Heute vor drei Jahren war ich wie gelähmt. Es war der 17. März 2020 und wir mussten schließen. Drei Jahre später sehe ich auf vieles zurück und verstehe die Welt nicht (mehr). Meine Werte scheinen falsch zu sein, die Etiketten, die mir aufgedrückt werden, sind wie die Schuhe von Aschenputtel, nur dass die Welt mich zur hässlichen Stiefschwester macht. Vieles, von dem ich dachte, es nicht erleben zu müssen, ist geschehen. Wie viel, von dem ich mir erhoffe, dass es nicht geschieht, wird noch geschehen?
Ausgangssperren
Am 15. März 2020 war in Bayern Wahl. Wer Angst vor Corona hätte, könne sich einen eigenen Stift mitnehmen — so hieß es damals. Am Abend wurde ausgelassen und in großen Runden gefeiert. Die Medien waren voll mit Fotos. Am Montag wurde verkündet, dass die Lage ernst wäre und dass am Dienstag verschiedene Läden, Fitnessstudios, Kosmetikstudios und andere Dienstleistungsanbieter schließen müssten. Ich konnte es nicht fassen. Im Grunde war damals der Grundstein des Zweifels bereits gelegt.
„Die können doch nicht gestern noch …“ Doch, „die“ können. Der Rest ist — wie man so schön sagt — Geschichte.
Viel gelernt
Es war eine sehr lehrreiche Zeit. Ich habe gelernt, dass Vertrauen in diejenigen, die Macht haben und die einer Demokratie verpflichtet sind, nicht immer gut ist.
Ich habe gelernt und erlebt, dass Menschen zu extremen Reaktionen neigen, wenn sie in Angst versetzt werden.
Ich habe gelernt und bewiesen bekommen, dass auch heute das biblische Linsengericht existiert. War es damals noch ein vegetarisches oder veganes Gericht, so lockte man die Menschen heute mit einer Bratwurst.
Ich habe gelernt, dass es für viele Menschen keine Tabus gibt, wenn sie der Meinung sind, auf der „richtigen“ Seite zu stehen.
Ich habe festgestellt, dass Objektivität, Souveränität, Diplomatie, Verhältnismäßigkeit und Evidenz nur Begriffe sind, die von vielen, die sie leben und vorleben sollten, zwar ausgesprochen, aber nicht gelebt werden.
Ich habe gelernt, dass man den Personen nicht glauben kann, wenn sie von Offenheit und Kritikfähigkeit sprechen.
Ich habe gelernt, dass Diskriminierung lebt, man muss sie nur verkaufen können, dann findet man viele Anhänger (m, w, d), die bereitwillig als Schergen die Drecksarbeit verrichten.
Gewonnen und verloren
Ich habe die schmerzhafte Erkenntnis gewonnen, dass ich, wenn ich wählen muss, meine Familie wähle und demnach ein Feigling bin, der sich den Regeln beugt, auch wenn sie noch so unsinnig sind. Ich habe Menschen unter 2G ausgeschlossen, weil ich Angst hatte, erwischt und bestraft zu werden und dann für meine Familie den Lebensunterhalt nicht mehr verdienen zu können.
Als schwachen Trost kann ich anführen, dass ich tatsächlich noch nie behauptet habe, dass ich ganz anders gehandelt hätte, wenn man vergleichbare Situationen aus vergangenen Zeiten geschildert bekommen hat.
Ich habe das Vertrauen in die Politik verloren. Menschen, die sich zu abscheulichen Aussagen haben hinreißen lassen, Menschen, die dazu aufforderten, Menschen auszuschließen. Ich habe den Glauben an Recht und Gesetz verloren.
Ich habe gesehen und verstanden, dass es in vielen Dingen wirklich nur ums Geld geht. Werte sind gut, aber mit Werten kann man sich nichts kaufen. Geld ist Macht und Macht ist geil. Wenn man Geld und Macht kombinieren kann, wirft man dafür schnell und sehr bereitwillig jeden noch so wohlklingenden Wert über Bord.
Und wer sich selbst den Wert „offen für alle“ auf die Fahne schreibt, um dann Menschen auszugrenzen, weil es die Regierung so will, der muss nicht mit Steinen werfen, denn er sitzt in einem Glashaus.
Keine Zeit für Aufarbeitung
Und heute ist keine Zeit für Aufarbeitung, denn die Krise war eine harmlose Erbse unter hundert Matratzen, im Gegensatz zu den Elefanten in den Räumen und den Panzern in den Städten.
Die Ausreden sind so alt und abgelutscht, dass ich dachte, sie würden nicht noch einmal benutzt werden, doch auch hier zeigt mir das Geschehen, dass dem doch so ist.
