Wir leben heute in Deutschland und weltweit seit mindestens fünf Jahren in einer Zeit der Krisen, begonnen mit der inszenierten Coronakrise, weiter mit dem Ukraine- und Gaza-Krieg, in die auch wir durch Waffenlieferungen und Kriegstreiberei verwickelt sind und wodurch eindeutig festgelegt wird, wer hier unser Feind sein soll und wer Freund. Inzwischen stehen wir mit dem Bundestagsbeschluss vom 18. März 2025 vor der nächsten gesteigerten Etappe der Hochrüstung mit Kriegskrediten. Diese Krisen und ihre Handhabung haben schwere individuelle und gesellschaftliche Folgen für uns — Repressionen, Aggressionen, Spaltung der Gesellschaft, Depressionen, Verarmung, existentielle Verunsicherung et cetera. Die weitere und aktive Beteiligung für einen Krieg ist nicht ausgeschlossen.
Große Teile der Bevölkerung sind verunsichert, mit der Regierung unzufrieden, wagen den Aufruhr oder retten sich zu noch rechteren Parteien, und dies wird mit weiteren Repressionen beantwortet. Krisenzeiten sind nicht nur Zeiten der Einschränkung der Freiheit, sondern Zeiten der großen Propaganda, der Manipulation, durch die uns mit einem erheblichen medialen und öffentlichen Aufwand Meinungen, Haltungen, Verhaltensweisen, Emotionen aufgedrängt werden sollen.
Die Frage nach Selbstbestimmtem und Auferlegtem stellt sich aber bereits in ganz gewöhnlichen Entwicklungslinien im Sozialisationsprozess – von der Geburt an oder gar schon im Mutterleib — eines jeden Menschen. Wie sieht das Verfremden und das Eigene in der gesamten Entwicklung des Individuums in sogenannten normalen Zeiten unter normalen Umständen aus?
I. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden als Wirkung der Sozialisation
Es geht mir um das innerseelische Eigene und Fremde, das Authentische in mir und das Fremde in mir, das Nicht-Authentische, Nicht-Autonome, das mir eingepflanzt wird, durch das ich mich anpasse, unterordne. Man kann hier an das Implantieren der Normen und Regeln denken, an das Über-Ich, die Internalisierung der Ge- und Verbote der Mächtigen, das stets als Zensor aktiv ist, oder auch an Donald Winnicotts „wahres und falsches Selbst“.
Durch den schrittweisen ständigen Einfluss in der Sozialisation nehmen wir Normen, Haltungen, Sichtweisen, kulturelle Zusammenhänge, aber auch Fähigkeiten und Bedürfnisse unseres Umfeldes in uns auf.
Über verschiedene erzieherische Mittel, über Gewohnheiten, bestimmte Strukturen, über Sprache und Bilder, über symbiotische Bindung und Identifikation wird in der Familie als dem Träger der Gesellschaft die Entstehung von Meinungen, Weltbildern, Lebensstilen quasi von selbst grundgelegt, „vererbt“. Das wird fortgesetzt im Erwerb von Grundhaltungen und Sekundärtugenden im Kindergarten, in der Schule und in erweiterten sozialen Beziehungen, was dann im Arbeitsprozess vertieft, vielleicht auch verändert wird. Wünsche und Bedürfnisse werden durch Konsumangebote stimuliert und produziert, alles wird über verschiedene Massenmedien, durch kulturelle Angebote und über Kommunikation und Wissenserwerb im Internet vertieft, in ständiger Wiederholung.
Diese Einflüsse bleiben als Einflüsse unbewusst und dringen tief in das Unbewusste ein. So konnte der Psychoanalytiker Jean Laplanche sagen: „Das Unbewusste des Kindes ist das Unbewusste des Erwachsenen.“ Die Botschaften werden ins Ich oder Selbst eingelagert und verwoben, mithilfe der Instanzen von Ich und Über-Ich, mithilfe der Abwehrmechanismen – unter anderem Identifikation, Introjektion, Imitation. Die Einflüsse werden verinnerlicht, tradiert und als soziales und kulturelles Erbe weitergegeben. Das Fremde wurde angeeignet, zu eigen gemacht, und kann so als das Eigene erlebt werden. Wir tun dann so, als folgten wir den eigenen Befehlen und Überlegungen.
