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Vertreibung ins Paradies

Vertreibung ins Paradies

Auch Deutsche waren Geflüchtete, und auch andere Zielländer kennen Fremdenfeindlichkeit. Das weltweite Phänomen Migration lässt sich nicht mit Hauruck-Rhetorik „bewältigen“.

Der Sündenfall führte zur ersten in unserem Kulturkreis dokumentierten Vertreibung. Eine Betrachtung darüber, warum das Naschen vom Baum der Erkenntnis von Gott nicht gewollt war und alle Obrigkeiten bis zum heutigen Tag ihren Untertanen nie zu viel Erkenntnis angedeihen lassen wollten, wäre sicher interessant, soll hier aber nicht erfolgen. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben und wussten erstmal nicht wohin. Mit nichts auf der Haut als einem Feigenblatt, ohne Papiere, ohne Handy und ohne Geld für Schleuser.

Um wieviel besser ging es da meiner Mutter und ihrer Familie bei der Vertreibung aus Oberschlesien. Zwar wussten auch die nicht, wo die Reise hingeht. Im Gegenteil: Der erste Treck, noch vor Kriegsende, führte sie nach Osten, also vermutlich direkt „dem Russen“ in die Klauen. Mehr als ein Jahr später hatte meine Großmutter so viele Socken gestrickt, dass sie den Betrag bezahlen konnte, um von den polnischen Besatzungsbehörden die für die Übersiedlung nötigen Papiere zu bekommen. Meine Mutter hatte es vergleichsweise gut. Sie wurde gefahren. Nicht im Pferdewagen — wie Maria Furtwängler als Gräfin von Mahlenberg im Fernseh-Zweiteiler von 2007 „Die Flucht“ bei der Vertreibung aus Ostpreußen.

Schlesische Weber hatten keine Pferdewagen. Ein Kinderwagen war das Transportmittel, auf dem sich gleich noch etwas Handgepäck unterbringen ließ. Mehr war nicht erlaubt. Für meine Mutter konnte immerhin eine Puppe gerettet werden. Ihren großen Geschwistern gestanden die polnischen Besatzer solchen „Luxus“ nicht zu.

Wie für Millionen anderer aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland Vertriebene war weder klar, wo die Reise hingeht, noch wann ihre Odyssee enden wird. Die vielleicht kürzeste Flucht gelang der Familie eines einstigen Kollegen von mir: nur vier Kilometer von Königswalde im Schluckenauer Zipfel Nordböhmens bis nach Neufriedersdorf in der angrenzenden Oberlausitz.

Aber ganz gleich, wie weit der Treck die Vertriebenen führte, ob von Ostpreußen ins heutige Schleswig-Holstein — wo die Vertriebenen später die Bevölkerungsmehrheit stellten —, ob aus dem Egerland in die Oberpfalz, ob von Gablonz in die Nähe von Kaufbeuren oder eben aus dem Schluckenauer Zipfel in die angrenzenden sächsischen Dörfer: Willkommen waren die Flüchtlinge nie. Häufig blieben sie also unter sich, so, wie nach der Wende Ostdeutsche im Westen häufig unter sich blieben. So, wie die Ostdeutschen im Westen nach 1989 zumeist als Habenichtse galten, die kamen, um gut leben zu wollen, galten die Heimatvertriebenen auch als Habenichtse. Dass sie kamen, weil sie gar keine Heimat mehr hatten, „gut leben“ zu wollen, dagegen überhaupt keine Rolle spielte, war denen, unter denen sie sich notgedrungen wiederfanden, völlig egal.

Den Heimatvertriebenen blieb die Integration auf mindestens eine Generation hinaus versagt. Sie waren fremd, sollten das bitte auch bleiben, denn oft genug gehörten sie auch noch der falschen Konfession an.

