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Das Tahiti-Projekt

Das Tahiti-Projekt

Die Zerstörung der Welt oder Leben im Ökoparadies? Begleiten Sie den Hamburger Spitzenjournalisten Cording auf seiner Reportagereise. Teil 1.

EMERGENCY!

24. Mai 2021: Die vier Männer hinter den schwarz getönten Scheiben des Lieferwagens, der im Schatten einer Wacholderhecke unweit der Küstenstraße parkte, hatten keinen Sinn für die landschaftliche Schönheit Bornholms. Sie würdigten die sanft geschwungenen Hügel mit den leuchtendgelben Rapsfeldern keines Blickes. Ihre Augen waren auf die Monitore gerichtet, wo die Bilder ihrer Überwachungskameras darüber Aufschluss gaben, was sich im Inneren des Fachwerkhauses tat, das am Ende des Hohlweges auf einem Fundament aus schwarzem Granit thronte.

In einer Stunde, also Punkt zweiundzwanzig Uhr, würden sich Professor Thorwald Rasmussen, seine Frau und die beiden Kinder schlafen legen. Dann gingen im Haus die Lichter aus. Das nervöse Geflacker aus dem Fernseher, das anschließend durchs Geäst der alten Eiche huschte, erstarb in der Regel wenige Minuten später.

Im Lieferwagen waren die Gespräche nach und nach verstummt. Die Art, wie die Männer ihren Pistolen die Schalldämpfer aufsetzten und sich die Gesichter schwärzten, verriet, dass sie nicht zum ersten Mal ausgezogen waren, um im Auftrage der „Firma“ zu töten. Die Akkuratesse, mit der dieser Wissenschaftler seinen Alltag gestaltete, machte den Job für das Spezialkommando diesmal zum Kinderspiel.

Die Monitore gaben nichts mehr her, lediglich im Flur oberhalb der Treppe brannte noch Licht. Der Professor und seine Frau hatten sich vor wenigen Minuten hingelegt, die Kinder schliefen nebenan. Außer dem monotonen Geräusch der Wellen, die am Strand über die Steine schwappten, war nichts zu hören. Bäume, Büsche und Blumen standen starr. Die Zeit schien eingeschlafen zu sein, kein Windhauch traute sich, sie zu wecken.

Die Entfernung bis zum Haus legte das Kommando im Schutze der Bäume zurück, die die Zufahrt säumten. Dann ging alles sehr schnell. Einer der Männer trat die Haustür ein, die anderen stürmten an ihm vorbei die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

Professor Thorwald Rasmussen gefror das Blut in den Adern. Er war kurz zuvor noch einmal ins Badezimmer zurückgekehrt, weil er vergessen hatte, seinen täglichen Thrombosehemmer einzunehmen, als er plötzlich einen lauten Knall vernahm. Seit seiner Flucht aus dem Geheimlabor in Boston hatte er in ständiger Angst gelebt, entdeckt zu werden, doch jetzt, da man ihn offensichtlich aufgespürt hatte, war er nicht vorbereitet. Seine Familie! Sie würden es nicht wagen, ihr etwas anzutun, sie waren seinetwegen da... Er öffnete das Fenster, quälte sich über den Sims und ließ sich aus drei Metern Höhe zu Boden fallen. Während er in den Schutz der Rhododendronhecke kroch, hämmerte es ihm durch den Kopf: Nicht die Familie! Nicht die Kinder!

Im Schlafzimmer über ihm eröffneten seine Häscher ein lautloses Sperrfeuer auf die Bettdecken, die unter den Einschlägen kurz aufhüpften, als hätten sie ein Eigenleben. Die Männer hörten erst auf, als zwei kleine Gestalten in Nachthemden im Türrahmen erschienen und sich verwundert die Augen rieben. Für einige Sekunden standen sich die Killer und die Kinder fassungslos gegenüber. Der Schütze, der schließlich das Feuer auf sie eröffnete, hastete als erster ins Freie.

Thorwald Rasmussen lag währenddessen zitternd unterm Blätterdach und betete. Was war mit seiner Frau und den Kindern? Warum war er weggelaufen? Er drückte seine Stirn ins feuchte Erdreich, als bäte er Gott um Verzeihung. Ich war nicht bei ihnen! Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Die halbe Nacht hockte er in seinem Versteck, unfähig, die Qualen seiner erwiesenen Feigheit zu ertragen. Er hatte Schmerzen im Bein, er hätte schreien können vor Schmerzen, aber irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Es war diese Stille im Haus, diese absolute Stille ...