Otto Gross (1877 bis 1920), der psychoanalytisch inspirierte „Paradies-Sucher“ und Monte-Verità-Bewohner um die Jahrhundertwende, hebt im innerseelischen Eigenen und Fremden einen Gegensatz oder gar einen Konflikt hervor, eine innere Zerrissenheit. Er konstatiert einen „artgemäßen Urinstinkt, der auf die Erhaltung der eigenen Individualität und die liebend-ethische Beziehung zur Individualität der anderen zugleich gerichtet ist: das Streben, sich selbst nicht vergewaltigen zu lassen und andere nicht zu vergewaltigen“ (Gross 1914).
Das „Schicksal“ solcher Menschen „ist der innere Konflikt des Eigenen und Fremden, die innere Zerrissenheit, das Leiden an sich selbst“. Dagegen aber werde bei den meisten, nämlich den autoritären Menschen, „die Suggestion von fremdem Willen, welche man Erziehung nennt, (wird) in das eigene Wollen aufgenommen. Und so bestehen die meisten geradezu allein aus fremdem Willen, (…) aus fremdem Sein, das ihnen völlig als die eigene Persönlichkeit erscheint“. Sie sind „einheitlich“ geworden, „sie haben sich das innere Zerrissensein erspart“ (1914, zitiert nach Bruder-Bezzel 2019, S. 169-190).
In dieser Radikalität ist Gross sicher einseitig und pessimistisch, und zugleich scheint er damit das interaktive soziale Wesen des Menschen zu leugnen, was ja auch Sigmund Freuds grundlegendem Widerspruch zwischen Individuum und — einer triebfeindlichen, hemmenden — Gesellschaft anhaftet (1).
Es stellt sich gleichwohl ernsthaft die Frage, was das Eigene bei Gross eigentlich ist, ob es das gibt? Denn es gibt kein Eigenes ohne das/oder vor dem Fremde(n), das Eigene hat sich aus dem Zusammenspiel mit dem „Fremden“ heraus entwickelt. Ist es nicht doch auch illusionistisch, von einer reinen Individualität oder — mit Winnicott — von einem „wahren Selbst“ auszugehen? Doch gibt es durchaus unterschiedliche Ausprägungen von „Zerrissenheit“ oder von Angepasstheit, Abhängigkeit, Unterordnung, „Außengeleitetsein“ (David Riesman) versus Individualisierung, Authentizität und Autonomie.
Dabei ist zugleich die Aufnahme des Fremden, die Aufnahme von gesellschaftlichen Regeln et cetera überlebensnotwendig; erst danach und auf diesem Boden kann eine — relative — Befreiung davon folgen.
So konnte der Psychologe Peter Brückner schreiben: „Anpassung geht der Autonomie voraus“ (Brückner 1966, S. 24). Aus den Bausteinen von Kenntnissen und Erfahrungen, aus der Fähigkeit zur Reflexion, dem Mut zum Ungehorsam und Zweifel, findet ein Individuum den eigenen Lebensstil und kann so ein Stück weit von der autoritären Abhängigkeit auf Distanz gehen oder sich gar befreien (vgl. Erich Fromm 1963, S. 11).
Der Sozialisationsprozess, die Integration von Einflüssen, zeigt den gesellschaftlichen Charakter der Psyche, formt das „menschliche Wesen“ als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, zu denen nicht zuletzt die Klassenverhältnisse gehören und die Stellung des jeweiligen Individuums darin. Dabei wirkt das Individuum interaktiv mit, antwortet, gestaltet, auch mithilfe von Abwehrmechanismen und Kompensation. Wahrnehmungen sind daher nicht Widerspiegelung der Realität, sondern kreative Erfindungen. Der Individualpsychologe Alfred Adler, Schüler und erster Dissident von Sigmund Freud, sprach von der „schöpferischen Kraft“.
