Manchmal frage ich mich, ob es eine gute Idee war, eine Mutmach-Redaktion zu gründen. Ob das Vorhaben, anderen in Zeiten wie diesen Mut machen zu wollen, nicht vermessen oder naiv war. Mein innerer Zweifler geht dann ziemlich hart mit mir ins Gericht: Was wollen wir mit unseren Aufwind-Texten bezwecken?
Wollen wir den durch die katastrophalen Zustände der Welt ausgelösten Schmerz der Leser und ihre Angst vor den drohenden Gefahren eines Krieges mit hoffnungsvollen Texten betäuben, damit sie das Leben weiter aushalten? Ist das nicht so, als würden wir ihnen Schmerztabletten verabreichen, anstatt die Ursache für ihr Leiden anzugehen. Hält sie das nicht am Ende davon ab zu handeln? Machen wir die Aufklärungsarbeit der anderen Autoren, die die harte Wahrheit ungeschminkt vor unsere Nasen halten, damit wir aufwachen, nicht wieder zunichte?
Ein kritischer Leser
Genau so scheinen einige Leser unsere Mutmach-Redaktion zu empfinden. Als Reaktion auf meinen Artikel „Statistik als Therapie“ erhielt ich zum Beispiel folgende E-Mail von Richard Rüger:
„Liebe Elisa Gratias,
warum hat mich bloß beim Lesen Deiner Rosling-Rezension so ein merkwürdiges Gefühl beschlichen? So ein ganz tiefes, unabweisbares Gefühl, dass da irgendwas ganz grundsätzlich nicht stimmt.
Ich stellte mir vor, wie Du da auf Mallorca sitzest, in Decken gehüllt auf Deinem Balkon, das Buch von Rosling in der Hand, Deinen Laptop im Schoß, und die aufmunternden Worte von Daniele Ganser (den ich im Übrigen sehr schätze, und der eine grundsätzlich andere Botschaft hat als der Herr Rosling) im Ohr.
Und dann habe ich mir vorgestellt, wie Dein Text wohl in den Ohren des Wohnungslosen klingt, der da um die Ecke am Landwehrkanal hinten im Park liegt, (wie Du) in Decken gehüllt, aber statt Buch und Laptop die Schnapsflasche in der Hand oder im Schoß, und mich gefragt, ob er der Unterscheidung zwischen ‚Armut‘ und ‚extremer Armut‘ etwas abgewinnen kann. Und der ‚extrem Arme‘, der da in Belem/Brasil vor dem Ladeneingang herumliegt, mag zwar statistisch (also ‚faktenbasiert‘!) noch ärmer sein, aber er läuft wenigstens nicht Gefahr, des nachts zu erfrieren.
Oder in den Ohren der Hinterbliebenen der Fischer auf der brasilianischen Insel Algodoal, die sich während meiner regelmäßigen Besuche dort zwischen 2001 und 2008 umgebracht haben, weil sie ihre Familie nicht mehr ernähren konnten, da die Fischereiflotten die Küsten leer gefischt haben ... Jedes Jahr fehlte wieder einer, der mich noch im Jahr zuvor mit erhobenem Daumen lachend gegrüßt und mir einen Fisch angeboten hatte. Deren Frauen und Kinder können sich aber wenigstens den Insel-Touristen als Prostituierte anbieten und ein bisschen Geld verdienen und sind also statistisch (‚faktenbasiert‘) eher nur ‚arm‘ statt ‚extrem arm‘. Wie schön für sie!
Und weil die Tausende von Kindern, die inzwischen in der BRD auf der Straße leben (und Hunderttausende, wenn nicht Millionen, weltweit), in keiner Statistik auftauchen (die Wohnungslosen übrigens auch nicht), weil sie einfach keiner der ‚faktenbasierten‘ Wissenschaftler zählen will, kommen sie halt bei Herrn Rosling auch nicht vor.
‚Der Mann ist viel gereist und er nutzte die Statistik als Hilfsmittel, um das Leben der Menschen weltweit begreifbar und vergleichbar zu machen.‘ Und Du glaubst allen Ernstes, dass Statistik das Leben der Menschen begreifbar und vergleichbar macht?