Cording hielt beim Rasieren inne und starrte in den Spiegel. Der Anblick irritierte ihn. Das hatte nur bedingt mit seinen Haaren zu tun, aus denen die natürliche Färbung während der letzten Reportagereise auf wundersame Weise verdunstet war, auch nichts mit den Falten auf Stirn und Wangen, diesen veritablen Runen der Hoffnungslosigkeit. Ihn irritierte etwas anderes: sein Spiegelbild reagierte nicht! Die Augen sahen ihn unerbittlich und regungslos an. Schau hin, sagten sie: du bist ausgebrannt, stumpf, gefühllos. Eine arme Sau, die sich zu lange im Elend anderer gesuhlt hat. So etwas geschieht nicht ungestraft, so etwas fordert seinen Tribut...

Er tupfte sich den Rasierschaum vom Ohr. Du wirst 47, dachte er, was erwartest du? Im übrigen hatte er nicht gerade das hinter sich, was man eine friedvolle, von süßen Träumen durchwebte Nacht nennt. Das gesamte Elend der Welt war im Schlaf bei ihm vorstellig geworden. Ein endloser Treck schlurfender, zerlumpter Gestalten hatte sich an ihm vorbeigeschleppt, während er die Parade bei glühender Hitze auf einem rostigen Ölfass abnahm und artig salutierte. Aber niemand in dem Zug der Geknechteten hatte ihn auch nur eines Blickes gewürdigt, dabei gab es keinen Zeugen außer ihm.

Er schob die Rüschengardine beiseite und blickte hinaus auf die Mainstreet von Alderpoint, an deren Ende sich die alte Scheune befand, die schon im legendären „Redwood-Summer“ von 1990 als Pressezentrum gedient hatte. Dort ging es in diesen Tagen zu wie in einem Bienenstock. Fernseh- und Zeitungsreporter buhlten vergeblich um ein Interview mit Amerikas Umweltschutzikone Nummer eins, Judi Henson. Die zierliche, charismatische Frau wehrte die Wünsche der Medienmeute kategorisch ab. Sie verwies auf die Erklärungen, die „Earth First!“ zweimal täglich über das Geschehen am Kriegsschauplatz veröffentlichte. Dass Judi ihm gegenüber eine Ausnahme machte, zeigte Cording einmal mehr, welchen Stellenwert das EMERGENCY-Magazin inzwischen besaß, für das er seit vier Jahren arbeitete.

Es klopfte an der Zimmertür. Die brüchige Stimme der alten Dame, die Zimmermädchen und Pensionsleiterin in einem war, riss ihn aus seinen Gedanken. Judi Henson wartete in der Eingangshalle auf ihn. Also auf in den Krieg um Kaliforniens letzten Wald! Eine vergleichsweise harmlose Aufgabe, wenn er der Schrecken gedachte, die ihn zuletzt in den afrikanischen Dörfern entlang der Giftmülldeponien begleitet hatten, auf denen die europäische Entsorgungsmafia sich ihres chemischen und radioaktiven Drecks entledigte.

Judi schlenderte mit ihm die Dorfstraße hinunter in das lang gezogene Tal, in dem Tausende bemooster, mannshoher Baumstümpfe in Reih und Glied standen wie Grabmale auf einem Heldenfriedhof. Irgendwann blieb sie stehen und deutete auf die kahlen Hänge.

„All das hier war vor vierzig Jahren noch mit majestätischen Urwäldern bedeckt. Bis zu zweitausend Jahre alte Redwood-Riesen ragten über hundert Meter hoch in den Himmel. Zwischen Platt Mountain auf der einen und und Wool Mountain auf der anderen Seite lebten unzählige Vogelarten, Reptilien und Wildkatzen. In den Bächen tummelten sich Forellen und Lachse. Dort drüben rauschte ein Wasserfall in die Tiefe ...“

Sie ging in die Hocke und ließ eine handvoll staubiger Erde durch die Finger rieseln. Cording stand betreten daneben. Ein kalter Luftzug fuhr in die Niederung. Judi hakte sich bei ihm ein, als wollte sie sich stützen. „Wo sind die Pflanzen und Tiere?“, fragte sie mit brüchiger Stimme, „wie können wir es nur aushalten ohne sie?“

Am Himmel kämpfte der Halbmond mit dem Abendrot um die leuchtende Vorherrschaft. Cording fiel auf, dass er noch keine einzig Frage gestellt hatte. Es war einfach nicht die Situation dafür, er hatte Respekt vor der Gemütsverfassung dieser Frau.

