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Verstörte Körper, zerstörte Sprache

Verstörte Körper, zerstörte Sprache

Die Poetik-Ecke XXVIII. versucht, wiederherzustellen, was in den Coronajahren verloren ging.

Post Corona love 1

Bevor du gehst
ein letzter Schnapp-Schuss
deine vorgerückten Lippen
mein entsicherter Atem

die Schliere in deinen Augen
durchdringt jeden Einwand
wie scharfer Rückstand sind wir
aus zerredeter Nacht

die Herzwände locken mal wieder
mit schwerem
ungebetenem Puls

wo früher die Haut nass war
die Feuchte einer zärtlichen Welt uns band
nun die Steppe
des Aus-Ein-Ander-Seins

der Ewigkeit entlehnt
bleibt noch
eine brüchige Frage
Waren wir je die, die wir schienen
Und sind

zuletzt noch im Stau
alter Ideen
der Erinnerung dies störrische Ziel:

oh strömen strömen
draußen sein du Entliebte
und leben:
wie ein Strahl
aus bitteren Sonnen

Post Corona love 2

unter einem fröstelnden Baum
hockten wir einmal
hörten in a godda da vida

später
erstarben die Gitarren-Riffs
wie der Wildgänse Schwirren
auf fernem Flug

uns bleibt allein noch
die Rennebahn
ein Weiter so in
erstarrtem Speed

was schließlich
den Abend hervortreibt
ist die Lichtgirlande
auf dem Mittelstreifen der Autobahn
wie aus der Dämmerung
windet sie sich
zur grell
aufzuckenden Schlange
auf Beutejagd

hinein in´s
erlegte Berlin

Post Corona love 3

wie ich mich auslebe
in dir

die falschen Lieder
die nochmals gekauften Bilder

sind wir noch eins
in unseren verstörten Körpern
ausgeliefert
dem Wirrwarr der Neuronen
dem Zungenschlag
hoch züngelnder Ideen

ein falsches Wort nur
aus dem sumpfigen Grund der Fakten
und die aufgeschobene
weggedrückte Welt —
reißt von der Leine

Erinnerung an M

Septembernachmittag
und ein
durch´s Blattgeäder flüsterndes Licht,
wirft Schatten

im Garten stehst du
voll flutendem Gras
noch einmal bereit
wie ein Kind
zu suchen
nach altem Sinn

von Schweigen umhüllt
dem Ruch des Vergehns
scheut leicht dein Gesicht

wenn es zum Antlitz sich öffnet
dich führt
in den zärtlichen Gleichklang der Welt

ein fragender Blick
entbirgt sich nicht
dem schaudernden Gast

dem nie ankommnden
ungebetenen
Frevler

Für Helmut, meinen Bruder

(Post Corona Love 5)

auf knisterndem Waldboden in der Frühe
dem äsenden Rotwild auf der Fährte
in tiefer Andacht
berührtest du mich an der Schulter
Achtsamkeit fordernd
aber schon damals
lag darin eine
aus dem Nebel
tropfende Wehmut

dein Gesicht im Spiegel
als du 14 warst
nach der Schule in die Welt getrieben
über zwei Berge musstest du gehen
mit einer Aktentasche mit Schmalzbroten
in einem Morgengrauen
das keinen Tag kennt
nur die unstillbare Sehnsucht
nach Verwandlung

später unsere Spaziergänge
an hellen Tagen
schlug dein Herz

diesmal in feuchtgrünem Mai
oder von Bahnhöfen aus
hin zu Ausstellungen
Tintorettos mystische Farben
ließen uns zusammenrücken
Augenblicke des Schauens
bevor wir in einem Café
Kuchen aßen
gedeckter Apfel

mein Bruder
mein großer Bruder
gleichen Jahrgangs warst du mit Rudi Dutschke
doch in ganz anderer Spur

zuletzt trieben wir —
vor uns die Bilder von Bergamo —
auseinander
als sei Zeit unendlich
für etwas Aufgespartes in uns

was für ein Irrtum
ruft etwas in mir
dir nun Staubgewordenem zu

bleib mir ein Hort
in den Splittern meines Atems
im forttreibenden Hirn

in der Unverrückbarkeit
eines
Augenblicks

Im Bus

die uns vorenthaltene Wirklichkeit
bei Null Grad endlich erspürt
während die anderen ihre Diskurse führen
steigen die Passagiere in den Bus ein
als setzten sie sich fest
an den Ufern der Flüsse von Babylon
Atome umkreisen die Sitze
ein Hauch von kaltem Wind
wenn der Busfahrer die Türen öffnet
zu müde, um die digitalen Tickets zu prüfen
durch die Fenster dringt nackt siedender Nebel
und erzählt uns nichts
außer
allem was zählt


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