Westliche Entschlossenheit
Während russische Truppen immer weiter nach Westen vordringen, scheint nicht nur die ukrainische Armee unter der Artillerie Russlands zusammenzubrechen, sondern auch das NATO-Bündnis immer mehr von innen unter Druck zu kommen. Die Geschlossenheit, die noch bei der Münchner Sicherheitskonferenz als letzter „Silberschweif“ der Hoffnung erkannt worden war, scheint zu schwinden.
Anders als gedacht, hat Macrons Ankündigung nach Abschluss der Unterstützer-Konferenz in Paris, den Einsatz von NATO-Truppen nicht auszuschließen, eher zu weniger als zu mehr innerer Festigkeit geführt. Die trotzige Entschlossenheit von München hat nicht lange gehalten. Das zeigt sich besonders an der Weigerung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Mit einer für ihn seltenen Klarheit lehnte er diese Forderung ab: „Ich bin der Kanzler, und deshalb gilt das“ (1).
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Der Kanzler weiß warum, und auch die vier Offiziere, die vermutlich hinter dem Rücken der politischen Führung Pläne zur Bombardierung der Krimbrücke schmiedeten, wissen um die Gefahren des Taurus. Deshalb sollte ja auch die Öffentlichkeit nicht erfahren, wer hinter einem eventuellen Anschlag steckte. Sie wissen, dass dieses Gerät im Unterschied zu allen bisher gelieferten Waffen, Moskau erreichen kann und damit das Herz Russlands. Besonders die USA waren bisher fest entschlossen, den Ukrainern nichts zur Verfügung zu stellen, womit diese hätten Russland angreifen können.
Trotzdem gibt es Kräfte in Deutschland, die unbedingt den Taurus in die Ukraine bringen wollen. Dabei müssten sie den Unterschied zwischen ihm und den gelieferten Leopard-Panzern kennen, den sie verharmlosen. Glauben sie allen Ernstes, dass gerade sie, ihre Kinder und ihre Enkel verschont bleiben, wenn Russland auf die Bedrohung seiner Existenz atomar antwortet?
Denn dieser Unterschied in der Reichweite macht den Unterschied in der Reaktion Russlands. Oder sind sie sich so sicher, dass Russlands Warnungen nicht ernst genommen werden müssen?
Zu diesem Streit in der deutschen Politik gesellt sich auf europäischer und transatlantischer Ebene der Streit um die Entsendung von NATO-Soldaten. Macron hat ihn vom Zaun gebrochen und damit den Spaltpilz im Bündnis gesät. In Polen und Frankreich geht der Riss sogar durch die Regierungen.
Im NATO-Bündnis wird heftig um klare Linien gerungen in Streitfragen, die man selbst aufgeworfen hat, weil man die Aussichtslosigkeit der Lage nicht wahrhaben will.
Aber statt sich der Vernunft zu ergeben und, wie der Papst riet, die „weiße Flagge“ zu hissen, verschärft man die Zustände im eigenen Bündnis durch gefährliche Vorschläge, die keine Lösungen bringen, sondern nur weitere Probleme schaffen. Statt in Verhandlungen mit Russland einzutreten, versucht man mit einem letzten Aufgebot an Blut und Leben, das Unvermeidliche hinauszuschieben.
Während der politische Westen um Geschlossenheit ringt im Wirrwarr der unterschiedlichen gesellschaftlichen und nationalen Interessen, nimmt die russische Armee eine ukrainische Stellung nach der anderen ein. Gestützt auf eine gefestigte Gesellschaft erobern russische Soldaten eine Ortschaft nach der anderen, immer weiter Richtung Westen wie einst im Großen Vaterländischen Krieg.
Nationale Heimlichkeiten
Was der Westen jahrelang als Vorteil und Stärke seines gesellschaftlichen Systems ausgegeben hat, entwickelt sich unter Belastung immer mehr zum seinem Nachteil: Das ist die Bandbreite der zum Teil widersprüchlichen Interessen. Dieser Nachteil ist bisher nie offensichtlich geworden, weil der politische Westen in den vergangenen Jahrzehnten nie größeren Herausforderungen durch vergleichbare Gegner ausgesetzt gewesen war. Seine wirtschaftliche und militärische Überlegenheit waren nie wirklich ernsthaft in Frage gestellt worden.