‚So stellt man fest, dass eine Familie mit ähnlichen Einkommen eine ähnliche Lebensweise inklusive zum Beispiel Schlafzimmereinrichtung hat, egal ob sie in China, der Ukraine, Jordanien oder den USA lebt.‘ Tolle ‚Feststellung‘, dass eine Familie, die zum Beispiel sechstausend Euro verdient, sich in China, der Ukraine, Jordanien oder den USA die gleiche Schlafzimmereinrichtung kauft!
Merkst Du denn gar nicht, was solche ‚Feststellungen‘ (‚statistische‘ also ‚faktenbasierte‘!) bezwecken?
‚Die Angst vor einer Pandemie, dazu die Panik angesichts von Dringlichkeit veranlassten mich, eine Straße zu sperren, weswegen all diese Mütter, Kinder und Fischer im Meer den Tod fanden.‘ Da geht also einer her und sperrt irgendwo eine Straße (wieso kann und darf der das eigentlich?), weil er nix so sehr wie eine ‚Pandemie‘ fürchtet, erzählt uns aber gleichzeitig sowohl, dass er Angst nicht mag, als auch, dass ihm ‚globale Pandemie‘ als erstes einfällt, was uns ‚beunruhigen‘ sollte.
Nicht, dass Erde, Luft und Wasser vergiftet sind und munter weiter vergiftet werden, nicht, dass wir unsere Mitlebewesen auf unserer schönen Erde rapide dezimieren und ausrotten (statistisch! faktenbasiert!), nicht, dass die Regenwälder überall abgeholzt werden (unter anderem, damit sie sich in China, der Ukraine, Jordanien und den USA die gleichen Schlafzimmereinrichtungen kaufen können, so sie das Geld dazu haben), sollte uns vor allem ‚beunruhigen‘, sondern die ‚globale Pandemie‘. Die Pharmaindustrie ist sicher hocherfreut, das zu hören!
‚Dafür gilt es unsere verschiedenen Instinkte zu kontrollieren, die Hans Rosling wie folgt aufzählt‘. Ich will Dir ja nicht zu nahetreten, aber von den zehn aufgezählten ‚Instinkten‘ habe ich während meines Grundstudiums der Psychologie gar nix erfahren. Vielleicht ist‘s ja zu viel verlangt, mal kurz zu recherchieren (Internet!), was die einschlägigen Wissenschaften unter ‚Instinkte‘ verstehen, statt diese von Herrn Rosling kritiklos zu übernehmen, wenn man, äh, frau auf einem Balkon auf Mallorca sitzt, während die Kampfjets über eine/n hinwegdonnern. Statistisch, also ‚faktenbasiert‘, übrigens, werfen viel weniger über eine/n hinwegdonnernde Kampfjets Bomben auf Leute ab, als man/frau gemeinhin, ‚instinktgesteuert‘, annimmt. Die Weggebombten wird‘s freuen!
‚Ich kann die Welt nicht retten, aber wie die Statistiken aus ‚Factfulness‘ zeigen, verändert sie sich sowieso beständig und langsam durch viele kleine Schritte, die viele einzelne Menschen tagein, tagaus unternehmen. Sie zeigen uns, dass unser Handeln Früchte trägt und motivieren, weiterzumachen. Sie führen schwarz auf weiß (!!) vor Augen, was Menschlichkeit bereits bewegt hat.‘
Da hab ich bis jetzt offensichtlich was falsch gemacht, dass ich dem, was mir die Wirklichkeit vor Augen führt, im Park, auf den Straßen, auf meinem Balkon (ja, ich hab auch einen!), wo die Vögel und Insekten seit Jahren immer weniger werden, oder auf fernen brasilianischen Inseln, mehr vertraut hab, als dem ‚Schwarz auf Weiß‘. Aber jetzt weiß ich‘s ja besser: ‚It‘s getting better all the time‘ (The Beatles).“
Das hat gesessen.
Natürlich wollte ein Teil von mir sofort protestieren, dass das ganz anders gemeint war, als Richard Rüger es interpretierte, dass er das Buch doch gefälligst lesen solle, wenn er sich frage, warum Herr Rosling das Recht hatte, eine Straße sperren zu lassen und dass mein Artikel sich natürlich nicht zum Trost an Obdachlose oder Weggebombte der Welt richtete. Doch ich ließ diese Stimme verpuffen, denn die Worte der E-Mail berührten mich mehr, als sie mein Ego kränkten.
