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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Der Krieg zwar gilt zwar als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln — alternativlos ist er aber nicht. Teil 1 von 2.

„,Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wäre das ein Krieg für die Freiheit, dann würde ich für ihn Verständnis haben und würde der erste sein, der in den Kriegsdienst träte; aber den Engländern und Österreichern gegen den größten Mann der Welt beizustehen … das ist nicht schön.‘

Fürst Andrej zuckte zu Pierres kindlichen Reden nur die Achseln. Er machte ein Gesicht, welches besagte, dass man auf solche Dummheiten eigentlich nicht antworten könne; und wirklich war es schwer, auf diese naive Äußerung etwas anderes zu erwidern als das, was Fürst Andrej zur Antwort gab: ,Wenn alle Menschen nur nach Maßgabe ihrer Überzeugungen Krieg führten, so würde es keinen Krieg geben‘, sagte er.

,Das wäre ja aber wunderschön‘, erwiderte Pierre. Fürst Andrej lächelte. ,Wunderschön wäre es vielleicht; aber dahin wird es niemals kommen.‘

,Nun, warum ziehen Sie denn in den Krieg?‘, fragte Pierre.

,Warum ich in den Krieg ziehe? Das weiß ich nicht. Ich muss eben. Außerdem ziehe ich in den Krieg …‘ Er stockte. ,Ich ziehe in den Krieg, weil das Leben, das ich hier führe, nicht nach meinem Geschmack ist.‘“

(Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, Band I)

Dass Tolstoi und Dostojewski, der Einfachheit halber Turgenew, Puschkin oder Tschechow gleich mit, die Saat für den Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine legten, mögen der aus der Westukraine stammende Ultranationalist, Bandera-Verehrer und frühere Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, und seine Brüder im Geiste behaupten.

Nach der gleichen Logik könnte man Goethe, Heine oder Hoffmann von Fallersleben für die zwei von Deutschland angezettelten Weltkriege verantwortlich machen.

In meinem ersten Manova-Artikel habe ich von meiner Freundin Doro geschrieben. Nach der Wende musste sich Doro nicht nur eine neue Arbeit, sondern gleich einen neuen Beruf suchen. Doro war beim Militär. Da wäre sie 1990 grundsätzlich gern geblieben. Als Mann hätte sie versuchen können, zu den letztlich 11.000 übernommenen ehemaligen Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee zu gehören, als Frau nicht. Bis sich die Bundeswehr für Frauen vollständig öffnete, mussten noch mehr als zehn Jahre vergehen. Längst hatte Doro einen anderen Weg eingeschlagen. Längst hatte sie mit dem Militär überhaupt abgeschlossen.

Aber was trieb jemanden, der ganz gerne Sport studiert hätte, schon einen Teil der Aufnahmeprüfung an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport bestanden hatte, am Ende zum Militär? Was trieb ausgerechnet eine junge Frau zum Militär?

Dem Sozialismus mit der Waffe in der Hand zum Sieg zu verhelfen, war es gewiss nicht. Wohl eher, um sich und anderen irgendwas beweisen zu wollen. Aber abgesehen davon, dass Doro auf gar keinen Fall Sportlehrerin, sondern Trainerin werden wollte, und an diese in der DDR sehr hohe Ansprüche gestellt wurden, abgesehen davon, dass die Verdienstaussichten erheblich besser als nach einem Sportstudium waren, galt der Beruf während des Kalten Krieges als krisensicher. Vorbilder in der Familie gab es einige. Solange es Wehrpflichtige gab, solange die Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West bestand, musste es auch Berufssoldaten geben. Das war ihr Verständnis damals. Heute gibt es keine Systemauseinandersetzung mehr, keinen Kalten Krieg, keine Wehrpflicht, und Russland allein ist der neue „Ostblock“ (im DDR-Sprachgebrauch „Warschauer Vertrag“).

Gerade deshalb käme Doro heute im Traum nicht mehr darauf, einen solchen Beruf zu ergreifen. Vieles von dem, was vor vierzig Jahren plausibel schien, war auch plausibel. Nichts von dem ist es heute noch. Für Doro, für mich, jedoch nicht für Robert Habeck.

Beim einstigen Kriegsdienstverweigerer ist die Erleuchtung den umgekehrten Weg gegangen, wie er erst jüngst im SPIEGEL-Interview wieder wissen ließ. Er würde heute tapfer dienen. Leider musste er zuletzt Deutschlands Wirtschaft ruinieren.