Die NATO-Staaten haben sich bis zum Ukrainekrieg in ihren bisherigen wirtschaftlichen und militärischen Konflikten immer Ländern gegenübergesehen, die ihnen in jeder Hinsicht unterlegen waren.
Auch wenn die Einsätze in der islamischen Welt meist scheiterten, so haben sie in den Staaten der Expeditionsheere selbst wenig gesellschaftliche Verwerfungen hervorgerufen. Man zog sich wieder zurück, und damit war das Thema erledigt. Geblieben sind gewaltige Schuldenberge.
Nun aber, unter der Verwicklung in einen indirekten Krieg gegen Russland in der Ukraine und der wachsenden Konkurrenz der chinesischen Industrie und ihrer Produkte, behindern diese unterschiedlichen Interessen entschlossenes Handeln. Das gilt nicht nur innerhalb der westlichen Gesellschaften, sondern auch im Rahmen des transatlantischen Bündnisses selbst. Immer wieder müssen nationale Sonder-Interessen durch lange Diskussions- und Überzeugungsprozesse in Einklang gebracht werden, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen.
Dabei wird nicht immer mit offenen Karten gespielt, und die wahren Beweggründe für das Handeln der einzelnen Beteiligten werden oftmals nicht klar benannt.
So ist beispielsweise Macrons Handeln nicht nachvollziehbar — weder für die französische Öffentlichkeit noch für die Bündnispartner. Ist er sich der Wirkung seiner Vorschläge für Truppenentsendungen nicht bewusst oder will er nicht wahrhaben, dass seine Ideen das Bündnis in Unordnung bringen und dessen Schlagkraft dadurch beeinträchtigen?
Vielleicht treiben ihn sogar andere Motive an, die er der französischen wie auch der transatlantischen Öffentlichkeit nicht bekannt gibt. Vordergründig ging es ihm vielleicht wirklich um die Verbesserung der Unterstützung für die Ukraine und die Leistungssteigerung des Bündnisses gegenüber Russland. Dennoch scheinen aber nationale französische eine größere Rolle zu spielen als das übergeordnete Bündnis-Interesse oder gar das gemeinsame politische, der Ukraine zum Sieg über Russland zu verhelfen.
So hat beispielsweise seine lange aufrechterhaltene Forderung, Waffen und Munition nur im Rahmen der EU zu beschaffen, die Kampfkraft der Ukraine infolge des dadurch verursachten Munitionsmangels erheblich geschwächt. Diese Forderung diente hauptsächlich den Verkaufsinteressen der französischen Rüstungsindustrie, die „von großen Zuwächsen profitieren konnte“ (2) und mittlerweile zum zweitgrößten Waffenexporteur weltweit aufgestiegen ist.
Macrons Vergeltung
Anscheinend versucht der französische Präsident auf dem Rücken der Ukraine und vermutlich auch der Bündnispartner, Vorteile für sein eigenes Land herauszuholen und Sonderinteressen zu bedienen. Es ist nicht klar, was er bezweckt mit seinem diplomatischen Aktionismus. Denn „lediglich polnische, tschechische und baltische Politiker hatten positiv auf Macrons Anregung reagiert. Auch in Frankreich selbst stießen seine Äußerungen auf Kritik“ (3).
So hält beispielsweise der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu nichts von einem solchen Vorhaben und widerspricht dem Präsidenten — wie auch die französische Opposition. Macron jedoch sieht im Vorrücken der Front in Richtung Odessa oder Kiew ein konkretes Szenario für die Entsendung von Truppen. Zudem hat der Hinweis, „dass die französische Armee nicht über die Mittel verfüge, um ein militärisches Kräftemessen mit Russland einzugehen“ (4), bei ihm Empörung hinterlassen statt Einsicht.