Ganz ähnlich schrieb viel später der Marxist Alfred Kurella vom „Mensch als Schöpfer seiner selbst“ (1958). Er drückte diese Interaktion so aus: „Und dieses Ich beginnt doch schon sehr bald nach der Geburt von sich aus auf die Welt einzuwirken, verändert sie durch Tun, schafft eigenes Inneres aus sich heraus, gibt ihm die Form von beständigen Dingen und fixierten Gedanken.“ (Kurella 1968, S. 31) Mit dem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, was Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem, nicht Determiniertem hat. Das „Eigene“ hat sich daraus entwickelt, als Selbstfindung, Selbstproduktion. Infrage steht immer, wie das Mengenverhältnis zwischen Fremdem und Eigenem ist, denn das Ausmaß an Fremdbestimmtheit und das Ausmaß an Individualität der Fähigkeiten sind individuell und kulturell historisch unterschiedlich verteilt.
So lassen sehr starke Einwirkungen durch die Sozialisation, durch gesellschaftliche Zustände, den schöpferischen Anteil schmal werden, und dies besonders in Zeiten der gesellschaftlichen und individuellen Krisen.
Wie autonom, wie kreativ kann ein Individuum noch sein unter starken äußeren Einwirkungen?
Das reine, das „wahre“ Selbst ist eine Fiktion. Ernüchternd müssen wir einschränken mit Jean-Paul Sartres Diktum: „Ich habe mich zu dem gemacht, wozu ich gemacht wurde“, und zwar gemacht durch den Blick des Anderen, wie Sartre dies ausführlich beschreibt (Sein und Nichts 1943). Das hatte aber bereits Johann Wolfgang von Goethe schon gewusst, wie dies Kurella zitiert: „So wie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken (…). Und aller Wille ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten“ (zitiert nach Kurella 1968, S, 30).
Dieses Gemacht-Werden und entsprechend Sich-selbst-Machen spielt im Konstruktivismus — auch im konstruktivistischen Feminismus, wie zum Beispiel bei Simone de Beauvoir oder bei Judith Butler — eine große Rolle. Bei Simone de Beauvoir heißt es, man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht (1949), bei Judith Butler geht es um Gender, die soziale Geschlechtsrolle, die von Geburt an festgelegt wird und dann „freiwillig“ permanent eingeübt, inszeniert wird: im „Doing Gender“, und zwar diskursiv und performativ, wodurch die Geschlechtsrolle zur sozialen Realität wird (Butler 1991).
Hier ist Eigentätigkeit, das Schöpferische mit enthalten; aber doch ist es auch die Parodie oder Fiktion von Eigenmächtigkeit oder Selbstermächtigung, die heute, im Neoliberalismus, als Echtheit, Authentizität, als wahres Ich und Selbst, als Selbstverwirklichung geradezu beschworen als auch gefordert wird, ohne sie als Fiktion zu entlarven.
So kommt es dazu, dass in der neoliberalen Identität Fremdbestimmung, zum Beispiel im Arbeitsprozess, zur Selbstbestimmung umdefiniert, die Erfüllung von Fremdanforderungen als Eigenbedürfnis dargestellt und vom Subjekt selbst begriffen wird — dabei die Machtverhältnisse, die Unterwerfung verleugnet werden (vgl. Bruder-Bezzel et al. 2016).
Wir sind also gemacht durch die Zuschreibungen, die Betrachtung (Blick) der Anderen, in den sozialen Agenturen, und wir haben uns auch selbst gemacht durch die schöpferische Kraft. Wir sind, wie Alfred Adler das formuliert, Produkt und Produzent, Kunstwerk und Künstler zugleich, im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Determination.
II. Verwirrung der Identität durch Propaganda
Jenseits der frühen Sozialisation und der Erziehungsprozesse wird im gesellschaftlichen Raum die Persönlichkeit durch Werbung, Massenkommunikation und Propaganda geprägt und damit vollends die autonome und die auferlegte Identität verwirrt. Hier gelten zwar die gleichen Mechanismen und Techniken, aber sie sind nicht so subtil, sie sind offensichtlich, bewusst intendiert, auffälliger, und nicht an einzelne Individuen, sondern an Massen gerichtet.
