Halb Pferd, halb Mensch — so wird in der griechischen Mythologie Chiron dargestellt. Ein wildes Mischwesen, ein unsterblicher Halbbruder des Zeus. Er galt als der Gerechteste der Kentauren. Als Freund der Götter und Erzieher zahlreicher Helden verfügte er über besondere Kenntnisse in der Arzneikunde. Mancherorts als Begründer der Chirurgie bekannt, soll er es gewesen sein, der Asklepios, um dessen Stab sich die Schlange windet, zum Arzt ausgebildet hat. Doch als ein vergifteter Pfeil des Herakles ihn am Knie trifft, ist er machtlos. Er, der so viele heilte, muss selbst so unsägliche Qualen erdulden, dass er schließlich seiner Unsterblichkeit entsagt.
Wie der mythologische Chiron tragen auch wir Verletzungen in uns. Verwundbarkeit gehört zum Leben dazu. Niemand ist davor gefeit. Von Achilles bis Siegfried — selbst die größten Helden hatten ihre schwachen Stellen und wunden Punkte. So kann wohl niemand von sich behaupten, keine Verletzungen erfahren zu haben. Doch hier spüren wir nicht gerne hin. Es ist unangenehm, sich mit vergangenem Schmerz zu beschäftigen. Manchmal war die Verletzung so stark, dass wir sie nur noch abspalten konnten.
Eingeschlossen
Auf Griechisch bedeutet Wunde Trauma. Es handelt sich um ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die nicht bewältigt und verarbeitet werden konnte (1). Einem Tumor gleich hat sich die Erinnerung an das Ereignis verkapselt und wirkt aus dem Unbewussten heraus. Denn weg geht das Erlebte nicht. Nichts, was in energetischer Hinsicht einmal existiert hat, verschwindet einfach so wieder. Wenn wir es nicht anschauen, entwickelt es ein Eigenleben und wirkt unterschwellig weiter.
Wir merken es daran, wie wir auf bestimmte Trigger reagieren. Kommen wir bei einer bestimmten Situation ins Schwitzen? Steigt der Blutdruck, bekommen wir Schüttelfrost oder Atemnot? Fühlen wir uns gereizt, erschöpft, hilflos, niedergeschlagen? Leiden wir an Gedächtnisverlust, Sprach- oder Entscheidungsschwierigkeiten oder haben wir Konzentrationsprobleme? Diese Symptome können ein Hinweis darauf sein, dass etwas Verdrängtes an die Oberfläche kommt und gesehen werden will.
Doch meistens schauen wir weg.
Wir wollen verbergen, was uns unwohl fühlen lässt. Niemand soll wissen, wo wir empfindlich sind. Wir werden aggressiv, wo wir Angst haben, üben Druck aus, wo wir uns ohnmächtig fühlen, lächeln, wenn uns zum Heulen ist, und verstecken unsere Verletzlichkeit hinter Höflichkeit, Betriebsamkeit, Konventionen, Coolness oder Hochmut.
Dicke Panzer legen wir uns zu, um nicht so zu erscheinen, wie wir uns wirklich fühlen.
Mündig und verantwortungsbewusst
Um nicht entlarvt zu werden, projizieren wir unsere eigene Schwäche und Verletzlichkeit auf andere und geben ihnen die Schuld für die eigene leidvolle Situation. Der Partner ist der Grund, weshalb es uns schlecht geht, der Chef, der Nachbar, die Kinder, die Politiker, die Rechten oder die Linken, die Klimaaktivisten oder die Klimaleugner, die Kriegstreiber oder die Pazifisten, die Geimpften oder die Ungeimpften.
So ist die Beschäftigung mit den eigenen Verletzungen alles andere als ein Zeitvertreib für solche, die nichts Besseres zu tun haben, als sich um den eigenen Bauchnabel zu drehen. Sie ist die Voraussetzung dafür, als erwachsene und verantwortungsbewusste Menschen in friedlicher Gemeinschaft zusammenzuleben. Nur wer sich an seine verdrängten und unterdrückten Gefühle heranwagt, befreit sich von dem Zwang kompensatorischen Handelns und Konsumierens, ist dazu in der Lage, bewusste Entscheidungen zu treffen und wird letztlich demokratiefähig (2).