Um für seine Truppenpläne zu werben, bereist Macron europäische Hauptstädte. Dabei haben sich besonders die großen Staaten der NATO wie die USA, Großbritannien und Deutschland eindeutig gegen seine Pläne für die Entsendung von Truppen in die Ukraine gewandt. Italiens Verteidigungsminister Guido Crosetto betonte, dass die Befürworter Polen und Frankreich nicht für die gesamte NATO sprechen. Und selbst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg steht den Plänen ablehnend gegenüber, wissend um die Zerreißprobe, die sie für das Bündnis bedeuten würden. Die isolierte Stellung des französischen Präsidenten im Bündnis ist offensichtlich, nur er selbst scheint sie nicht zu sehen oder sehen zu wollen. Immer weniger ist zu erklären, was ihn antreibt.
Einen Hinweis auf handfeste Interessen gibt es im Zusammenhang seines Treffens mit den Vertretern der französischen Parteien vom Donnerstag, dem 7. März 2024, wo er weiterhin auf seinen Plänen zur Entsendung von Truppen beharrte. Dort begründete er seine Haltung mit der Aggressivität Russlands und der Bedrohung, die von ihm ausgehe. „Als Signale für die russische Aggressivität wurden die stärker werdenden Cyberangriffe, die Attacken auf französische Interessen in Afrika und im Nahen Osten“ (5) genannt. Daher also scheint der Wind zu wehen.
Der französische Präsident ist der schlechte Verlierer, der es nicht ertragen kann, dass die Afrikaner nicht mehr nach der französischen Pfeife tanzen wollen und sich stattdessen lieber mit Russland einlassen.
Dabei geht es nicht nur um Prestige, sondern um handfeste Interessen. Denn immerhin haben sich in den letzten Jahren mehrere Staaten der Sahelzone mit ihren großen Vorkommen an Bodenschätzen aus der französischen Abhängigkeit befreit. Die französischen Atomkraftwerke haben von dort Uran zu Vorzugspreisen bezogen. Stattdessen weiteten dort Russland und China ihren Einfluss aus, und Frankreich muss sich nach neuen Lieferanten umschauen.
Nun sieht es so aus, als nutze Macron die Gelegenheit, auf dem Rücken der Ukrainer und der NATO-Verbündeten sich an Russland für diese Verluste in Afrika zu rächen. In der Sahelzone hatte Frankreich alleine gegenüber Russland keine Chance gehabt, da sich die dortigen Regierungen von Frankreich abgewendet hatten. Nun aber, mit der NATO im Rücken und mit den Ukrainern als Kanonenfutter sieht die Sache schon anders aus. Die Gelegenheit ist günstig, Russland im eigenen Hinterhof entgegenzutreten und dort auch wirtschaftliche Vorteile zu erringen — zum Beispiel durch Waffengeschäfte mit Armenien.
Macron zündelt an Russlands Südgrenzen, indem er ein bilaterales Verteidigungsabkommen mit der Republik Moldau schließt. Vordergründig will man „die Souveränität und Sicherheit des Landes stärken“ (6). Zudem soll Armenien nun von Frankreich beschützt werden, natürlich mit Waffen aus französischer Produktion, damit es sich von Russland lösen kann.
Es ist nicht klar, ob diese Initiativen mit Zustimmung oder gar auf Geheiß der NATO stattfinden. Aber fraglich ist, ob die Zusagen an Moldau und Armenien nicht eher das Bündnis weiter belasten, als dass sie eine Stärkung darstellen. Sie eröffnen zwar neue Fronten gegenüber Russland, schaffen aber auch neue Verpflichtungen. Dabei gelingt es dem politischen Westen kaum, die alten gegenüber der Ukraine zu erfüllen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 10. März 2024: Der Kampf der großen Egos
(2) FAZ vom 12. März 2024: Frankreich steigt zur Nummer Zwei der Waffenexporteure auf
(3) FAZ vom 10. März 2024: Ukraine lobt Macrons Gedankenspiele
(4) FAZ vom 10. März 2024: Ohne rote Linien gegen einen Feind, der keine Grenzen kennt.
(5) ebenda
(6) https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/frankreich-moldau-unterzeichnen-verteidigungsabkommen-39407688