Glaubensfragen

… waren von jeher sowohl Grund für Flucht und Vertreibung als auch für schlechte Integration in die Mehrheitsbevölkerung. Der Ort, in dem ich wohne, 1580 vom Zittauer Rat gegründet und bis heute nicht mehr als ein Weiler, wuchs im Zuge der Gegenreformation, als böhmische Exulanten sich ihr neues Zuhause gleich hinter dem Grenzstein im — damals noch — toleranteren Sachsen suchten. Um 1670 legte in meiner Heimat Friedrich von Salza für böhmische Glaubensflüchtlinge das Städtchen Neusalza an, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf gab 1722 mährischen Exulanten mit dem inzwischen Welterbe-Städtchen Herrnhut eine neue Heimat. So kamen Protestanten zu Protestanten, und bis heute gab es keine Protestierenden gegen das in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene und seit 1234 ohne Unterbrechung betriebene (katholische) Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal. Nur den Einheimischen aus Schirgiswalde, bis 1848 zu Böhmen gehörend, sagt man — hinter vorgehaltener Hand natürlich — nach, dass sie anders wären, katholisch eben.

Wann die Exulanten nach dem Dreißigjährigen Krieg wirklich integriert waren, wissen wir nicht. Selbst mit den Schirgiswaldern gelingt uns inzwischen ein entspannter Umgang, obwohl sie erst seit gut 175 Jahren dazugehören. Leicht gemacht hat man es auch den Heimatvertriebenen nicht. In den heute zu Polen, Russland und der Tschechischen Republik gehörenden Gebieten lebten vor dem Krieg fast 15 Millionen Menschen. Etwa 10 Millionen waren nach Kriegsende innerhalb nur weniger Monate dazu gezwungen, eine neue Bleibe zu finden. Heimat wurde es so schnell nicht. Etwa jeder siebte (!) Mensch in den vier Besatzungszonen war vertrieben und zur Integration gezwungen.

Wir können davon ausgehen, dass diese Integration letztlich gelang, weil die Vertriebenen und im Irgendwo Gestrandeten letztlich die gleichen Wert- und Moralvorstellungen teilten wie die, denen sie nicht willkommen waren.

Heimatgefühle

… waren etwas, was die Genossen im Osten den Vertriebenen nicht zuteilwerden ließen. Brauchten die nicht. Zwar haben wir in Zittau für nach ein und derselben Stadt gleich zwei Straßen benannt, eine am Stadtrand als Liberecer Straße, der „Freundschaft“ zum einstigen sozialistischen „Brudervolk“ geschuldet, und eine auf gut Deutsch als Reichenberger Straße. Die sollte nicht etwa den aus Reichenberg ins nahe Zittau Geflohenen irgendwelche Heimatgefühle vermitteln. Die Reichenberger Straße ist in der Stadtmitte, verläuft parallel zur Böhmischen und war immer schon da.

Im Westen aber baute man nach dem Krieg den Heimatvertriebenen ganze Straßen, Stadtviertel oder Ortschaften — wie Neugablonz bei Kaufbeuren, wo 18.000 aus Gablonz an der Iser (gleich hinter Reichenberg) ihr neues Zuhause fanden. Einige der dortigen Straßennamen lesen sich, als seien sie bei mir ums Eck. In Bad Vilbel auf dem Heilsberg wurde den Vertriebenen Heimatgefühl mit einer Breslauer und einer Danziger Straße, einem Schlesienring, dem Memel- und dem Samlandweg, dem Schneekoppen-, Elbfall-, Keilberg-, Jeschken-, Altvater-, Böhmerwald-, Ostpreußen-, Brünner, Karlsbader oder Iglauer Weg vermittelt. An (fast) alle hat man gedacht. In der DDR wurde dergleichen als Revanchismus verteufelt, aber immerhin konnte sich Vilbels sehr beschauliche Einwohnerzahl nach dem Krieg so innerhalb weniger Jahre verdoppeln.

Diffuse Gefühle

… sind es, die Flüchtlinge immer schon nicht willkommen sein ließen, kein Rassismus. Die Befürchtung, etwas hergeben zu müssen, die Angst vor Einschnitten oder auch nur simplen Veränderungen im Alltag, zum Beispiel seine Kirche nunmehr mit „Katholen“ teilen sowie komische Sitten und Bräuche erdulden zu müssen, war ausschlaggebend. „Angst?“, möchte man fragen. Rechtfertigt so etwas wirklich Angst? Und dann stanken die alle noch nach Knoblauch und sprachen eigenartige Dialekte! Viele „gute“ Gründe, sich mit denen nicht abzugeben, sie zu schneiden und auszugrenzen. Das schafften wir also auch, ohne dass der Flüchtling eine dunklere Hautfarbe hat, eine ganz andere Sprache spricht und an einen ganz anderen Gott glaubt.

