Tag und Nacht, Wärme und Kälte, zeitliche Verfügbarkeit von Nahrung, die uns in wechselnden Zeiträumen in unterschiedlichem Maße zur Verfügung stehende Energie; all das wirkt sich auf unsere Aktivitäten aus. Doch innerhalb dieses großen, universellen Taktes menschlichen Lebens können wir höchst mannigfaltige Varianzen ausmachen. Dazu bedarf es Achtsamkeit (Herz) und Reflexion und wenn uns das gelingt, können wir viel besser verstehen — uns und andere.
Kennen Sie diese Sprüche (noch)?
"Hast Du es immer noch nicht begriffen!?"
"Wie oft soll ich Dir das noch sagen?!"
"Warum hörst Du nicht richtig zu!?!"
"Bist Du so schwer von Begriff?!"
Oder auch:
"Bleib endlich RUHIG sitzen!"
Die einfachste Variante der Erinnerung kann unter Umständen eine Selbstbestätigung enthalten; nämlich beispielsweise die, wie schwer von Begriff doch die Kinder waren - oder bestimmte Kollegen es heute sind. Es ist der natürliche Rückgriff auf das eigene Koordinatensystem - und zwar auf das der Zeit. Unser eigenes Maß von Schwingungen der Zeit ist der Maßstab und wir legen ihn bei anderen an und bewerten diese an Hand dieses, unseres ganz eigenen Maßstabs. Das ist typischer, dem Menschen innewohnender Egotismus.
Bei Anwendung unseres Koordinatensystems der Zeit machen wir uns in der Regel keine Gedanken, woher wir das eigentlich bezogen haben; ob dessen Takt tatsächlich aus unserem Selbst kommt oder fremdbestimmt und damit faktisch erlernt wurde.
Wie wir Abfolgen in der Zeit unterschiedlich wahrnehmen - und das ist natürlich nicht auf menschliches Handeln beschränkt - werde ich im Folgenden an diversen Beispielen veranschaulichen. Diese habe ich dem Buch "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny entnommen. Die Biografie des (authentischen) Heldens John Franklin ist spannend, soll hier jedoch nicht thematisiert werden. Aber sein Wesen hat Nadolny auf ganz wunderbare Weise lebendig gemacht.
Das erste Zitat zeigt die Gedanken Johns im Vorfeld einer Reise vom Dorf in die Stadt Horncastle, gelegen in Mittelengland an der Schwelle zum 19. Jahrhundert:
"Das war das Erstaunliche: In dichter Nähe funkelte und hüpfte es, Zaunpfähle, Blumen, Zweige. Weiter hinten gab es Kühe, Strohdächer und Waldhügel, da hatte das Erscheinen und Verschwinden schon einen feierlichen und beruhigenden Rhythmus. Die fernsten Berge aber waren wie er selbst, sie standen einfach da und schauten" (1).
Wahrnehmung und Fühlen, Disharmonie und Harmonie, die Gefühle des damals zehnjährigen John lassen sich schon aus diesen wenigen Worten herauslesen. Die Welt in anderen Schwingungen zu beobachten, ist Gabe und Schwäche zugleich. Auf der einen Seite erschließen sich uns neue Sichten und wir nehmen Veränderungen in Dimensionen wahr, die anderen verschlossen bleiben.
Gehen wir aus unserer angeborenen oder auch antrainierten Schwingung heraus, dann geraten wir in Dissonanz. Wie sich das anfühlt? Der kleine John vermittelt es uns an einem recht banalen Beispiel. Hühner brachten seine Wahrnehmung, seine Suche nach Ordnung, der nach dem unterbewussten Bestreben, Informationen in Form einer Geschichte strukturiert und mit entsprechenden Merkern versehen wieder abrufbar im Kopf abzulegen (Stichwort Narrativ), arg in Schwierigkeiten:
"[...] Hühner waren nicht angenehm. Sie suchten dem Auge auf plumpe Art Streiche zu spielen. Regungslos standen sie da, kratzten dann, pickten, erstarrten wieder, als hätten sie nie gepickt, täuschten frech vor, sie stünden seit Minuten unverändert. Schaute er aufs Huhn, dann zur Turmuhr, dann wieder aufs Huhn, so stand es starr und warnend wie vordem, hatte aber inzwischen gepickt, gekratzt, mit dem Kopf geruckt, den Hals gewandt, die Augen glotzten anderwärts, alles Täuschung!" (2).