In der Massenkommunikation und Propaganda (2) wird eine öffentliche Meinung hergestellt, die Bevölkerung soll überzeugt werden durch die Diskurse, durch Überredung und Gleichschaltung.
Unverblümt und ungeniert heißt es bereits bei Walter Lippmann, dem Pionier der modernen Massenkommunikation: Die Elite benutzt ihre Macht, „um die Öffentlichkeit (…) die Dinge so sehen zu lassen, wie sie es wünschten“ (Lippmann 1922, S. 84). Oder ähnlich heißt es beim französischen Propagandaforscher Jacques Ellul: „Da die Regierung der (öffentlichen) Meinung nicht folgen kann, muss die Meinung der Regierung folgen (…). Die (…) Masse muss überzeugt werden“ (Ellul 1962, S. 169). Es soll also die Sichtweise in Richtung der Zustimmung zur herrschenden Elite verändert oder hergestellt werden, es sollen Bedürfnisse und Wünsche nach bestimmten Angeboten des Konsums gelenkt oder erweckt werden. Denn Macht bedarf immer noch der Zustimmung, der mentalen Bereitschaft.
Für diese manipulative Einflussnahme gilt, dass ihr Charakter als Propaganda unbewusst oder ungewusst wirken muss. Propaganda „ist ein im Geheimen, im Verborgenen, im Hintergrund stattfindender Vorgang“. Man darf nicht wissen, dass es Propaganda oder gar Lüge ist, sonst kämen wir uns betrogen vor und als Objekt von Manipulationen. Das widerspricht unserem Selbstbewusstsein, so Ellul (1962, S. 8). Und so wird die Aufdeckung, dass es doch Propaganda oder Lüge sei, abgewehrt, und damit der Verdacht, reingefallen zu sein. Schreiendes Beispiel für diese Abwehr ist der mehrheitliche Umgang mit den Enthüllungen über den Pandemie-Betrug.
Und zudem müssen manipulative Botschaften auch unbewusste Bedürfnisse, Wünsche und Motive bedienen, die auch verleugnet werden, und dies mit dem propagierten Gegenstand verknüpfen. Das ist uns vor allem präsent in der Werbung für Produkte, in der mit dem Produkt Emotionales verbunden wird (zum Beispiel Liebe beim Autokauf). Und auch hier gilt, dass diese Propaganda im Einzelnen nur wirken kann, wenn sie auf passende Bedürfnisse, Wahrnehmungsmuster, Emotionen und eine bestimmte Angepasstheit trifft — und genau das ist auch wiederum manipulativ, zumindest bis zu einem gewissen Grad, herstellbar.
In Zeiten von gesellschaftlichen Krisen wie auch in Zeiten von Kriegen spielt Propaganda eine herausragende Rolle, da sie verstärkter eingesetzt wird als in ruhigen, guten Zeiten.
Und da in Krisenzeiten auch jeder Einzelne sich stärker bedroht, desorientiert und hilflos fühlt, wirken diese Beeinflussungen in diesen Zeiten auch stärker. Not und Angst machen uns anfälliger für den Einfluss von außen, der Mächtigen; wir können uns weniger gut verteidigen. Die Werte der Freiheit werden in diesen Zeiten leicht über Bord geworfen, die Repression steigt an, die Freiräume sind meist enger, das Einwirken von außen bedrängender und emotionalisierter. Dies haben wir massiv in den letzten fünf Jahren in der Coronazeit und bis heute als Begleitung des Ukraine- und Gaza-Krieges erlebt. Das dauert an und wird sich unter neuen politischen Verhältnissen massiv zuspitzen.
Für diese Propaganda im öffentlichen Raum wird eine unüberschaubare Fülle von Techniken der Beeinflussung eingesetzt, die herausragend sind: Wiederholung, Monopolisierung und Emotionalisierung. Notfalls oder zusätzlich aber gibt es immer auch handfeste Vorschriften, Verbote und Gebote — und Repressionen.