Ich befürchte aber, dass das trotzdem kein spezifisch deutsches Problem ist. In Polen und Ungarn sind Flüchtlinge überhaupt nicht willkommen, in Pakistan mag man die vor den Taliban geflohenen Afghanen nicht, in Saudi-Arabien keine Flüchtlinge aus dem Jemen, in der Türkei keine aus Syrien, in Jordanien keine Palästinenser, obwohl sie arabische Brüder und Schwestern sind.

Sie verändern die Mehrheitsgesellschaft allein schon durch ihre Anwesenheit.

Migranten und Flüchtlinge

… sind keineswegs ein und dasselbe. Gastarbeiter, Einwanderer, Zuwanderer, Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund, neuerdings Migrationsgeschichte … Vielleicht ist das babylonische Sprachgewirr ja gewollt. Vielleicht sollen wir glauben, dass jeder Migrant, der früher noch Einwanderer hieß (was den Kern trifft), ein Flüchtling ist, und als solcher schließlich zwangsläufig schutzbedürftig bis hin zum Asyl. Aber der Reihe nach.

Die Heimatvertriebenen waren Flüchtlinge; denn wer flüchtet, tut dies meist gegen seinen Willen, weil er verjagt oder vertrieben worden ist. Die, die später die sowjetische Besatzungszone oder die DDR verließen, weil sie nicht mit „den Russen“ oder den Kommunisten wollten, Zwangsenteignung und/oder Kollektivierung entgehen wollten oder auch nur irgendwelchen braunen Dreck am Stecken hatten, ihren Grund und Boden, ihre Häuser zurückließen, dem anderen deutschen Staat dafür jahrzehntelang keinen Pfennig Grundsteuer zahlten und alles nach der Wende im Zuge von „Rückgabe vor Entschädigung“ wiederbekamen, waren keine Flüchtlinge. Sie waren Migranten. Sie haben auf der Suche nach besseren Lebensperspektiven aus eigenem Antrieb ihre Heimat verlassen.

„Heimatvertriebene“, also Flüchtlinge, hatten wir in der DDR übrigens keine. Bei uns hießen sie „Umsiedler“, sind einfach mal so aus dem Osten gekommen, weil da jetzt Brudervölker lebten, und hatten schließlich eine neue Heimat gefunden.

Migranten unterscheidet man in Immigranten (Einwanderer) und Emigranten (Auswanderer). Sich wieder der deutschen Vokabeln zu bedienen, wäre gewiss zu plakativ. Der erst 2005 eingeführte Migrationshintergrund gilt nämlich neuerdings angeblich bereits als negativ behaftet und stigmatisierend, weshalb echte Gutmenschen inzwischen von „Menschen mit Migrationsgeschichte“ sprechen. Ich kann den Unterschied nicht so wirklich ausmachen und befürchte, dass wir uns hier in Riesenschritten einem „M-Wort“ nähern. Irgendwo habe auch ich einen Migrationshintergrund, sonst hätte meine Mutter keinen Mädchennamen haben können, der sehr nach einem böhmischen König klingt. Keiner in der Familie hat sich je stigmatisiert gefühlt. Keiner wurde stigmatisiert, nicht mal in richtig bösen Zeiten, denn alle haben sie ihren Ariernachweis bekommen.

Wir haben uns daran gewöhnt,

dass die seit 2015 in Scharen nach Deutschland Gekommenen als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden. „Refugees welcome!“ Es wäre das erste Mal in der Menschheitsgeschichte gewesen, dass Flüchtlinge wirklich willkommen gewesen wären. Und echten Flüchtlingen wäre genau das zu wünschen. Aber die Menschen hierzulande hatten und haben Zweifel daran, dass die ganz überwiegend jungen Männer tatsächlich „verjagt und vertrieben“ wurden. Wer nur vor der Wahrscheinlichkeit davonläuft, zum Militärdienst einberufen zu werden oder dass sein Haus von einer Granate oder Drohne getroffen werden könnte, wird weder verjagt noch vertrieben.