Erinnern wir uns — zumindest an das, was wir im Geschichtsunterricht lernten. Keiner kann sagen: „Das wusste ich nicht.“

1618 löste der zweite Prager Fenstersturz, eine Auflehnung der protestantischen böhmischen Stände gegen die katholische Obrigkeit, dreißig Jahre Krieg in Europa aus. In Böhmen und Mähren war bis etwa 1860 die Mehrheit der Bevölkerung deutsch. Es war ein Krieg, in dem es erst um Religionsfreiheit, sehr bald um die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (HRR) und letztlich um territorialen Besitz über seine Grenzen hinaus ging. Dreißig Jahre Verwüstung, Raub, Vertreibung. Dreißig Jahre, in denen zur Finanzierung des Krieges wechselnde Herrscher den letzten Tropfen aus den jeweiligen Untertanen herausquetschten. Dreißig Jahre, die, man weiß es nicht genau, zwischen drei und neun Millionen Todesopfer forderten.

Wenn es sechs Millionen waren, die Mitte, heißt das nichts anderes, als dass jeder dritte Einwohner im HRR sein Leben verlor. Sein Ende fand der Dreißigjährige Krieg im Frieden von Münster sowie im Westfälischen Frieden. Für die einen gab es Hinzugewinne, für die anderen Verluste. Die Niederlande schieden nun auch de jure aus dem Reich aus, die Schweiz ebenso. Dreißig Jahre Bruderkrieg, beendet durch Kompromisse, durch territoriale Zugeständnisse.

Nicht mal hundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden, der 1648 zur Neuordnung im HRR führte, kam es zum 1. Schlesischen Krieg. Ein junger, erst 22 Jahre alter Monarch, den wir heute als „den Großen“ verehren, bekam es in den Kopf. Am 11. Dezember 1740 stellte Friedrich der II. von Preußen Maria Theresia ein Ultimatum zur Abtretung Schlesiens. Nur fünf Tage später ließ er 27.000 Mann in Schlesien einmarschieren. Nach zwei Jahren Bruderkrieg kam es zum Frieden von Breslau. Preußen, der Aggressor, bekam Schlesien zugesprochen. Österreich mag im Recht gewesen sein, am Kompromiss kam es nicht vorbei.

Dem ersten folgten zwei weitere Schlesische Kriege. Der dritte, uns auch bekannt als Siebenjähriger Krieg von 1756 bis 1763, war faktisch der erste Weltkrieg. Alle Großmächte waren in ihn involviert. Ausgefochten wurde er in nahezu ganz Europa, in Nordamerika und der Karibik, in Indien und auf den Philippinen sowie in Afrika. Allein in Europa forderte er mehr als eine Million Todesopfer — und das mit den Waffen der damaligen Zeit. Im HRR war er vor allem eines: ein Bruderkrieg. Beendet wurde auch er durch Kompromisse, ließ aber Preußen endgültig zur Großmacht aufsteigen.

Napoleon konnte mehr als zwei Jahrzehnte lang Europa mit Krieg überziehen, weil er geschickt im Schmieden von Allianzen war, in denen immer wieder auch Deutsche gegen Deutsche kämpften. Die größte von ihnen, inklusive Preußen, Österreich, Sachsen und Italien, führte ihn 1812 bis Moskau. Gier frisst Hirn. Besiegen konnte Napoleon Russland nicht, zumal es anderswo auch brannte. Synonym für den Ausgang: Waterloo.

1815 kam es auf dem Wiener Kongress zur umfassendsten territorialen Neuordnung Europas einschließlich der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

1864 erklärten Preußen und Österreich Dänemark den Krieg. Neun Monate später musste Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an die Aggressoren abtreten.

Eben noch gemeinsam gegen Dänemark gezogen, ging es nur gut anderthalb Jahre später, im Deutschen Krieg von 1866, wieder einmal um die Vorherrschaft in Deutschland: Preußen und Verbündete gegen Österreich und Verbündete. Und wieder einmal war Preußen der Aggressor. Auch der Ausgang ist bekannt: Österreich verlor, Preußen wurde endgültig der Hegemon unter den deutschen Ländern. Wieder ein Bruderkrieg, wieder durch Kompromisse der Überfallenen beendet.

Vier Jahre später erklärte Frankreich Preußen den Krieg. Der Deutsch-Französische Krieg endete mit der Niederlage Frankreichs und ließ eine „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich entstehen. Hier musste der Aggressor Kompromisse schließen. „Die Wacht am Rhein“ wurde Jahre zuvor, gewissermaßen vorsorglich, gedichtet, die Germania auf dem Niederwalddenkmal als Zeichen des Sieges errichtet. Bis heute blickt sie zum einstigen Erbfeind.

Nun war Preußen nicht nur der Hegemon im geeinten Deutschen Reich, selbiges war auch zum Hegemonen in Europa geworden. Wen sollte angesichts dessen wundern, dass ausgerechnet ein Deutscher, ein Preuße noch dazu, Carl von Clausewitz, mit „Vom Kriege“ die bedeutendste militärtheoretische Abhandlung verfasste und zur Feststellung gelang: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Was sich als zwangsläufig liest, war es für Clausewitz jedoch keineswegs. Für ihn hatte die Politik den Vorrang, was heißt: Diplomatie vor Krieg.