Ob wir mündige Bürger werden, die sich nicht mittels Nudging, Angsterzeugung und Empörungsmanagement manipulieren und in Abhängigkeit und Krieg treiben lassen, hängt von unserer Bereitschaft ab, uns mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen und unseren Verletzungen nachzuspüren.
Wer es wagt, den Dingen auf den Grund zu gehen, der erkennt, dass sich der Schlüssel zu seiner Kraft eben dort verbirgt, wo er am empfindlichsten ist.
Die Macht der Verletzlichkeit
In unserer Gesellschaft ist Verletzlichkeit vorwiegend negativ konnotiert. Wer in der Wikipedia nachschlägt, der Seite, die sich meistens öffnet, wenn wir einen Suchbegriff eingeben, findet unter dem Begriff Vulnerabilität Schlagworte wie Mangel, ungedeckte Bedürfnisse, Unsicherheit, Schutzlosigkeit, Anfälligkeit für psychische Störungen und Erkrankungen, unterdurchschnittlicher IQ und Sicherheitslücken. Es wird auch auf die COVID-19-Pandemie verwiesen, während der Einschränkungen in den Grundrechten damit begründet wurden, besonders vulnerable Personengruppen vor einer Infektion zu schützen.
Die aktuellen Enthüllungen zu der Coronazeit und die Tatsache, dass vor allem die, die man zu schützen vorgab, den Maßnahmen zum Opfer fielen, laden zum Nachdenken ein. Wo Verletzlichkeit als Waffe benutzt wird, dort stimmt etwas nicht. Dort, wo sie verborgen und ignoriert wird, ebenfalls nicht. So ist ein neuer Umgang gefragt mit dem, was wir in uns zu schützen versuchen.
Die amerikanische Sozialarbeiterin und Autorin Brené Brown war eine der Ersten, die das Thema Verletzlichkeit an eine breitere Öffentlichkeit brachte. Ihr TEDx Talk aus dem Jahre 2010 mit dem Titel „The Power of Vulnerability“ ist einer der fünf meist gesehenen TED Talks überhaupt. Brown dreht gewissermaßen den Spieß um. Für sie ist Verletzlichkeit nicht etwas, das man fliehen sollte, sondern der Schlüssel zu allem, von dem wir mehr wollen: Freude, Intimität, Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen (3).
In Deckung
Aus Angst, jemand könne unsere Ängste und Träume sozusagen als Munition gegen uns verwenden, sind viele von uns nicht bereit, ihre Rüstung abzulegen und zu zeigen, wer sie wirklich sind. Auch ich war Spezialistin darin, möglichst stark zu erscheinen. Niemand sollte meine Tränen sehen, meine Schwäche, meine Unsicherheit, meine Angst. Ich erzählte oft erst hinterher, wenn es mir schlecht ging. Die Krise machte ich mit mir alleine ab. Erst wenn „alles wieder gut“ war, wagte ich mich aus meiner Deckung heraus.
Meine wirklichen Gefühle hatte ich in meiner Kindheit gelernt zu zügeln. „Sei nicht so empfindlich.“ „Übertreib nicht.“ „Da täuschst du dich.“ Früh lernte ich, meinen eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen zu misstrauen. Es gehörte sich nicht, Wut zu empfinden. Ohnmacht, Verzweiflung und Angst wurden zurückgewiesen. „Macht euch keine Sorgen“, war meine erste Reaktion, als ich im Jahr 2012 eine Krebsdiagnose erhielt. „Ich komme schon zurecht.“
Selbst in einer lebensbedrohlichen Situation wollte ich keine Schwäche zeigen. Einen Tag nach meiner ersten Chemotherapie schob ich den Staubsauger durchs Haus. Für meine Mutter war ich die, die immer allein zurechtkommt, für meinen Mann eine Sonne, eine Löwin, die ihm in seinen schweren Zeiten beistand. Es schmeichelte mir, bei Freunden als eine Art Stehaufmännchen zu gelten, eine, die im Sturm stehenbleibt und auf die man sich verlassen kann. Wie so viele andere Menschen bildete auch ich mir ein, nur dann respektiert, geachtet und geliebt zu werden, wenn ich auf eine gewisse Weise funktioniere.