Wir tauchen in eine Welt ein, die anders tickt und werden uns bewusst, dass, wenn unser Takt langsamer ist, wir nicht in der Lage sind, alle Informationen aufzunehmen.
Stellen Sie sich nun vor, Ihr Verhalten, Ihr Denk- und Handlungsrhythmus, der, den Sie auch für den "ganz normalen" Rhythmus halten, wird nun von einem Menschen wahrgenommen, der langsamer tickt. Was wird passieren?
Dabei meine ich:
Es gibt ihn gar nicht, DEN ganz normalen Rhythmus, der, den man als Norm und damit als allgemein gültigen Maßstab definieren könnte, um daraus Richtlinien abzuleiten, die eine objektive Bewertung menschlichen Verhaltens erlauben würden.
Es ist nur so, dass wir diese Perspektive in der Regel überhaupt nicht in Betracht ziehen, wenn wir mit Verhaltensweisen in Berührung kommen, die uns, weil ungewohnt anders und daher als "unnormal" empfunden, in Dissonanz bringen. Dabei haben wir einen Sensor für so etwas - und das ist unser Herz. Das, wenn wir uns ihm gegenüber öffnen und auf seine Botschaften hören, es uns erlaubt, die Botschaften anderer Menschen zu verstehen. Und eine davon heißt eben:
Habe Geduld, ich vermag es nicht, dir so schnell zu folgen. Aber ich belohne Dich mit einer Welt, die du bisher noch nicht kanntest. Denn ich bin befähigt, dir von Dingen zu erzählen, die du nicht sehen kannst. Wenn du mit mir Geduld hast, gibst du mir außerdem von deiner Welt. Denn ich wiederum kann Dinge nicht sehen, von denen du mir berichten kannst.
Geduld - aus dieser Sicht betrachtet - ist eine Tugend besonderer Art. Es ist eine Tugend, die Ungeduld unseres Egos mit der Empathie unseres Herzens zu besänftigen und uns dabei zu belohnen. Weil wir uns doch auf diese Weise bereichernden Zugang zur Welt unseres, im ersten Eindruck nicht zu verstehenden, Gegenüber verschafft haben.
Diese "Eigenart", Dinge und Bewegungen in einem anderen Pulsschlag wahrzunehmen, ist also keinesfalls ein Defekt oder abnormal, gar eine Krankheit. Es kommt eben darauf an, wie weit man sich aus der Festung des eigenen Egos wagt. Wenn Herauswagen gelingt, könnte es zur neidlosen Anerkennung eines Talents beitragen, dessen Fähigkeiten uns sonst möglicherweise für immer verschlossen bleiben. Wir betrachten also einen Aspekt von Einzigartigkeit.
Vergnügen wir uns - zumindest für mich ist es ein Vergnügen - an der Art und Weise von Betrachtung, wie sie dem Helden John innewohnt:
"Er [John] konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der Buchstaben. Sie waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte sie. Die Grabsteine stellten sich tagsüber auf, der eine steiler, der andere schräger, um für ihre Toten etwas Sonne aufzufangen. Nachts legten sie sich flach und sammelten in den Vertiefungen ihrer Inschriften mit großer Geduld den Tau. Grabsteine konnten auch sehen. Sie nahmen Bewegungen wahr, die für menschliche Aufgaben zu allmählich waren: den Tanz der Wolken bei Windstille, das Herumschwenken des Turmschattens von West nach Ost, die Kopfbewegungen der Blumen nach der Sonne hin, sogar den Graswuchs" (3).
Das Leben des John Franklin ist - historisch belegt - bis zu seinem Ende dramatisch verlaufen. Dramen erzeugen Traumata, weil sie Harmonie verletzen, schmerzhafte und mehr oder weniger schlecht heilende seelische Verletzungen erzeugen. In jener Zeit, in der wir mit unserer Seele wachsen, in der wir am formbarsten sind, haben Traumata auch die größte und nachhaltigste Wirkung. Ja, sie programmieren geradezu unsere Persönlichkeit. Das ist die Zeit, in der wir auch am schwächsten und im wahrsten Sinne des Wortes voller Unschuld sind. Es ist die Zeit unserer Kindheit.