Wer vor einer Einberufung davonläuft, wer vor einem nötigen Wiederaufbau seines Landes nach Krieg oder Bürgerkrieg davonläuft, wer Frauen und Kinder in Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten zurücklässt, wer nicht an der nächsten sicheren Stelle das Ende von Kämpfen abwartet, sondern bewusst eines der reichsten Länder der Welt als Ziel wählt, ist selten Flüchtling. Wer das tut, sucht für sich bessere Lebensverhältnisse, ist also Migrant, Immigrant, Einwanderer ohne Recht auf Asyl. Das Zurücklassen von Frauen und Kindern in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, häufig genug in Regionen der Welt, in denen Frauen ohnehin wenig bis nichts gelten, habe ich noch nie verstanden, ist für mich bis heute verantwortungslos, moralisch verwerflich.

Die Menschheit musste erst die Schrecken des Zweiten Weltkrieges überwinden, bevor sie am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschieden konnte. In deren Artikel 14 heißt es: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“ Ausgenommen sind nichtpolitische Straftäter. Wer also lediglich einem Haftbefehl wegen nicht gezahlter Geldstrafe nach einem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz davonläuft, hat nicht das Recht, außerhalb Deutschlands um Asyl zu ersuchen. Alle, die zu uns kamen, sollen in ihren Heimatländern „verfolgt“ worden sein? Die jungen Männer ja, ihre Frauen nicht oder weit seltener? In den Herkunftsländern müssten also die Zustände für Frauen nahezu paradiesisch sein, damit man ausgerechnet sie dort zurücklassen kann? Vom Paradies habe ich andere Vorstellungen.

Ich habe schon Schwierigkeiten damit, dass in 40 Jahren DDR nach Schätzungen des Bundestages bis zu 350.000 Menschen politisch verfolgt wurden. Die Erfahrung im Umgang mit dem anderen deutschen Staat lehrt, dass diese Zahl eher nicht am unteren Ende angesetzt wurde. Und dem gegenüber sollen in Syrien, das 2011 etwa 22,88 Millionen Einwohner hatte, von denen mutmaßlich 10 Millionen jünger als 20 Jahre alt waren (Einwohnerzahl 1991 12,98 Millionen), gleichzeitig mehrere Millionen junge Männer politisch verfolgt worden sein? Allein welcher Apparat wäre nötig gewesen, um mehrere Millionen, von denen zwischen 2013 und 2023 mehr als 900.000 nach Deutschland gekommen sind, politisch zu verfolgen? Ich will und kann es nicht ausschließen, allein, ich glaube nicht daran.

Halten wir fest: Wer tatsächlich Flüchtling ist, hat auch ein Recht auf Asyl. Er muss dem Einzelnen nicht willkommen sein, aber die Gesellschaft hat die Pflicht, ihm Asyl zu gewähren.

Arbeitsmigranten

… sind politisch gewollt. Das gab es im Westen Deutschlands schon einmal. Damals hießen sie noch Gastarbeiter, weil man davon ausging, dass sie irgendwann in ihre Heimatländer zurückkehren. Sie wurden benötigt, um einfachsten Support für das deutsche Wirtschaftswunder zu leisten. Viele von ihnen blieben. Ihre Nachfahren sind teils gut integriert, einige bis heute nicht. Laut Bundeszentrale für politische Bildung kamen vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anwerbestopp 1973 „rund 14 Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach Deutschland, von denen 11 Millionen wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten“.