Während sie das abgewrackte Sägewerk von Alderpoint passierten, erzählte ihm die Amerikanerin von dem erfolglosen Kampf gegen Kaliforniens Holzindustrie, dem sie fast ihr ganzes Leben gewidmet hatte. Die Medien sprachen 1990 vom „Eco-War“, vom Öko-Krieg. Damals hatten die Umweltaktivisten riesige Nägel in die Stämme der Sequoias getrieben, damit sich die Motorsägen daran die Zähne ausbissen. Nachdem sich die ersten Sägewerksarbeiter an den gespickten Mammutbäumen verletzt hatten, wurden Judi und ihre Mitstreiter in der Öffentlichkeit als Terroristen gebrandmarkt.

Was Judi Henson zu Cordings Überraschung nicht erwähnte, war das Attentat, das auf sie verübt worden war. Damals war in Oakland eine Autobombe hoch gegangen und hatte die Gewerkschafterin und den „Earth First!“-Sprecher Darryl Sloane schwer verletzt. Polizei und FBI hatten behauptet, es habe sich um einen Unfall gehandelt, die Bombe sei beim Transport zu dem Ort eines geplanten Terroranschlags explodiert. Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass die Lumber-Companies hinter dem Attentat standen.

Amerikas Holzindustrie kam die Auseinandersetzung mit den Umweltschützern gerade recht. „Wenn Sie Amerika ruinieren wollen, unterstützen Sie eine Umweltschutzgruppe!“ hieß es in einer von ihr finanzierten landesweiten Anzeigenkampagne. Die Redwoods, so war zu lesen, seien keine „Kathedralen Gottes“, sondern bestes Bauholz, das den amerikanischen Lebensstil erst ermöglichte.

„In den Vorstandsetagen der Holdings redeten sie nur noch von der Baumernte“, sagte Judi um Fassung ringend, „als würde es sich um den Ertrag eines Maisfeldes handeln. Spätestens 1985 hätte allen Menschen bewusst werden müssen, dass Amerika schon sehr bald ein kahl geschorenes Land sein würde. Damals übernahm Maxxam Inc. die Pacific Lumber Company. Maxxam tätigte den Kauf mit Hilfe von hoch verzinsten, drittklassigen Obligationen, den sogenannten Junk Bonds und wies Pacific Lumber umgehend an, die Holzernte zu verdreifachen, um die Schulden zu tilgen. Jetzt ging es nicht nur den verbliebenen Altforsten an den Kragen, sondern auch dem erst vor fünfzig Jahren gepflanzten, gerade mal beindicken Nachwuchs.“

Seine Begleiterin drängte zur Umkehr, sie hatte keine Lust, noch weiter in die schummrige Ödnis zu dringen. Sie führte Cording in ein abseits gelegenes Blockhaus, wo ein Mann am Kamin saß und ins Feuer starrte. Er hatte eine Gitarre auf dem Schoß und hielt das Griffbrett umklammert, als seien ihm beim Spielen die Akkorde abhanden gekommen.

Cording betrachtete das Poster an der Wand, welches ihm schon im Pressezentrum aufgefallen war. „Auf dem Holzweg“ lautete der Titel. Unter einem strahlend blauen Himmel schleiften fünf schwer bewaffnete Polizisten einen nackten Demonstranten davon, der mit weit geöffnetem Mund einen Schrei ausstieß, den man bis nach Alaska gehört haben musste. Im Hintergrund wurde eine frisch geerntete Fuhre Redwoods abtransportiert. Harz perlte aus den Schnittflächen der Stämme. Die Tropfen funkelten wie Diamanten in der Sonne. Seltsam, dachte Cording, wie es die Natur versteht, selbst die grausamsten Momente ästhetisch zu veredeln ...

„Das dünne Bürschchen auf dem Poster bin ich“, hörte er den Gitarrenspieler sagen. „Die sind nicht gerade zimperlich mit uns umgegangen. Aber das ist nichts gegen das, was uns morgen erwartet. Tschuldigung, hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ed. Ed Denson“.

Er reichte Cording die Hand. „Ich habe Ihre Reportage über die staatlichen Babyfänger in China gelesen. Kompliment. Diese Art von Journalismus gibt es nicht mehr in Amerika.“

Cording waren derartige Schmeicheleien unangenehm.

„Wie viele Leute haben Sie am Park auf die Beine gebracht?“ fragte er, um das Thema zu wechseln.