Wiederholung heißt, es wird mit allen Medien in öffentlichen Nachrichten, Gesprächsrunden, Reden, Kommentaren immer wieder die gleiche Position vertreten, die gleichen Themen wiederholt. Monopolisierung heißt, es wird nur eine Information oder Meinung angeboten, verbunden mit einer vorgefertigten Sprachregelung. Andere Meinungen und Ergebnisse werden verschwiegen, ausgeschaltet, diskriminiert oder gar verboten. bis hin zu sanktioniert. Zum Einsatz von Emotionen gehört das Schüren von Angst vor einem Feind oder vor etwas anderem, die Aufstellung von Freund und Feind durch Ächtung und Verfolgung von Kritikern, bei gleichzeitigem Einschwören auf Gemeinschaft und Solidarität der Mehrheit — was die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft zur Folge hat.
Unter solchen massiven Einwirkungen ist es kaum mehr möglich, Eigenes zu bewahren, Individualität zu leben oder schöpferische Kraft zu entfalten. Es bleibt die Alternative: Flucht ins Autoritäre (Erich Fromm) oder Gegenwehr mithilfe alternativer Informationen und Bündnissen.
III. Psychologische Begründungen zum Verzicht auf Individualität
Um zu verstehen, warum wir auf solche Einflüsse eingehen und damit relativ bereitwillig und gehorsam auf unsere Individualität verzichten, gibt es verschiedene innerpsychische Begründungen und Bedingungen, die allesamt den Menschen als ein soziales Wesen erkennen lassen. Dabei ist der Verzicht auf den eigenen Willen unbewusst gehalten; die Unterwerfung, der Gehorsam wird dann (meist) nicht als Demütigung erlebt. Auch hier ist zu beachten, dass das Individuum in Zeiten individueller oder kollektiver Krisen anfälliger, geschwächt ist. Auch wirken sich hier die Unterschiede in den Persönlichkeitsstrukturen und Lebensstilen deutlich aus. Ich will vier Begründungen für Konformität und Gehorsam hervorheben:
1. Angst
Angst ist eine universelle, ständig auftauchende und eingesetzte Emotion, die an alle möglichen Inhalte gebunden werden kann: Angst vor Leben oder Tod, vor Katastrophen oder Krankheit, vor einem Feind, vor Schuld, Angst, verlassen zu werden, Angst vor Bestrafung. Angst kann mit anderen Emotionen verknüpft werden: mit Hass und Aggression, mit Ressentiments. Nicht selten, wie im Fall von Corona, wird das Schüren von Angst mit der Androhung von Strafe oder mit der Geste der Fürsorge verbunden.
Angst verengt das Denken, senkt das Selbstwertgefühl, macht hilflos und erzeugt ein Gefühl des Ausgeliefertseins. „Angst essen Seele auf“ heißt ein Film von Rainer Werner Fassbinder.
Das sind alles sehr gute Gründe, dem Druck nachzugeben, auf Selbstständigkeit und Autonomie zu verzichten. Daher wird Angst als Herrschaftsmittel ersten Ranges eingesetzt und mit verschiedenen Inhalten und anderen Emotionen verbunden.
2. Bedürfnis nach Gemeinschaft, „Trieb zum Anschluss“ und Angst vor Einsamkeit (Otto Gross)
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Konsens mit der Mehrheit, nach Gemeinschaft und Geborgenheit, und umgekehrt die Angst, herauszufallen, ausgegrenzt zu sein, halte ich für das zentrale Motiv für Gehorsam und Konformität, für den Verzicht auf die Durchsetzung eines eigenen Willens, einer eigenen Meinung. Dies wird auch von sehr vielen Autoren so gesehen. Zudem belegen auch eine ganze Reihe von sozialpsychologischen Experimenten diesen Zusammenhang — so unter anderem das Milgram-Experiment oder das Experiment von Asch.