Seit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom März 2020 also wieder: Arbeitsmigranten heißen sie jetzt und sollen die Lücke schließen, die die Babyboomer hinterlassen. Im Koalitionsvertrag 2025 heißt es: „Wir wollen ein einwanderungsfreundliches Land bleiben und eine qualifizierte Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt attraktiv machen.“ In der Vergangenheit waren deutsche Politiker, insbesondere Hubertus Heil und Annalena Baerbock, selbst Frank-Walter Steinmeier, wiederholt auf Werbetour, unter anderem in China, Vietnam, Indien, den Philippinen und Brasilien. Die Ausbeute ist mager, denn offenbar ist Deutschland inzwischen weit weniger attraktiv als einst. Wenn bis 2035 sieben Millionen Fachkräfte benötigt werden, dann reicht die halbe Million bisher akquirierter Fachkräfte nicht aus.

Das Anwerben von Fachkräften aus Drittweltländern mag sympathisch daherkommen, ist jedoch nichts anderes als eine Form des Neokolonialismus. Als Anwerben bezeichnet, ist es bloßes Abwerben. Wir lassen China, Vietnam, Indien, die Philippinen oder Brasilien Fachkräfte ausbilden, um diese nach Deutschland abzuwerben. Vielleicht tun wir diesen Ländern ja sogar einen Gefallen, weil diese Fachkräfte in ihren Herkunftsländern die Arbeitslosenquote künftig besser dastehen lassen?

Wir wollen Millionen ausländische Fachkräfte ins Land holen, sparen uns den größten Teil der Kosten für ihre Ausbildung, obwohl wir Millionen Arbeitslose im eigenen Land haben, von denen die wenigsten sogenannte Totalverweigerer sind, die meisten von ihnen arbeiten wollen. Wir nehmen Probleme bei der Integration in Kauf und sehen zu, wie die eigenen Arbeitslosen „vor die Hunde gehen“. Wir nehmen in Kauf, dass diese Arbeitslosen jährlich Milliarden kosten, nur weil wir nicht in der Lage sind, diese den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechend zu qualifizieren. Diese Qualifizierung überlassen wir lieber dem Ausland.

In der DDR, in welcher „der Markt“ eine untergeordnete Rolle spielte, wurde Jahre vor dem Schulabschluss bereits eine arbeitsmarktorientierte Berufs- und Studienberatung betrieben. Daraus resultierten keine Verpflichtungen. Daraus resultierten aber häufig junge Menschen, die mit Abschluss der Schule bereits eine durchaus konkrete Vorstellung von ihrem künftigen Werdegang hatten, in dem nicht unbedingt „die Karriere“ im Mittelpunkt stand.

Illegale Migration

… dagegen solle bekämpft werden, hieß es im Wahlkampf aus mehreren Richtungen. Was bitte ist „illegale Migration“? Flüchtlingsorganisationen halten dem entgegen, dass kein Mensch illegal ist. Im Behördendeutsch ist die Rede von „irregulärer Migration“. Das führt uns auf die richtige Spur und steht auch so im Koalitionsvertrag. Es geht um Migration, die nicht den Regeln, also den Gesetzen entspricht. Allerdings kann ausgeschlossen werden, dass sich der Migrant, bevor er aufbricht, in vollem Umfang mit den Regeln der Zuwanderung in seinem Zielland beschäftigt. In der Regel werden sie sich auf die Strümpfe machen, wie Millionen vor ihnen, auch die, die den USA zu ihrer heutigen Größe verhalfen.

Zur Bekämpfung der irregulären Migration will man weiterhin auf dauerhafte Grenzkontrollen setzen. Abgesehen davon, dass dauerhafte Grenzkontrollen gegen europäisches Recht verstoßen und den Geist von Schengen, somit eines gemeinsamen Europas, zerstören, abgesehen davon, dass die knapp 55.000 Bundespolizisten dafür nicht im Ansatz reichen, kann auf solche Ideen wohl nur kommen, wer wie Friedrich Merz aus dem Sauerland oder wie Nancy Faeser aus dem Taunus kommt, wo alle deutschen Grenzen schön weit weg sind. Ich habe die tschechische Grenze in Sichtweite. Bei mir zuhause sind die Menschen genervt von den Grenzkontrollen, zumal es nicht mal mehr ein offenes, sondern gar kein Geheimnis ist, dass die Bekämpfung der illegalen Einreise längst nicht mehr im Vordergrund steht.