Ed blickte Judi fragend an: „Hunderttausend? Was meinst du?“

„Mehr,“ antwortete sie. „Allein im Hoopa Valley zelten über 80.000 Leute.“

Cording wusste, dass die Abholzung der letzten Redwood-Bestände die amerikanischen Umweltschützer mehr erregte als jedes andere Thema zuvor. Er fragte sich nur warum. 1990 hatten gerade mal 5.000 Aktivisten gegen den Kahlschlag aufbegehrt, obwohl damals immerhin noch zehn Prozent der ursprünglichen Wälder standen. Jetzt verschwand mit dem Redwood National Park eine letzte, kaum messbare Größe von der Landkarte, und die Menschen setzten sich aus allen Bundesstaaten in Bewegung.

An der Grenze zwischen Kalifornien und Oregon tobte ein Glaubenskrieg zwischen Zerstörern und Bewahrern, obwohl es kaum noch etwas zu zerstören, geschweige denn zu bewahren gab. 40.000 Nationalgardisten hatte die Bundesregierung in dieser absurden Auseinandersetzung gegen die Ökokrieger in Stellung gebracht. Zwischen den beiden Städtchen Klamath im Norden und Trinidad im Süden herrschte Ausnahmezustand. „Earth First!“ sprach von 23 Aktivisten, die bislang im Wald gefallen waren. Cording war sich also darüber im Klaren, in welche Hölle ihn Ed Denson führen würde.

Um zwei Uhr morgens brachen sie Richtung Eureka auf. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schaltete Ed die Schweinwerfer aus, die Straße glänzte im Mondlicht hell genug, um sich zurecht zu finden. Sie passierten das Städtchen Loleta, das wie ausgestorben dalag. Die Fenster der Häuser waren verdunkelt wie im Krieg.

Ed zog es vor, Eureka zu umfahren. Das Risiko, in eine Straßensperre zu geraten, war ihm zu groß. Der Pickup quälte sich über die schmalen, unbefestigten Schotterpisten ins blanke, kalt ausgeleuchtete Gebirge. Cording hielt das Armaturenbrett so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß wurden. Er war nicht schwindelfrei. Eigentlich war einer wie er gar nicht reisefähig. Ein Wunder, dass er es trotz seiner Tunnel- und Brückenphobie, trotz seiner Höhenangst bisher immer wieder geschafft hatte, heil nach Hause zurückzukehren.

Ed Denson schien von seiner Qual nichts zu bemerken, er suchte im Radio nach guter Musik. Der Empfang war erheblich gestört, was Cording eine weitere, kaum zu ertragende Vorstellung davon gab, wie hoch sie inzwischen geklettert waren. Endlich hatten sie den Scheitelpunkt des Gebirges überquert, ab da ging es nur noch bergab. Das war der Moment, in dem sich die Verkrampfung löste, in dem er vor Erleichterung zu plappern begann wie ein Wasserfall. Aus dem euphorischen Redefluss entspann sich eine Unterhaltung, die die nächtliche Fahrt ein wenig unterhaltsamer gestaltete und ihnen beiden half, die Anspannung wegen der bevorstehenden Aktion kurzzeitig zu vergessen.

„Es ist das erste Mal, dass sich amerikanische Ureinwohner offen auf die Seite der Umweltschützer geschlagen haben“, bemerkte Ed stolz. „Sie stellen uns ihr Land als Basiscamp zur Verfügung. Die Regierung wird es nicht wagen, Soldaten ins Reservat zu schicken.“

Bei Willow Creek erreichten sie den Highway 96, dem sie die verbliebenen zwölf Meilen nach Hoopa folgten. Die Erschütterungen, die ihnen die letzten Stunden durch Mark und Bein gegangen waren, hatten endlich ein Ende.

„Callenbach hatte es kommen sehen“, sagte Ed, „er hatte prophezeit, dass wir es in unserer Gesellschaft mit völlig neuen Allianzen zu tun bekommen werden, dass der Umweltschutz seine Verbündeten vor allem bei den Ureinwohnern, den Religionsgemeinschaften, unter Farbigen und Gewerkschaftern finden würde. Er hatte auch die Eskalation der Gewalt vorausgesehen -- als logische Folge eines nicht mehr aufrecht zu erhaltenden Lebensstils“.

„Callenbach?“ unterbrach Cording.

Der Amerikaner blickte ihn ungläubig an. „Ernest Callenbach, Autor von´Ökotopia´. Nie von ihm gehört?“

„Tut mir leid, nein.“

„Der Mann hat schon vor fünfzig Jahren für eine internationale ökologische Bestandsaufnahme plädiert. Er appellierte an die großen Konzerne, sich von innen heraus umzustrukturieren und sich als in die Natur eingebettete Unternehmen zu verstehen. Callenbach war der Ansicht, dass die Menschheit nicht zur industriellen Produktion bestimmt sei, sondern dazu, sich einen bescheidenen Platz im ausgewogenen Gewebe des organischen Lebens zu suchen. Das würde zwar einen gigantischen Konsumverzicht bedeuten, aber zumindest ihr Überleben garantieren.“

Cording fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Der Optimismus solcher Gutmenschen wie Ed Denson ging ihm auf den Geist. Jede seiner Reportagereisen bestätigte ihm auf fatale Weise, dass das Urteil für die Menschheit längst gesprochen war: lebenslänglich Treibhaus.

