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Zum Sterben schön

Zum Sterben schön

Während der Herbst die Melancholie des Abschieds ausstrahlt, bringt er noch einmal Frucht und Farbe in unser Leben.

Wie immer in der Natur werden wir allmählich und rhythmisch in eine neue, weitere Stufe geführt. Die Übergänge haben etwas Unmerkliches. Es ist wie in einem Roman, in dem zunächst nur Andeutungen die Handlungsmotive kurz anklingen lassen. Kurze Momentaufnahmen lösen bestimmte Seelenschwingungen aus, um die es im folgenden Geschehen gehen soll. Sie bereiten uns vor. Der Abend bekommt eine überraschende Kühle, denn noch ist es Sommer. Das Licht wird für kurze Zeit milder, zurückgenommener. Dies kann im Spätsommer ein Moment sein, der zum Innehalten einlädt. Ein erstes Blatt löst sich und weht zu Boden. Später dann der erste kondensierte Atemhauch.

Die herbstlichen Blumen blühen auf, etwa die Astern mit ihren feinen Strahlen. Bienen und Schmetterlinge tanzen noch auf ihnen und nutzen jede sonnige Stunde.

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Die Blütenfarben, im Sommer eher durch kräftige sinnliche Farben wie Rot, Orange und Gelb geprägt, gehen in Violetttöne über. Im Regenbogen ist Violett die unterste Farbe. Wenn sich — in selteneren Fällen — ein doppelter Regenbogen darüber ausbreitet, dann steht das Violett zuoberst, ganz zum Himmel hin.

Wie mahnend und ohne Ankündigung stehen eines Tages die Herbstzeitlosen in Matten auf der Wiese oder als vereinzelte vielblütig buschige Pflanzen am Mauerrand. Ihr überaus zartes, wie hingehauchtes Violett unterscheidet sie deutlich vom Frühlingskrokus, für den man sie auf den allerersten Blick halten könnte. Ihre Farbe deutet auf geheimnisvolle Art die unumkehrbare Vergänglichkeit des Seins an, verweist auf den Moment, der als gewordener in der Spannung zum Zukünftigen steht und die Chance bietet, ihm gerecht zu werden.

Eigentümlich ist, dass die feinnervigen Blüten ohne Blattgrün erscheinen und die Blütenstiele sich zur Hälfte unter der Erdoberfläche befinden. Die erstaunlich robusten Blätter der Herbstzeitlosen sind bereits im Frühjahr aus der Erde getreten und sind jetzt im Herbst wieder eingezogen worden. Die Blumenköpfe scheinen sensibel und fluktuierend beweglich, sich öffnend und schließend. Je nach Witterung modifizieren sie ihre Erscheinungsform. Sie können auch nach stärkerem Regen längere Zeit darniederliegen, ohne zu vergehen.

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Und doch kann man in Rundung und Wölbung der Blütenblätter eine ganz bestimmte schöne und wohltuende Proportion erkennen, die nur der Herbstzeitlosen eigen ist. Die langen orangeroten Staubfäden stehen in faszinierendem Kontrast zum fast verwehenden neblig zarten Violett und ähneln denen von Safran. Sie schimmern durch den elegant geformten Blütenschaft, der mich an alte Sekt- oder Weingläser erinnert, bei bestimmten Lichtverhältnissen phosphoreszierend hindurch. Auch das Küchengewürz Safran enthält giftige Inhaltsstoffe, die in der richtigen Dosis ruhig und entspannend auf Körper und Seele wirken.

Die Herbstzeitlose ist seit der Antike als Gift- und Heilpflanze bekannt. Sie enthält das sehr giftige Alkaloid Colchicin, das die Zell- und Zellkernteilung hemmt, und kann bei Krebs, bei starken Gichtanfällen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen Abhilfe schaffen. Andere volkstümliche regionale Bezeichnungen sind zum Beispiel Giftkrokus, Wiesensafran, Wildsafran, Herbstblume, Spindelblume, Winterhauch, Heilhubita. Die etwas melancholisch wirkende Herbstzeitlose wird in Gärten gern mit farbigem Laub oder bunten Gräsern kombiniert.

Die Farbenpracht flammt nun in den Blättern auf. Rot und gelb und brokatgolden wehen sie tanzend hinab, um trocknend zu zersplittern und zu werden wie Erde, einem inneren Verglühen gleich. Ein Aufleuchten, das auch im Menschen aufleuchtet.

Bei Sterbenden ist es nicht selten, dass sie kurz vor dem Tod in eine Phase treten, in der sich noch einmal alle Vitalkraft aufzubauen scheint. Das Licht wird milder. Die Lichtqualität in den nördlichen Breiten weist erstaunlich viele Zwischenstimmungen auf und entspricht in gewisser Weise der beglückenden Stimmung des sanften Abendlichtes.

Als ich nach einer Balireise in Berlin landete, war ich beeindruckt vom klaren flachen Oktoberlicht des Spätnachmittags und dachte: Dieses weiter- oder tieferblickendere europäische Oktoberlicht möchte ich nicht missen.

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Das Licht umgewandelt und „aufbereitet“ finden wir in den nährstoffreichen Beeren, Samen und Gewürzen wie Kümmel und Fenchel, in den Früchten, besonders auch in den Wurzelfrüchten. Kräftige Farben und herrliche Aromen in Sanddorn, Hagebutte, Kornelkirsche, Weißdorn- und Ebereschenbeeren, im Kürbis als der größten Beere. Kohlsorten, Getreide, Hopfen, Holunder, Schlehdorn, Zwetschgen, gelbrote Äpfel, Birnen, Quitten und Mispeln, Wein.

