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Mehr Brandt wagen

Mehr Brandt wagen

Die SPD verleugnet die größte Tat eines sozialdemokratischen Kanzlers: die erfolgreiche Ostpolitik — nun ist die Partei auch außenpolitisch völlig entkernt.

Neulich hat sich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil zu Wort gemeldet: Seine Partei habe in den letzten Jahrzehnten Fehler bei der Russland-Politik gemacht. „Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten haben wir oft das Trennende übersehen. Das war ein Fehler“, sagte er wörtlich. Man fragt sich, was Klingbeil eigentlich unter Kooperation und Annäherung versteht. Denn wer das Trennende im Auge behält, kann sich nicht annähern.

Außerdem seien die Länder nicht einander verpflichtet, erklärte der Sozialdemokrat. Und ein Wandel durch Annäherung sei gescheitert. Ja, man hätte diese Annäherung gar nicht erst beabsichtigen dürfen. Vor einigen Wochen jährte sich der Tod Willy Brandts zum dreißigsten Mal. Es ist besonders bitter, dass die Reste seiner Partei jetzt gewillt sind, sein Erbe auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

Brandts Erben

Die Sozialdemokratie hat in den letzten Dekaden etliche Fehler gemacht, ihre Basis verloren, sich immer wieder mit Angela Merkel gemein gemacht und danach gejammert, dass sie nicht mehr erreichen könne, weil sie durch die Union gehindert würde. Sozialpolitisch ist die SPD längst nicht mehr der Rede wert. Außenpolitisch konnte man immer wieder Kritik üben, etwa als der damalige Vorsitzende Sigmar Gabriel zum Lobbyisten des Freihandelsabkommens TTIP wurde oder der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Schoßhund der US-Administration gab.

Aber ein klein wenig gab es dann doch noch etwas, was man den Geist Willy Brandts nennen könnte: Man nähert sich seinen Nachbarn an — und stößt sie nicht vor den Kopf. Und insbesondere Russland sollte man einzubinden versuchen. So gut es geht. Denn klar ist auch: Eine Weltmacht lässt sich nicht steuern. Was aber geht: Im Kontakt bleiben, miteinander sprechen — und das über das Maß der Diplomatie hinaus.

Brandt und sein Staatssekretär Egon Bahr haben das Jahre zuvor vorgemacht. Sie haben sich diese Haltung gegen alle Widerstände hinweg bewahrt. Und diese Widerstände waren nun wirklich nicht mickrig. Politische Kontrahenten sowie weite Teile des Medienbetriebs machten Stimmung gegen eine Regierung, die vermeintlich mit dem Kommunismus Schäferstündchen hielt. Aber letztlich behielten die Sozialdemokraten recht. Man verbesserte zunächst die Lebensbedingungen von Familien, die durch Mauer und Eisernen Vorhang getrennt wurden — dann fast zwei Jahrzehnte später fiel die Mauer, Deutschland vereinte sich: Ohne den Wandel durch Annäherung wäre diese Geschichte anders verlaufen.

Natürlich ist das heutige Russland nicht mehr die Sowjetunion, obwohl man auch das in der Kakophonie der staatlich-medial orchestrierten Russophobie schon gelesen hat. Annäherung würde ja nicht per se bedeuten, dass Russland aus der Ukraine abzieht. Aber wenn man erstmal wieder miteinander spricht, kann man Einfluss zu nehmen versuchen. Klingbeil sagt ja aber gar, man hätte die Annäherung gar nicht auf diese Weise zulassen dürfen. So als hätte man gewusst, was kommt. Was wäre denn die Alternative gewesen?

Frieden gibt es nur mit einem inkludierten Russland

Nach Klingbeils „Analyse“ hätte Deutschland sich nicht dem Nachbarn im Osten Europas annähern dürfen. Besser wäre es gewesen, das Trennende zu sehen und sich zu distanzieren. Im Grunde sagt der Mann, dass es besser gewesen wäre, wenn man den Eisernen Vorhang im Kopf behalten hätte. Er sagt das so dahin, als hätte er den Fehler erkannt, dabei darf man aber spekulieren, dass ein solch abständiges Vorgehen der eigentliche Fehler gewesen wäre. Denn von einer Friedensordnung zu sprechen, die an den Grenzen eines europäischen Nachbarlandes zu enden hat: Das wäre nicht der richtige Weg gewesen, sondern eine Eskalation ganz ohne Not.