Ich benutze die Ausrede: „Was hätte ich denn machen sollen, sonst hätte ich unsere Familie nicht ernähren können.“ Andere sagen, sie hätten es eben nicht besser gewusst, und dass man heute schlauer wäre als vor drei Jahren.
Gut, ich stehe zu meinem Fehler und er schmerzt mich jeden Tag, das ist das Einzige, was ich als mildernden Umstand anführen kann. Ich habe nicht vergessen, wie ich mich verhalten habe. Manchmal würde ich es mir wünschen. Wenn ich sehe, wie leichtfertig Menschen behaupten, sich an nichts erinnern zu können oder gar im Brustton der Überzeugung und mit Inbrunst behaupten, sie hätten all das, was das Netz nie vergisst, nie gesagt.
Aber dass Evidenz nicht so wichtig ist, das war ja eine der Lektionen, die ich in den letzten drei Jahren gelernt habe. Man ist nie schlauer, auch nicht hinterher, und der Mensch lernt nicht aus der Geschichte.
Frieden
Dieses Wort hat die größte Bedeutungsumkehr erfahren, die man sich vorstellen kann. Waren Querdenker früher Menschen, die die Fähigkeit besaßen, um die Ecke zu denken und gleichzeitig über den Tellerrand zu blicken, sind es heute verabscheuungswürdige Exemplare der Gesellschaft. Es scheint, man suche noch nach Möglichkeiten, sich dieser Exemplare dauerhaft entledigen zu können.
Gegen das, was man heute mit dem Wort Frieden verbindet, ist die Bedeutungsänderung des Wortes Querdenker ein Fliegenschiss.
Frieden scheint heute automatisch Niederlage zu bedeuten. Frieden ist Sklaverei. Krieg ist Freiheit.
Vielleicht erläutere ich kurz, was ich bisher unter Frieden verstand: Frieden bedeutete für mich zunächst einmal die Abwesenheit von Gewalt. Frieden bedeutete für mich, dass Menschen nicht getötet werden. Frieden bedeutete für mich, dass Waffen schweigen.
Und weil das immer ein guter Anfang ist und weil ich der Meinung war, dass es gut ist, wenn Menschen keine Menschen töten, und weil ich dachte, dass man ein Interesse daran hat, jeden Toten zu verhindern, war ich für Frieden.
Aber ich habe gelernt, dass nicht Frieden wichtig ist, sondern Geld und Vernichtung. Wer heute für Frieden ist, der bestätigt nur, dass er schon gestern ein Querdenker war.
Wer heute Frieden fordert, damit das Töten aufhört, wer einen Waffenstillstand als ersten Schritt erachtet, und wer dann auch noch darüber spricht, dass man reden und verhandeln sollte, der outet sich nicht nur als naiv und dumm, sondern als gehässig und — mal wieder — rechtsextrem.
Nie hätte ich gedacht, dass die weiße Taube einmal mit so viel Hass und Häme überzogen werden könnte.
Du würdest dich doch sofort erschießen lassen
Erst vor ein paar Tagen wurde mir wieder bewusst, wie feige ich bin. Bei einem Austausch über die heutige Situation sagte mein Gesprächspartner, dass er sofort auf die Straße rennen würde, um sich von „denen“ erschießen zu lassen, wenn es dazu käme, dass „die“ bei uns einmarschieren würden. Er beendete seine Ausführung mit der rhetorisch gemeinten Frage, ob das bei mir anders wäre.
Und wieder stellte ich fest, dass ich keine klare Stellung beziehen kann. Ich sagte ausweichende Dinge, wie „Kommt darauf an“ und „Ich möchte eigentlich leben“, und mich nicht per se gleich erschießen lassen, weil das Böse auf mich zukommt. Ich klammere mich an Hoffnungen und Träume. „I have a dream.“
Ich fühle mich falsch
Heute haben wir Begriffe für Menschen, die sich in ihrem Körper falsch fühlen. Haben wir schon einen Begriff für Menschen, die das Gefühl haben, dass der Kopf voller falscher Werte ist? Menschen, die von sich bisher die Meinung hatten, sich überzeugen lassen zu können, jetzt aber so gar nichts mehr verstehen? Verrückt? Schizophren?
Ja. Verrückt. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin mit meinem Werten stehengeblieben und dadurch schlecht geworden, wie Milch, die man nicht rechtzeitig in den Kühlschrank stellt.
Ich habe mich nicht rechtzeitig in den Kühlschrank gestellt, denn ich möchte immer noch, dass das Töten aufhört. So schnell wie möglich. Auf beiden Seiten.
Und ich kann noch nicht einmal sagen, dass mir das leidtut.
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