Gerne würde ich wissen, wieviele "Experten" John heute eine ausgeprägte Lernschwäche attestieren würden. Wie würde John wohl in unser heutiges Schulsystem passen? So er doch "nicht normal" ist.
Die Glattgelutschten, die mit Zwang in das System gepressten, die Konditionierten, Jene denen man ihre Einzigartigkeit austrieb, damit sie im gesellschaftlich durch Macht vordefinierten Regelwerk fehlerfrei funktionieren. Die sind also dann normal?
Vielleicht ist ja gerade das Normale, die Norm, der per Dekret verabreichte Standard das Unnormale?
Es wird kaum überraschen, dass der kleine John auch nicht in das puritanische, doktrinäre Schulsystem im Englands des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts passte; dies mit dramatischen, traumatischen Folgen. Eine dieser Folgen bestand für den Jungen darin, seine Eigenart der Einzigartigkeit als Schuld zu begreifen. Dazu gehörte der aufgezwungene Lernprozess aus dieser vermeintlichen Schuld. Was sich in Johns Kopf so abspielte:
"Er [John] liebte die Ruhe, aber mann musste auch das Eilige tun können. Wenn er nicht mitkam, lief alles gegen ihn. Er musste also aufholen. [...] Er musste jetzt Schnelligkeit studieren wie andere Menschen die Bibel oder die Spuren des Wildes. Eines Tages würde er schneller sein als alle, die ihm jetzt noch überlegen waren. Ich möchte richtig rasen können, dachte er, ich möchte sein wie die Sonne, die zieht nur scheinbar langsam über den Himmel! Ihre Strahlen sind schnell wie ein Blick des Auges, sie erreichen frühmorgens auf einen Schlag die fernsten Berge. ''Schnell wie die Sonne!'' sagte er laut und ließ sich in die Kissen zurückfallen" (4).
Schuld gebiert Zwang, was sich in Johns Denken insofern ausdrückte, dass er Dinge (gegen seine Natur) tun MUSSTE. Um gegen seinen Willen zu handeln, muss man diesen betrügen, man tut so, als ob man es wollte. Das ist das, was man Kindern antun kann. Sie mit Schuld beladen, um an ihnen ein Gefühl von Macht auszuleben.
So vererben sich Traumata. Zumal, wenn sich die Sehnsucht, einer sozialen Gemeinschaft anzugehören auf eine Gruppe legt, in der Kinder trainiert werden, selbst empathielos Macht auszuüben. In der Kindern auf diese Weise ihre Unschuld genommen wird. Kleine Menschen, die sich in das System nicht einordnen wollen oder es auch gar nicht können, weil ihre Einzigartigkeit eben auch ein Fehlen allgemein geforderter Fähigkeiten einschließt. So bekam John Druck aus dem autoritären Elternhaus, dem Bildungssystem und von den Gruppenmitgliedern, denen er sich auf selbstverständliche Weise zugehörig fühlte.
Wie fühlt ein Kind in solchen Situationen? Wie handelt es?
"Nichts konnte John elend machen, seine Hoffnung war die eines Riesen. [...] Meistens wusste er sich [...] zu helfen. Er hatte an die hundert Redewendungen auswendig gelernt, sie lagen bereit und nützten sehr, denn ihre Geläufigkeit gab manchem Zuhörer den Mut, noch ein wenig zu warten, bis John zum Kern seiner Antwort kam. ''Wenn du so willst'', ''zuviel der Ehre'' oder ''das ergibt sich aus der Sache selbst'', ''vielen Dank für die Bemühung'' - das ließ sich schnell hersagen" (5).
Schaffte John das nicht, drohte das "Korrektorat".
"Es gab zwei [Tage der Korrektur], den Stocktag und den Rutentag. Konnte eine Pflanze in Freiheit wachsen, dass ein Rohrstock daraus wurde? Seltsam war auch, dass es so viele Bezeichnungen gab, wenn es ums Bestrafen ging. Der Kopf hieß Rübe oder Poetenkasten, der Hintern Register, die Ohren Löffel, die Hände Tatzen und die zu Bestrafenden Malefaktoren. [...] Die Strafe selbst ignorierte er. Den Mund geschlossen, den Blick auf die ferne Welt gerichtet, so überstand man alle Tage der Korrektur. Schmählich war, dass die Moderatoren den Delinquenten festhielten, als wolle er fortlaufen" (7).