Die Wahrheit ist, dass noch viel mehr Annäherung besser gewesen wäre. Es ist müßig, auf die Absichten Wladimir Putins am Anfang des Jahrhunderts zu sprechen zu kommen. Einfach deshalb, weil das in den letzten Monaten so häufig erwähnt wurde. Sogar die NATO-Mitgliedschaft Russlands wurde kurz diskutiert. Womit die NATO sich überflüssig gemacht hätte, man neue Allianzen hätte schmieden können. Die Atlantiker wollten nicht. Was für eine Chance!

Nein, es geht beim Rückblick nicht darum, zu viel Nähe zu Russland zu attestieren. Es war vielleicht zu wenig.

Das ist natürlich Spekulation, aber was man relativ sicher sagen kann: Hätte man einfach schroff die Tür zugeschlagen, weil man das Trennende, wie Klingbeil sagt, in den Mittelpunkt hätte stellen müssen — das wäre einem Fehdehandschuh gleichgekommen. Welcher Mensch, der auch nur halbwegs bei Trost ist, wäre so verfahren?

Die wichtigeren unter den SPD-Vorsitzenden der letzten drei Jahrzehnte wussten, dass ein kontinentaler Frieden nur mit Russland möglich ist. Wer Europa als einen Ort sehen möchte, in dem es keine Angst, keine Bedrohung gibt, der muss darauf drängen, dass der Kontinent im Dialog bleibt. Das haben die, die jetzt offen sagen, sie wollen Russland ruinieren, noch immer nicht begriffen:

Dieser Krieg endet früher oder später und so oder so mit Verhandlungen.

Und nach diesem Krieg kann man Russland nicht einfach ächten. Gerade die Deutschen sollten das aus ihrer Historie kennen: Wer einen Staat ächtet, schafft keinen Frieden, sondern nur einen Waffenstillstand.

Sich für das Richtige entschuldigen: Das können nur Sozis

Der Grundgedanke der sozialdemokratischen Außenpolitik der letzten Jahrzehnte war ja richtig: Es ging darum, keine neuen Grenzen zu errichten, Wandel durch Handel und Annäherung zu ermöglichen. Und genau dieser Impetus wird jetzt von den Sozis als grober Fehler eingestuft, für den man sich entschuldigen müsse. Im Grunde sagen sie damit ja:

„Sorry, dass wir für ein friedliches Miteinander waren, dass wir die Eskalation vermieden haben. Verzeiht uns bitte, dass wir in Europa keine neue Konfrontation geschaffen haben.“

Diese Sozialdemokraten sind mit die komischste Spezies, die der deutsche Politbetrieb hervorgebracht hat. Jahrelang rechtfertigen sie ihr innen-, wirtschafts- und sozialpolitisches Versagen mit den kühnsten Ausflüchten, hielten Hartz IV als durchschlagende Reform hoch, und tun sich auch heute noch schwer damit, den von ihnen eingeleiteten Sozialabbau ins richtige Licht zu rücken. Da laviert man lieber herum, will den Fehlschlag kleinreden.

Aber da, wo sie nun wirklich wenig Fehler gemacht haben, insbesondere Gerhard Schröder, dieser Alleszermalmer der Sozialdemokratie: Da ist man plötzlich einsichtig und entschuldigt sich tausend Mal, gelobt Einsicht und Besserung zugleich und lässt durchschimmern, dass eine internationalistische Idee mit dem osteuropäischen Nachbarn nicht mehr zu machen sei.

Käme heute Willy Brandt zurück, so wie Jesus Christus in Dostojewskis „Großinquisitor“, würde er sodann mit seinen Sozialdemokraten hadern, weil sie die Annäherung verdammen, nicht einsehen wollen, dass Frieden gemacht werden muss und nicht einfach verlangt werden kann: Sie würden ihn wohl in ein tiefes Verlies sperren und ihm einen Prozess bereiten. Als PR-Masche ist der heutigen SPD der Name Brandts noch wertvoll. Seine Vorstellungen, seine Einsichten aber, die den ganzen Kontinent veränderten, mögen bitte für immer und ewig ruhen. Sie stören nur den Kurs einer Partei, die längst den Kurs verloren hat.


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