Alles wogt im Überfluss. Braunglänzende Nüsse, Bucheckern und Kastanien, die zerkleinert als Seife und Waschmittel verwendet werden können. Es ist an alles gedacht. Schafe, Wolle und Wärme …. Birkenholz im Ofen. Die Natur zeigt ihre verschwenderische Fülle, ich möchte sagen: Überfülle. Es ist nur ein Bruchteil, den wir über den Winter brauchen werden. Freude und Dankbarkeit. Reife und Ernte sind die weitertragenden Metaphern des Herbstes.

Da ertönt der charakteristische Ruf der Wildgänse und der Kraniche. Zeit für Sammlung und Aufbruch. Am Himmel formieren sich alljährlich um diese Zeit die eindrucksvollen Flugkeile der Zugvögel, die chiffrenhaft über den Himmel ziehen. Dies ist mir seit meiner Kindheit zu einem anrührenden Moment des Innehaltens geworden. Das Wegziehen steckt darin, die weite Ferne, der dunkler werdende Himmel in der frühen Dämmerung. Die mahnenden Vogelrufe. Innere Einkehr. Der Herbst ist Sterbezeit. Auch mein Vater zog mit den Kranichen … „Nicht noch einen Winter“ soll Hildegard von Bingen gesagt haben, als sie sich zum Sterben rüstete.

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Wenn der Herbst da ist, spüren wir, dass wir ihn nicht abkürzen können oder wollen. Ist es nicht beglückend, den Reichtum, den die Natur schenkt, zu bergen und unsere Freude, unser Menschgewordensein, unsere Ernte in die große Ernte des Gestirns einfließen zu lassen? Geht es im Leben eines jeden einzelnen nicht letztlich darum, vollgültig er Selbst zu sein? So geht es um Ernte und Verwandlung in jedem von uns. Und diese Ernte sollte gut ausfallen. Dieser Gedanke ist mir wie ein immerwährendes Hintergrundbild. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen.

Die Natur macht uns vor, wie Umwandlungsprozesse sich vollziehen, denen in gewisser Weise auch Analogien im Seelenleben entsprechen. Es ist herrlich, diese jährlichen Rhythmen bewusst, das heißt tätig mitzuvollziehen und sich vom Metaphernreichtum der Natur durchwirken zu lassen und zu spüren, wie diese sich verdichten und reifen. So empfinde ich mich als Zeugin eines spannenden Geschehens.

Die Einheit des Menschen mit der beseelten Natur zu begreifen eröffnet eine ökologische Perspektive. In ihren Naturgedichten geht Annette von Droste-Hülshoff ganz selbstverständlich von einer Gesamtatmosphäre aus, in der die Natur und das menschliche Seelenleben lyrisch verbunden schwingen. Sie schöpft aus dieser Sphäre, nimmt die beschriebenen Ökosysteme von Innen heraus wahr. Im Gedicht „Instinkt“ reflektiert sie zeitgenössische Erörterungen zu diesem Thema. Ihr kommt die Herangehensweise, dem Instinkt rein rational materialistisch und von Außen auf die Schliche kommen zu wollen, befremdlich vor. Instinkt definiert sie folgendermaßen:

„Was ist Instinkt? — tiefsten Gefühles Heerd;“

Mitunter finde ich es unfassbar, wie es passieren konnte, diesen berstenden Überfluss, den die Natur uns in allem schenkt, in eine derartige Verknappung, Rationalisierung und Ödnis zu überführen. Die Politisierung unserer Zeit geht ins Aberwitzige. Eine warme Stube oder ein anheimelnd erleuchtetes Fenster in der Dunkelheit könnte unter bestimmten absurd kategorisch bestimmten Vorgaben zur Verfehlung oder gar zum Strafbestand erklärt werden.

Tatsächlich werden von der herrschenden Ideologie die eigentlichen Energie- und Ressourcenschlucker bewusst nicht angetastet und in einem Unschärfebereich belassen. Hierzu zählt sicherlich neben der technischen Datensammel- und Kontrollsucht die Überführung der Natur einschließlich des Menschen in etwas göttergleiches Unsterbliches, eine Homunculusgeburt, die nicht mehr lebenstauglich sein wird, wenn alle Naturressourcen hineingeflossen sind, eine Todgeburt, welche die Mutter Natur gleich mit auf dem Gewissen hat. Wer komplett auf diese Wahnidee setzt, hat vermutlichAngst vor dem natürlichen Tod und wird an der eigenen Hybris zerbersten.

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In ihrem Buch „Alle Menschen sind sterblich“ schildert Simone de Beauvoir den Geliebten der Protagonistin. Dieser wurde 1279 geboren und später Fürst einer italienischen Stadt. Von einem Bettler bekommt er ein Elixier, mit dem er das ewige Leben erwerben kann. Zunächst berauscht vom Gedanken der Weltbeherrschung erkennt er nach Jahrhunderten die Absurdität dieses Vorhabens. Er wünscht schließlich seinen Tod.

So ist der Herbst selbst eine Warnung im Jahreskreislauf. Der Todesbote, der wieder weicht. Eine Trockenübung. Das schwingt in gewisser Weise mit dem Erscheinen der antizyklisch blühenden Herbstzeitlosen mit.

Diesen eigentümlich poetischen Namen hat Carl von Linné ihr gegeben. Sie symbolisiert ein Element Persephones. Die Darstellung der vier Jahreszeiten bekommt hinsichtlich der mythologischen Betrachtungsweise einen allegorischen Charakter. In den Eleusinischen Mysterien geht es in höherem Sinn um die Unsterblichkeit der Seele.


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Fotos: Ulrike Kirchhoff


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