Echt werden
Doch wirkliche Begegnung ist nur möglich, wenn wir aus unserer Deckung heraustreten und uns ungeschminkt zeigen, unmaskiert, echt. Wir überwinden die Angst, zurückgewiesen zu werden, und geben uns die Chance eines echten Kennenlernens.
Indem wir uns einander in unserer Verletzlichkeit anvertrauen, kann ein Heilprozess in Gang gesetzt werden, von dem alle etwas haben. Wir erfahren und spüren, wie wir einander in unseren Gefühlen und Bedürfnissen ähneln. Individuell verschieden und einzigartig sind wir in unserer Menschlichkeit tief miteinander verbunden.
So kann eine neue Brüderlichkeit, eine neue Schwesterlichkeit, eine neue Familie, eine neue Gemeinschaft entstehen, die die Basis für ein neues Zusammenleben bildet, das auf Verständnis und Kooperation beruht. Wegweisend sind nicht die, die mit stolzer Brust vorangehen oder von großen Bühnen herab die Massen für ein paar Stunden begeistern, bevor jeder wieder allein vor den Problemen seines Alltags steht, sondern die, die den Mut haben, sich verletzlich und echt zu zeigen.
Gegenüber von Technologie und KI können wir nur weiterbestehen, wenn wir uns auf unsere Menschlichkeit besinnen und auf die Verletzlichkeit, die damit einhergeht. Hören wir auf damit, uns gegenseitig unsere Erfolge zu präsentieren. Lassen wir es sein, in den sozialen Netzwerken so zu tun, als sei unser Leben eine Hochglanzgeschichte. Setzen wir die Masken ab, die die Coronazeit sichtbar gemacht hat. Deutlich hat dieses dunkle Kapitel in unserer Geschichte offenbart, wie viele von uns nicht die Reife haben, sich in ihrer Ganzheit zu zeigen, so, wie sie wirklich sind. Denn wer so schnell bereit ist, sein Gesicht zu verbergen, der trug vorher schon eine Maske.
Gefährten
Gehen wir nicht an der Gelegenheit vorbei, aus unserer Verwundbarkeit, unserer Verletzlichkeit, unserer Empfindlichkeit heraus unsere Echtheit zutage zu bringen und damit unsere wahren Stärken. Werden wir zu echten Gefährten. Nicht als Besserwisser begegnen wir einander, als Maulhelden und Sprücheklopfer, als Aufschneider und Schulmeister, die einander gute Ratschläge geben, sondern als wirkliche Freunde, die einander auch in der Dunkelheit begegnen.
Der mythologische Chiron, der Archetyp des verwundeten Heilers, lehrt uns nicht nur, mit unseren Wunden zu leben und Heilung zu finden. Er führt uns zu Selbstentdeckung und spiritueller Reife. Indem er unsere tiefsten Wunden offenbart, gibt er uns gleichzeitig die Möglichkeit, sie zu heilen. Dank der Erkenntnis, wie fein und subtil unsere Verletzungen mit unseren Stärken verwoben sind, führt er uns zu einer tieferen Verbindung mit unserer wahren Essenz.
Wirklich heilend ist nicht der Mut des unerschrockenen Kämpfers, der anderen mit seiner Stärke imponiert, sondern der Mut, sich ohne Rüstung zu zeigen, ohne Maske, ohne Theater. In dem Moment, in dem der Vorhang fällt, braucht es Menschen, die einander mit aufrichtiger Ehrlichkeit in die Augen sehen und sich im anderen erkennen. Dann kann es gut werden.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.deutsche-traumastiftung.de/de/trauma/
(2) https://transition-news.org/die-tiefere-ursache-von-konflikten-und-leid
(3) Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich stark werden, Goldmann 2017