Und so kamen die Zweifel über das Anliegen unserer Mut machenden Texte wieder einmal hoch und streiften durch meinen Kopf. Sie sind eine gute Möglichkeit, das eigene Handeln und Wirken zu hinterfragen. Denn tief im Inneren spüre ich natürlich den Sinn unserer Redaktion, doch er kann nicht erfüllt werden, wenn wir uns nicht selbst hinterfragen und uns bewusst machen, welche Nebenwirkungen oder falsch verstandene Botschaften in unseren Artikeln mitschwingen.
Ich telefonierte mit Kerstin Chavent, die ebenfalls die Mail von Richard Rüger gelesen hatte und davon sehr berührt war. Gemeinsam stellten wir uns die Frage: Was wollen wir mit unserer Redaktion wirklich erreichen? Worum geht es uns?
Schwarzmalen oder Schönmalen
Ich antwortete Richard Rüger. Ich bedankte mich für seine ehrlichen Worte und fragte ihn, ob wir sie für einen Artikel benutzen dürften, denn dieses Anliegen betrifft wohl so manchen Rubikon-Leser, wenn nicht sogar unsere ganze Gesellschaft.
Selbst in der eigenen Familie und im Freundeskreis spüre ich in Gesprächen die Spaltung zwischen zwei Fraktionen, die Schwierigkeiten haben, einander zu erreichen. Wer in welche Fraktion gehört, entscheidet dabei selten der Betroffene, sondern stets die Mitmenschen.
Mir wird unterstellt, ich wolle die Welt schönmalen, womit ich nicht einverstanden bin. Ich wiederum unterstelle anderen, sie wollen alles schwarzmalen, was sie natürlich auch nicht so sehen. Am Ende verweise ich stets auf die Gleichzeitigkeit der katastrophalen und schönen Aspekte unserer Welt, doch zum Versöhnen oder gar zu unserer Verständigung trägt dies dann meist auch nicht bei.
Richard Rüger antwortete mir und bedankte sich. Wir begannen, uns auszutauschen und eine kostbare, warme Verbindung entstand.
Die Spaltung überwinden
Können wir als Mutmach-Redaktion besser kommunizieren, um unerwünschte Nebenwirkungen oder falsche Botschaften zu vermeiden? Sollten wir immer wieder betonen, dass es uns nicht darum geht, oberflächlich schönzumalen und die Leser von den Problemen der Welt abzulenken, sondern ihnen Kraft zu geben, um zu Lösungen beizutragen und aktiv zu werden?
Das würde wohl einfach nerven und am Ende auch nichts bewirken.
Menschen, die uns falsch verstehen, würden dies wohl weiterhin tun, denn jeder Einzelne hat nun einmal unterschiedliche Filter und liest bestimmte Botschaften auf unterschiedliche Weise. Doch es geht vielleicht genau darum, die Menschen anzusprechen, deren Botschaft uns missfällt, so wie Richard Rüger es mit mir getan hatte, und unseren Kritikern ein offenes Ohr zu schenken.
Der Tonfall ist dabei besonders wichtig. Auch wenn die Nachricht von Herrn Rüger bissig und direkt war, vermochten seine Worte es, mich zu berühren, sein Anliegen zu verstehen. Dank seiner Kritik entwickle ich mich weiter und erinnere mich an unser Kernanliegen als Mutmach-Redaktion. Die Welt ist komplex und kein Artikel der Welt vermag es, alle Aspekte und Facetten ausreichend zu beleuchten.
Uns kommt es darauf an, unseren Fokus auf die hoffnungsvollen Visionen unserer Zukunft auf diesem Planeten zu richten, da unser Handeln dem Fokus folgt. Die Beleuchtung der Probleme und die Aufklärung von falschen Informationen und Manipulationen sind dabei ebenfalls unverzichtbar. Nur zusammen ergibt alles einen Sinn.
Wenn auch Sie Kritik haben, schreiben Sie uns gern, denn nur durch den Austausch können wir Brücken der Verständigung bauen und gemeinsam lösungsorientiert die Zukunft der Menschheit und der Welt gestalten. Auch wenn oder gerade weil wir uns nicht immer einig sind. In dieser Erkenntnis liegt vielleicht der Schlüssel. Denn am Ende wollen wir doch alle das Gleiche: Eine menschengerechte und friedliche Gesellschaft im Einklang mit der Natur.
Danke, Richard Rüger.
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