psychologieprofessor und psychologische Psychotherapeut Franz Ruppert sagt:
„Es ist die Täter-Opfer-Dynamik, die zu einer Endlosschleife der seelischen Verletzungen führt. Eltern, die als Kinder nicht gewollt und nicht vor Gewalt beschützt wurden, werden meist selbst zu Tätern an ihren eigenen Kindern und reinszenieren unbewusst ihre eigenen Erlebnisse. Ganze Gesellschaften können auf diese Weise trauma-assoziiert sein und offen oder verdeckt Gewalt ausüben“ (2).
Ein Beispiel: Ein erwachsener Mensch, der als Kind über einen längeren Zeitraum immer wieder oder dauerhaft traumatisiert wurde, entwickelt keine eigene Identität (3). Das Kind lernt, sich mit seinen Lebensbegleitern und seinen Idolen zu identifizieren (4). Bricht eine Identifikation weg, bricht ein Teil von ihm zusammen. Das kann sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. Eine menschlich stabile Grundlage bildet ein gesundes Ich. In einer Traumabiografie (5) aufgewachsen, ist diese Grundlage fast nicht oder nur sehr abgetrennt von sich vorhanden. Stellen wir uns eine eigene Identität, ein gesundes Ich als gesunden Kern des Menschen vor, der bei einer Traumatisierung in frühester Kindheit umwoben ist von Identifikationen mit verschiedenen Lebensbegleitern wie etwa
- der traumatisierten Mutter
- dem traumatisierten Vater
- den traumatisierten Großeltern
- dem besten Freund, der besten Freundin
- dem Klassensprecher, -besten, -liebling
- dem Kindermädchen
- dem Sportverein/Fußballclub (oft bei Jungen)
- einem Schauspieler / Sänger / Model (oft bei Mädchen).
Die Eltern/Großeltern sind hier emotional nicht erreichbar, ein Halt für das Kind ist nicht vorhanden. Aus dieser Not heraus muss es versuchen, sich anderweitig zu binden. Es identifiziert sich mit Menschen, die das zu haben scheinen, was ihm fehlt. Diese Identifikation hat zur Folge, dass das traumatisierte Kind sich immer weiter von sich selbst entfernt, so sein möchte und sich vielleicht so kleidet, so verhält wie die Person, mit der es befreundet sein möchte. Ist der Kontakt beendet, stirbt gefühlt ein Teil des sich identifizierenden jungen Menschen. Er sucht nach Liebe und Anerkennung, die er vielleicht eine Zeitlang zum Beispiel beim Lehrer findet. Auch hier handelt es sich nur um eine vorübergehende „Lösung“.
Vielleicht gibt es ein Kindermädchen, bei dem das Kind sich gut angenommen fühlt, oder eine liebevolle Bezugsperson aus der Verwandtschaft. Oder es existiert für eine gewisse Zeit ersatzweise ein Sportverein, ein Sänger, eine Musikband, ein Schauspieler et cetera.
Mögliche Identifikationsfiguren gibt es viele für ein Kind, das immer auf der Suche nach einem Spiegel, einem Gegenüber, nach wohlwollenden Menschen ist, die es sehen, annehmen und lieben, nach Gruppierungen, die es aufnehmen, nach Idolen, denen es nacheifern kann.
Der Mensch auf der ewigen Suche danach, gesehen und geliebt zu werden, kann jedoch einzig enttäuscht werden.
Was erwidert wird, ist meist zeitlich und emotional begrenzt. Kein Lehrer, Trainer, Kindermädchen und so weiter ist in der Lage, diese kindliche Hoffnung nach bedingungs- und grenzenloser Liebe zu erfüllen. Nicht einmal Eltern haben diese Fähigkeit per se in sich. Kinder allerdings haben Liebe und Fürsorge als Geburtsrecht gepachtet. Jedem kleinen Menschen steht es zu, geliebt zu werden. Auf seiner unerfüllten Suche fühlt sich das Kind in seiner angenommenen Wertlosigkeit bestätigt. Es hat es ja nicht besser verdient. Eine Erfahrung, die es immer wieder machen muss.
Ist dieses Kind nun erwachsen, wird es beispielsweise angepasst (6), dankbar, dabei sein zu dürfen, angestrengt und bemüht, immer das Beste zu geben mit der immer gleichen Erfahrung, dass dies aber nicht ausreicht. Ein Kampf, den keiner gewinnen kann in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft. Ein Kampf, der unweigerlich dazu führt, dass der Mensch, der ihn kämpft, früher oder später ausbrennt, dass alles in ihm zusammenbricht.
Was können wir tun?
Wir können anfangen, uns und andere mit unseren und deren Bedürfnissen und Gefühlen ernst zu nehmen. Wir können anfangen, uns zuzuhören. Wir können endlich damit beginnen, unsere Ängste wahrzunehmen und nicht länger zu verdrängen und zu verteufeln. Wir sollten unserer Einsamkeit Raum geben, statt immerzu in ablenkenden Aktionismus zu verfallen (7).
Und: Wir können uns erlauben, um Hilfe zu bitten, statt uns weiter einzureden, wir hätten es nicht verdient oder würden es schon alleine schaffen. Wichtig beim letzten Schritt ist, nicht aufzugeben. Entwickeln Sie den Willen, sich kennenlernen zu wollen! Studieren Sie Ihre psychische Struktur mithilfe von Fachliteratur, beispielsweise von Franz Ruppert, Vivian Vivian Broughton, Bessel van der Kolk, Michaela Huber, Karl Heinz Brisch, Joachim Bauer et cetera, oder von Vorträgen, Fachgesprächen mit Gleichgesinnten und Therapeuten! Schauen Sie über den Tellerrand! „Hoffe nicht länger, handle!“ ist hier die Botschaft. Jeder Mensch in seinem Tempo und mit seinen Möglichkeiten.
Wenn wir anfangen können, das, was wir für andere tun, uns selbst zu schenken, ist der erste Meilenstein geschafft.
An dieser Stelle spreche ich Jens Wernicke und allen meinen KlientInnen und KollegInnen — und nicht zuletzt mir selbst — ein ganz herzliches Danke für ihren Mut und ihre Offenheit aus.
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Zieht man unter den Forderungen von Fridays for Future einen Strich, so läuft das auf die Deindustrialisierung Deutschlands, auf den Wechsel ins Land der Träume hinaus.“ https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/fridays-for-future-zukunft-ohne-freiheit/
(2) Franz Ruppert: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018
(3) Franz Ruppert: Das Trauma der Identität, https://youtu.be/ZoAhyyhEUts
(4) Lexikon Stangl: In der Psychoanalyse Bezeichnung für einen Prozess, in dessen Verlauf sich ein Individuum mehr oder weniger unbewusst durch emotionale Bindung an einen Mitmenschen zeitweise oder relativ überdauernd in dessen Lage versetzt, um so wie diese Bezugsperson zu denken oder zu handeln bzw. sich dies vorzustellen (Fröhlich, 1994, S. 212) (Stangl, 2019).Verwendete Literatur Stangl, W. (2019). Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/21/identifikation/?fdx_switcher=true (2019-06-10)
(5) Franz Ruppert/ Harald Banzhaf, 2017, Mein Körper, Mein Trauma, Mein Ich, Kösel Verlag 2017
(6) Erich Fromm, Ein legendärer Psychoanalytiker spricht offen über die kranke Gesellschaft, https://youtu.be/9R9C-MYaILI
(7) Pema Chödrön, Wenn alles zusammenbricht, Goldmann Verlag, 1996
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