Für Otto Gross — auch für Alfred Adler — ist das die entscheidende Begründung dafür, dass das Kind sich anpasst. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Liebe, nach sozialer Anerkennung ist dem sozialen Wesen Mensch inhärent. „Kein Mensch vermag bereits als Kind auf Liebe zu verzichten“, „die Angst vor Einsamkeit, der Trieb zum Anschluss zwingt das Kind, sich anzupassen“ (Gross 1914). Die „Erlösung von der Einsamkeit (…) wird an die Bedingung des Gehorsams, der Anpassung, des Verzichts auf eigenen Willen und eigene Art gebunden (…). Die Unfähigkeit des Kindesalters zum Widerstand gegen Suggestionen (…) wirkt als Prädisposition zum pathogenen inneren Konflikt, der aus der Unvereinbarkeit des wesensfremden mit dem eigenen hervor wächst.“ (Gross 1920, zitiert nach Bruder-Bezzel 2019, S.183).
Die Parallele zu Adler, mit dem sich Gross in diesen Aufsätzen (1914, 1920) positiv auseinandersetzt, ist deutlich: mit Adlers Postulaten des „Zärtlichkeitsbedürfnisses“ (1908) und des Gemeinschaftsgefühls, das im Zärtlichkeitsbedürfnis gründet. Dieses soziale Bedürfnis ist also eine ziemliche Falle, und wir wissen, dass es in Kriegs — und Krisenzeiten übel missbraucht wird (Appell zur Volksgemeinschaft, Solidarität). Diesen Begründungszusammenhang beschreibt auch Alexander Mitscherlich (1963) zur Psychologie des Mitläufers: „Der drohende Verlust des Gruppenkontaktes ist ein erschreckendes Erlebnis und löst panische Angst und jede erdenkliche Anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden (…). Die freiwillige Isolierung von der Gruppe (…) gehört offenbar zu den allerschwersten Kontrollleistungen des Ichs.“ (Mitscherlich 1963, S. 158f)
3. Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation
Mit dem Konzept der kompensatorischen Überwindung eines Minderwertigkeitsgefühls beschreibt Alfred Adler die Grundlinie der persönlichen Entwicklung. Diesem Konzept entspricht ziemlich genau das Narzissmus-Konzept, in dem Unterlegenheitsgefühle durch Omnipotenzgehabe und -anspruch überwunden werden.
Ausgangspunkt in Adlers Konzept sind soziale Ängste, soziale Unsicherheiten, häufig bei niederer sozialer Lage, sowie Unsicherheitsgefühle auf verschiedenen Ebenen. An diese Unsicherheit schließt sich der kompensatorische Versuch, diese zu überwinden. So wie das Minderwertigkeitsgefühl verschiedene Quellen hat, hat auch die Kompensation verschiedene Erscheinungsformen und Ausprägungen, was von der Fragestellung, von der Situation, von den gesellschaftlichen Verhältnissen und bereitstehenden Angeboten zur Kompensation und von den individuellen Vorerfahrungen abhängt. Positiv gedacht, wird dies als Antrieb zur Weiterentwicklung und Ausbildung eines eigenständigen Lebensstils betrachtet, ebenso wie das Streben nach Geltung, Anerkennung, Macht, Männlichkeit („Männlicher Protest“), oder, wie Otto Gross — Adler zustimmend — es ausdrückt, der „Zwang zur Umwandlung des Willens zur Erhaltung der Individualität in den Willen zur Macht“ (Gross 1914, zitiert nach Bruder-Bezzel 2019, S. 183).
Zur kompensatorischen Überwindung der Unsicherheit (Sicherungstendenz) gehört auch die Autoritätsgläubigkeit, ebenso wie das Mitlaufen aufgrund sozialer Bedürfnisse.
Eingeräumt werden muss, dass Kompensation doppelseitig ist, dass sie genauso häufig zum Widerspruch wie zu Unterwerfung führt. Und auch hier gilt, dass die Unterordnung als autonome Handlung, als Freiheit erlebt wird, bis hin zum freudigen Gehorchen.