In den einst gemäßigten Klimazonen der Erde tobten Tropenstürme von solcher Wucht, dass die Rückversicherer ihre milliardenschweren Finanzpolster aufgezehrt hatten und keine Policen mehr ausstellten. Hinzu kam, dass sich die Unfälle aus der aufgerüsteten Atomindustrie aneinander reihten wie Perlen auf einer Kette. In Europa und den USA registrierte man die Rückkehr von Seuchen, die längst besiegt schienen.

Die sintflutartigen Sommerregen in England führten regelmäßig zu Cholera- und Typhusepidemien, die ebenso regelmäßig auf den Rest des Kontinents übergriffen. Auch in Asien und Südamerika waren ganze Regionen durch die extreme Verschmutzung des Trinkwassers unbewohnbar geworden. Hungersnöte und Aids hatten auf dem afrikanischen Kontinent für verheerende Zustände gesorgt. Die Gesundheitssysteme funktionierten nicht mehr, nirgendwo auf der Welt.

Gigantische Finanzströme flossen unkontrollierbar um den Globus, weil sich die Börsen in Tokio, London und New York beständig neuer Virenattacken zu erwehren hatten. Die Genmanipulation an Tieren und Pflanzen war längst aus dem Ruder gelaufen und produzierte eine Monsterspezies nach der anderen.

Nach einer jüngsten UN-Studie glichen die leer gefischten Weltmeere riesigen Giftmülldeponien und in den aufgeblähten Megacitys rund um den Globus herrschte das pure Chaos.

Cording hätte das Horrorszenario beliebig fortschreiben können. Alles was er sah, war auf Zerstörung ausgerichtet. Anzeichen dafür, dass die Menschheit zur Besinnung kam, konnte er nicht entdecken. Vor diesem Hintergrund mutete jede soziale, religiöse oder wie auch immer geartete Auseinandersetzung lächerlich an. Heute spielten ganz andere Dinge eine Rolle: Verteilungskämpfe um die letzten Ressourcen, verbunden mit einem unvorstellbaren weltweiten Elend. Diese Gewissheit setzte ihn außerstande, den politischen Debatten zum Umweltschutz noch irgendeinen Reiz abzugewinnen, solange sie nicht die Bereitschaft zur Radikalität erkennen ließen.

Er wandte sich erneut an Ed.

„Wann ist Callenbachs Roman erschienen?“ fragte er.

„1975“.

„Und? Hat sich seitdem irgend etwas in die gewünschte Richtung bewegt?“

Er wunderte sich selbst über den scharfen Ton in seiner Stimme. Ed Denson war ein liebenswerter Mensch, er hatte es nicht verdient, dass man ihn auf diese Weise anging. Also zwang sich Cording zur Mäßigung.

„Um die Welt noch vor dem Kollaps zu retten“, fügte er etwas versöhnlicher hinzu, „müsste augenblicklich eine Weltregierung ausgerufen werden, die über genügend Rückendeckung und militärische Präsenz verfügte, um ihr drastisches Schutzprogramm durchsetzen zu können. Dazu müssten die Interessen des Kapitals gebrochen und die sozialen und militärischen Konflikte auf der Erde sofort befriedet werden. Die großen Weltreligionen müssten unter einen Hut gebracht werden, man müsste die Erdbevölkerung auf eine erträgliche Zahl begrenzen und die Menschen dazu zwingen, den Raubbau an der Restnatur sofort einzustellen.“

Er hatte sich erneut in Rage geredet. „Hältst du das vielleicht für möglich, Ed? Ich nicht. Die Geschichte ist längst geschrieben, glaub mir ...“

Über dem Salmon Mountain stieg die Sonne auf und überflutete die schlafende Zeltstadt im Valley mit einem leuchtenden Rot. Mehr Frieden ging nicht auf diesem nordkalifornischen Kriegsschauplatz, über dem sich die Vision von Ökotopia verflüchtigen sollte, wie ein laues Lüftchen vor dem Sturm... Cording konnte ihn förmlich riechen, diesen Sturm. Aber davon sagte er Ed nichts, der ausgestiegen war, um die bewaffneten Straßenposten von „Earth First!“ in die Arme zu schließen.


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