Kontrolliert wird vor allem, um Haftbefehle zu vollstrecken sowie unerlaubten Besitz von Waffen und Drogen aufzudecken. Die mit dem Schutz vor „illegaler Migration“ bemäntelten dauerhaften Grenzkontrollen sind längst der Schritt in den Überwachungsstaat.

Dass nicht noch mehr kontrolliert wird, liegt an der schlicht nicht ausreichenden Personaldecke. Zum eigentlichen Zweck passen aber auch die je drei in den Stadtgebieten von Görlitz und Zittau festen Kamerastandorte mit PerIS, dem sehr speziellen Personen-Identifikations-System der sächsischen Polizei, das in der Lage ist, Personen in Fahrzeugen auch bei einer Vorbeifahrt mit mehr als 200 Kilometer pro Stunde zu identifizieren. Faktisch ist es nicht mehr möglich, in den beiden Stadtgebieten die Grenze von oder nach Polen zu überschreiten (auch zu überfahren), ohne von diesen Kameras erfasst zu werden – auf Wunsch selbstverständlich mit Datenabgleich in Echtzeit. Sachsens Staatsregierung bezeichnet PerIS längst als Erfolgsmodell.

Man kann dies nur als den Anfang betrachten. Das Lausitzer Gebirge hat von jeher ein extrem dichtes Netz von Wanderwegen. Selbst Forstwege sind historisch bedingt — der Zittauer Stadtwald erstreckte sich früher auf beiden Seiten der deutsch-böhmischen Grenze — oft grenzüberschreitend. Die Menschen hier haben seit dem Schengen-Beitritt Polens und der Tschechischen Republik ihr früheres natürliches Hinterland erfreulich schnell wieder für sich in Anspruch genommen. Schließlich war der Wegfall dieses Hinterlands einst der Grund für die Verzwergung der Stadt und den Niedergang eines Ballungsraumes mit mehr als 150.000 Menschen.

Was wird kommen? PerIS an allen grenzüberschreitenden Wegen im Gebirge? Selbst im Echtzeitmodus fehlte es an Personal, das die irregulären Migranten rechtzeitig an der Grenzverletzung hindert, sie festsetzt oder zurückweist.
Hubschrauberflüge der Bundespolizei entlang der Grenze, wie in Coronazeiten, als selbst die Hunderunde über die Grenze verboten war? Gleiches Problem. „Wanderer“ mit entsprechender Anmutung sind mir zuhause im Lausitzer Gebirge als auch im nahen Elbsandstein gelegentlich aufgefallen.

Grenzanlagen

… scheinen demnach die einzige Möglichkeit zu sein, die irreguläre Migration über die Grüne Grenze einzudämmen. Zu dieser Erkenntnis kam auch Martin Wagener in seinem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung am 28. Januar 2025 unter der Schlagzeile „Friedrich Merz will rigoros gegen illegale Migration vorgehen. Aber wer innere Sicherheit will, muss ohne Tabus über Grenzanlagen reden.“ Konsequenterweise lieferte er den Lösungsvorschlag gleich mit:

„Als Erstes werden permanente Kontrollen an sämtlichen Grenzübergangsstellen etabliert; Zurückweisungen erfolgen gemäss festgelegten Kriterien. Parallel dazu wird mit dem Bau eines Sicherheitszauns an den besonders anfälligen Grenzen zu Polen, Tschechien und Österreich begonnen. Der abschreckende Effekt dieser Massnahmen ist nicht zu unterschätzen. Berichte in den sozialen Netzwerken über erfolglose Einreiseversuche und Fotos von Stahlkonstruktionen mit Nato-Stacheldraht dürften dazu beitragen, dass die Zuwanderungszahlen erheblich zurückgehen. Anschliessend wird das Sperrsystem auf die komplette Grenze ausgedehnt und dann schrittweise in der Tiefe gestaffelt.“

Hat jemand den Grenzzaun der USA zu Mexiko oder gar noch die Berliner Mauer vor Augen? Ich versuche, mir dies vorzustellen: am Ostseestrand zwischen Ahlbeck und Swinemünde, zwischen den Felsen und Schlüchten des Elbsandsteingebirges, mitten durch die Gärten der Anliegerstraßen von Herzogenrath und Kerkrade, zwischen Konstanz und Kreuzlingen, am Gipfel der Zugspitze oder — nicht ganz so spektakulär, dafür umso symbolträchtiger — an der Brücke über die Mosel zwischen Perl und Schengen.