Von den zahlreichen Fallbeispielen für Kompensation, die Adler analysiert, finde ich eines besonders beeindruckend und vor allem aktuell, nämlich die Übernahme fremder Parolen als das Eigene in der Kriegsbegeisterung, wie sie Adler 1919 in eindrücklicher Weise in „Die andere Seite“ geschildert hatte:
Er beschreibt, wie in kompensatorischer Identifikation mit der Autorität der Schein von Größe und Autonomie aufrechterhalten und mit der Hoffnung auf Teilhabe an der Macht verbunden wird. Die Parolen „des Generalstabs“ wurden schließlich so übernommen, als seien sie die eigenen und als seien sie Zeichen des Heldentums und des Gemeinschaftsgefühls (Liebe zur Nation). Nach jahrzehntelanger „Dressur eines weichen Volkes“, die es „zur Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen erzog“ (Adler 1919, S. 121), wurde das Volk im Krieg nun mit (…) „Lügennachrichten“ (S. 121) überzogen, es wurde Angst gemacht vor dem Feind, es wurde gehetzt gegen Spione (S. 121f). Dem „verletzten, geknebelten Volk“ (S. 127) blieb nur „die geheime passive Resistenz“ (S. 126). „Dieses Volk wurde mit allen Mitteln der List und Gewalt in Unmündigkeit gehalten.“
Dagegen haben die Kriegsfreiwilligen ihre Unterlegenheit kompensiert und wurden „Opfer einer falschen Scham“. „Sie machten aus der Not eine Tugend“ und griffen „nach dem Ruf, der von dem Generalstab ausging (…). Und mit einem Male war ihnen, als ob sie selbst den Ruf ausgestoßen hätten (…). Nun waren es nicht mehr gepeitschte Hunde (…), nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre (…). Im Rausche des wiedergefundenen Selbstgefühls (…), in dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung (…) wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein“ (S. 128f).
Auch Adlers Schüler Manès Sperber beschäftigt sich an verschiedenen Stellen damit, wie Minderwertigkeitsgefühle die autoritäre Position, die Unterwerfung befördern — so ausführlich in Sperbers Analyse des Nazi-Regimes (1937). Da die Unterlegenheitspositionen als unerträglich erlebt werden, müssen sie kompensatorisch, mit dem Willen zur Macht überwunden werden. Und so bringen autoritäre Beziehungen „Sklaven mit Usurpator-, mit Herrschaftsgelüsten“ hervor (Sperber 1934, S. 133). Daher die Faszination der Macht und der Glaube an das Versprechen, teilzuhaben an der Macht des Herrschers. Es ist „der Machtrausch des Entmutigten“ (1937, S. 58), der den Mythos Feind schafft, durch den der Hass gegen unten, gegen andere, gegen Fremde geschürt und legitimiert wird.
4. Furcht vor der Freiheit
Das Einwirken eines Fremden als Vorgabe, wie etwas zu denken oder zu behandeln sei, eine Anordnung für Verhalten, ein Befehl, wirkt zwar einschüchternd, einengend, aber gibt auch Halt, Orientierung, erspart die selbständige Suche, erspart das eigene Denken. Das hatte bereits Alexander Mitscherlich die „Ökonomie des Gehorchens“ genannt.
„Die Vorwegnahme der Bedrohung (…) führt zum Gewohnheitsgehorsam“, zum „Gehorsam als Haltung (…). Die Gewohnheit des Gehorsams dient der Ökonomie, sich Unlust zu ersparen“ (Mitscherlich 1963, S. 212).
Ganz ähnlich schätzt es auch Erich Fromm ein: „Solange man der Macht (…) gehorcht, fühlt man sich sicher und behütet (…). Mein Gehorsam gibt mir Anteil an der Macht, die ich verehre, daher fühle ich mich stark.“. Dagegen bedarf es Mut, „zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein“ (Fromm 1963, S. 14).
Der „Furcht vor der Freiheit“ hatte er ein ganzes Buch gewidmet (1947/1980):
Die Furcht vor der Freiheit, sich als Individuum zu sehen mit individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten, Angst vor dem Ausleben von Individualität und Non-Konformität, ist die Angst vor Unsicherheit, Hilflosigkeit und Einsamkeit.
Die Furcht vor der Freiheit, geleitet von dem sozialen Bedürfnis nach Anschluss und Anerkennung, fördert den Autoritarismus, die Konformität, und dazu werden zur Selbstlegitimierung die verschiedensten Abwehrmechanismen eingesetzt (Fromm 1947, S. 29ff).