Was in der Schule, mit all seiner Entwürdigung, öffentlich zelebriert wurde, setzte sich im Elternhaus fort. Wenn Sie sich fragen, wie das "ruhmreiche Empire" so "ruhmreich" sein Kolonialreich zusammenrauben konnte, dann finden Sie eine Antwort mit Sicherheit in dieser Jahrhunderte alten Sozialisierung der Menschen schon im Kindesalter.
Macht bestimmte was gut war und bestrafte entsprechend nach Gutdünken.
"Strafen gab es auch außer der Reihe. Zu spät beim Gebet, zum Baum nicht abgemeldet [der Lieblingsspielplatz des kleinen John], beim Würfeln erwischt: da kam es ad hoc! Im Siegel der Schule stand: ''Qui parcit virgam, odit filium'' - ''Wer die Rute spart, hasst das Kind'." (8).
Das tagtäglich vorgelebte und trainierte Sozialverhalten schlug schnell auf die Kinder durch:
"Die Schüler waren mit allem rasch fertig und merkten sofort, wenn einer nachklappte. Namen nannten sie stets nur einmal. Fragte er nach, dann buchstabierten sie. Beim schnellen Buchstabieren kam er schlechter mit als beim langsamen Sprechen. Die Ungeduld der anderen aushalten, [...], die wetzten an John ihre Schnäbel, wo es ging" (9).
Die Geschichte des John Franklin ist insofern auffällig, dass er durch die Zufälle des Lebens später in hohe Positionen der britischen Kriegsmarine gelangte, in denen er sein überragendes Auffassungsvermögen, sein analytisches Denken ausspielen konnte. Er war schon als Kind seinen gleichaltrigen Gefährten diesbezüglich voraus. Nur war kaum ein Mensch, gefangen im eigenen Ego, das zu erkennen in der Lage. Sie verstanden nicht, dass es zuvor galt, die Langsamkeit seines Wesens als integralen Bestandteil seiner Gaben zu begreifen.
In auf Macht und Herrschaft basierenden Systemen ist jedoch das Verstehen, das empathische Hineinversetzen in andere Menschen zu einem Mauerblümchendasein verdammt. Zu hoffen, dass dies durch einen Umsturz oder die Reparatur eines komplexen Systems änderbar ist, halte ich für ausgesprochen ambitioniert. Die Änderung durch Selbsterkenntnis und Freilegen verschütteter empathischer Fähigkeiten in uns selbst finde ich da schon vielversprechender.
Suchen Sie in Ihren Kindern nicht nach den Schwächen, denn die werden an Normen festgemacht, die oft auch nicht einmal Ihre eigenen Normen sind, sondern Ihnen antrainiert wurden und die nun verdammt fest in Ihrem Unterbewussten verankert sind. Seien Sie vielmehr wachen Blickes ob der Einzigartigkeit Ihrer Kinder und geben Sie ihnen die Möglichkeit, diese ihre Einzigartigkeit zu leben. Begleiten Sie Ihre Kinder als Helfende, Stärkende, mit Gefühl Vorlebende auf dem Weg derer Einzigartigkeit, statt Sie zu erziehen, zu verziehen.
Wenn Ihr Kind mal wieder nicht schnell genug begreift, kann es Ihnen vielleicht nützen, dass Sie sich die Mühe dieses Textes antaten — und Sie sich an ihn erinnern.
Nicht zuletzt, entdecken Sie auf diese Weise vielleicht etwas in Ihrem eigenen inneren Wesen, dass Ihnen hilft, sich selbst zu verstehen — und so Mut macht, sich selbst zu lieben.
Bleiben Sie in dem Sinne schön aufmerksam.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Die Entdeckung der Langsamkeit, Sten Nadolny; 1983; R.Piper & Co. Verlag, München; ISBN 3-492-10700-1; nachfolgend genannt: ELSN; S. 10
(2) ELSN; S. 11
(3) ELSN; S. 12
(4) ELSN; S. 16
(5) ELSN; S. 32
(6) ELSN; S. 31
(7, 8) ELSN; S. 33
(9) ELSN; S. 31
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