Kann ich jetzt noch von meiner Terrasse den Grenzverlauf am Berg vor mir dadurch erkennen, dass auf böhmischer Seite Buchen statt Fichten den Wald dominieren, zöge sich künftig ein „Antimigrantischer Schutzwall“ den Hang hinauf.

Könnte ich diesen überhaupt noch bestaunen oder würde mein Haus wegen der Tiefenstaffelung abgerissen? Muss ich nur noch auf offizielle Grenzübergänge ausweichen, dafür größere Umwege in Kauf nehmen, auch wenn ich nur auf die Hunderunde will? Werden wir uns auf beiden Seiten der Grenze wieder so fremd wie einst, als bis in die späten 1960er Jahre Stacheldraht die Grenze „sicherte“? Zögen unsere europäischen Nachbarn bei diesem Irrsinn nach? Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich will mir das auch gar nicht vorstellen. Wenn das kommen sollte, wandere ich aus.

Fein raus

… sind wir in Deutschland doch eigentlich. Wer bei uns erstmals Schengen-Boden betritt, muss schon durch Nord- oder Ostsee geschwommen oder im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Wolken gefallen sein. Eine Schengen-Außengrenze zu Land haben wir nicht. Außengrenze sind allenfalls die 2.389 Kilometer Küste. Auf jeden Einwohner entfallen so weniger als 30 Meter. Kroatien, das eine Küstenlänge von über 6.000 Kilometer hat, muss zudem 1.350 Kilometer Landgrenze zu Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro bewachen, pro Einwohner 1,9 Kilometer.

Ein Blick nach Griechenland oder Bulgarien macht die Angelegenheit nicht wirklich besser. Es ist klar, dass die Sicherung der Außengrenzen nur eine gemeinsame Aufgabe sein kann. Unklar ist, woran die Umsetzung seit der größten Erweiterung im Jahr 2004 beharrlich scheitert.

Unklar ist auch, warum Deutschland als eines der Hauptzielländer irregulärer Migranten, als Land, das lange schon Überlastung durch Migranten beklagt, sich immer noch auf den Standpunkt zurückzieht, dass die Sicherung der Außengrenzen Sache der Anrainerländer ist, und dementsprechend einen viel zu geringen Anteil an den Außengrenzen selbst leistet.

Ein Bundespolizist aus Schleswig-Holstein hat seinen Dienst dort zu verrichten, wo sein Dienstherr dies verlangt, und sei es im Berchtesgadener Land. Können oder wollen wir unseren Beamten Dienst an den Außengrenzen nicht zumuten? Machen wir uns also lieber einen schlanken Fuß und weisen an unseren Grenzen zurück mit dem Hinweis, dass offensichtlich unsere Nachbarn ihren Job nicht richtig gemacht haben? Was in tatsächlich jedem Fall irgendwie zutrifft, wenn jemand irregulär an einer unserer Landgrenzen aufgegriffen wird.

Auch das Schengen-Informations-System hilft nur bedingt weiter, denn es setzt voraus, dass die irregulären Einwanderer die offiziellen Grenzübergangsstellen nutzen. Schön blöd wären sie, bietet doch die Topografie des Geländes zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien die besseren Chancen, Schengen-Boden zu betreten. Einmal drin, ist „Asyl“ schnell gerufen.

Echte Ansätze, das Problem im europäischen Sinn zu lösen, uns nicht den Unmut unserer Nachbarn zuzuziehen, bietet der Koalitionsvertrag nicht. Höchstwahrscheinlich ist diese Chance auf die nächsten vier Jahre hinaus vertan. Es passt ins Bild eines Koalitionsvertrages der Unverbindlichkeit. In der nächsten Legislatur kann Friedrich Merz dann an seinem Handicap auf dem Golfplatz von Kössen und Reit im Winkl arbeiten, der von Grenzsicherungsanlagen geteilt wird.


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