IV. Beruhigender Schluss
Wir wissen, dass Propaganda wirkt, aber auch, dass sie nicht immer und nicht bei allen wirkt. Sie kann nur wirken, wenn sie auf passende Bedürfnisse und Emotionen, auf bestimmte Wahrnehmungsmuster und Bereitschaften zur Angepasstheit — die wiederum propagandistisch hergestellt sind — einwirkt. Theoretisch und empirisch hatte dies bereits der Adlerianisch geprägte Kommunikationsforscher Paul Lazarsfeld in den vierziger Jahren vertreten — und kam hierüber mit vielen Forschern in Amerika in Konflikt, unter anderem mit Theodor W. Adorno. Menschen sind für ihn nicht reine Spielbälle der Medien; die erlebte soziale Realität könne nicht einfach durch Propaganda überspielt werden, wenn dies im krassen Widerspruch steht oder gegen die eigenen Interessen gerichtet ist — dafür muss es allerdings durchschaut werden.
Und Lazarsfeld hebt auch die vermittelnde Rolle von Meinungsführern hervor, die Bedeutung der sozialen Beziehungen, von Freunden und Familie, die als Verstärker der Einflussnahme oder als Schutz gegen sie wirken können, so dass man doch den eigenen Weg, das Eigene noch bewahren kann, statt sich zu unterwerfen (vgl. Bussemer 2005, S. 249ff; vgl. Bruder-Bezzel 2021, S. 27f).
Daher könnte die utopische Parole doch irgendwann einmal wahr werden: Es ist Krieg und keiner geht hin.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Im Konzept der Sublimierung wird dieser Widerspruch allerdings durch das positive Wirken von Kultur besänftigt.
(2) Wegen des schlechten Images nennt man Propagandatätigkeit heute gern Public Relations (bereits seit Edward Bernays), oder im Militärbereich „Strategische Kommunikation“ oder Cognitive Warfare
Literatur:
Adler, Alfred (1919/2009). Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes. In: Gesellschaft und Kultur (1897-1937). Studienausgabe Bd. 7, Hg.
Almuth Bruder-Bezzel. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen, S. 120-130
Beauvoir, de Simone (1949/1968). Das andere Geschlecht. Reinbek: Rowohlt
Bruder-Bezzel, A., Bruder, KJ, Münch, K. (Hg.) (2016) Neoliberale Identitäten. Der Einfluss der Ökonomisierung auf die Psyche. Psychosozial Gießen
Bruder-Bezzel, Almuth (2019). Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen
Bruder-Bezzel, Almuth (2021). Einleitung. Propaganda und Macht. In: Bruder-Bezzel, Almuth/Bruder, Klaus-Jürgen (Hg.) (2021). Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Frankfurt: Westend, S. 14-42
Brückner, Peter (1966/1983). Pathologie des Gehorsams. In: ders.: Zerstörung des Gehorsams. Aufsätze zur politischen Psychologie. Wagenbach Berlin
Bussemer, Thymian (2005). Propaganda. Konzepte und Theorien. VS Verlag, Wiesbaden
Butler Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Suhrkamp
Ellul, Jacques (1962/2021). Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird. Westend, Frankfurt.
Fromm, Erich (1947/1980). Die Furcht vor der Freiheit. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
Fromm, Erich (1963/1985). Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem. In: ders.: Über den Ungehorsam DTV 1985, S. 9-17
Fromm, Erich (1965/1985). Die Anwendungen der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie. In: ders.: Über den Ungehorsam DTV 1985, S. 19-37
Kurella, Alfred (1968). Das Eigene und das Fremde. Neue Beiträge zum sozialistischen Humanismus. Aufbau, Berlin, Weimar
Lippmann, Walter (1922/2018). Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird Frankfurt Westend
Mitscherlich, Alexander (1963/1971). Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Pieper, München
Sperber, Manès (1934/1978). Individuum und Gemeinschaft Versuch einer sozialen Charakter Stuttgart Klett Cotta
Sperber, Manès (1937/2006). Zur Analyse der Tyrannis. Graz: Leykam