In den 1870ern waren wir mit unseren österreichischen Brüdern und Schwestern längst wieder gut. Deshalb hatten wir 1914 wohl gar keine Wahl. Nach dem Attentat von Sarajevo mussten wir ihnen beistehen, brachen zusammen einen Krieg vom Zaun, der als Erster Weltkrieg in die Geschichtsbücher einging und in vier Jahren und drei Monaten fast 9,5 Millionen Soldaten und mehr als 4,5 Millionen Zivilisten das Leben kostete.

„Jeder Schuß — ein Ruß‘! Jeder Stoß — ein Franzos‘!“, war die Devise.

Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg stellte fest: „Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur.“ Nach dem Krieg musste er nur ein Päuschen bis 1925 einlegen, durfte als Reichspräsident dafür 1933 Hitler zum Reichskanzler ernennen.

Hitler … der war ja überhaupt nicht schuld. Der Bolschewismus bedrohte schließlich die Welt. Deshalb hatten wir auch 1939 sicher keine Wahl, denn wir mussten die Volksdeutschen in Polen schützen und einem Überfall des 35 Millionen Einwohner zählenden Polens auf das fast 80 Millionen zählende Deutschland inklusive „Ostmark“ und „Sudetengau“ zuvorkommen.

So zumindest der Vorwand.

„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.“

Was Hitler am 1. September 1939 vor dem Deutschen Reichstag verkündete, löste den Zweiten Weltkrieg aus. Bolschewisten hat er, wen wundert’s, in Polen und auch an der Westfront in Frankreich keine gefunden, weshalb er sie ab Juni 1941 in der Sowjetunion suchte. Zur Bilanz des Krieges gehören nicht nur die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, sondern auch etwa 65 Millionen Todesopfer, allein in den von Deutschland überfallenen Ländern mehr als 38 Millionen, davon über 22 Millionen Zivilisten. Und weil es auf ein paar Millionen Tote mehr oder weniger eh nicht mehr ankam, nutzten die Nazis gleich noch die Gelegenheit, die Juden auszulöschen. Die Schoa kostete etwa 6 Millionen europäischen Juden, zwei Drittel von allen, das Leben. Der Krieg Russlands in der Ukraine fordert nach fast drei Jahren etwa 15.000 zivile Todesopfer, auf sechs Jahre hochgerechnet also ungefähr 30.000.

Eines ist Russlands Krieg also ganz sicher nicht: ein Krieg zur Vernichtung des ukrainischen Volkes. Die „Koalition der Willigen“ hatte im 2. Irakkrieg ein Mehrfaches an zivilen Todesopfern zu verantworten, die „sich selbst verteidigenden“ Israelis bereits innerhalb weniger Monate.

Kein Toter ist zu rechtfertigen, nicht ein einziger, nirgendwo. Für 25.000 zivile Todesopfer haben anglo-amerikanische Bomberverbände bei der Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 1945, also vor ziemlich genau 80 Jahren, nicht mal 24 Stunden gebraucht. Für etwa 150.000 in Hiroshima und Nagasaki sofort Sterbende genügten den Amerikanern ein halbes Jahr später nur noch zwei einzelne Atombomben. Diese Menschenfreunde sind unsere wichtigsten Verbündeten, meine nicht. In Anbetracht dessen ist die Berichterstattung aus der Ukraine sowie deren „Würdigung“ durch unsere Politiker und Mainstreammedien an Doppelmoral nicht zu übertreffen.

Welche Ausmaße diese Doppelmoral inzwischen hat, ließ sich am 27. Januar 2024 erleben. An dem Tag jährte sich die Befreiung Leningrads von 28 Monaten deutscher Blockade zum 80. Mal. Den Mainstreammedien war das eine Randnotiz wert. Geschätzte 1,1 Millionen Zivilisten verloren ihr Leben. Man glaubt, über das Ereignis und diese Zahl hinweggehen zu können, allein, weil Russland Krieg in der Ukraine führt. Es sei daran erinnert: An diesem Kriegsverbrechen der Wehrmacht war auch der Wehrmachtsoffizier und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt beteiligt. Zur Rechenschaft wurde keiner gezogen. Das war Befehlsnotstand, selbst bei Offizieren. Befehlsnotstand lässt man bei damals 19-jährigen KZ-Sekretärinnen nicht gelten.

Die ostdeutsche Satirezeitschrift „Eulenspiegel“ titelte 1998: „Wer Schröder wählt, wählt den Krieg“. Kurz darauf war es so weit. Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler und ein grüner Außenminister machten 1999 NATO-Bombardements auf Serbien möglich. Warum? Serbien weigerte sich, die Sezession seiner Provinz Kosovo und Metochien anzuerkennen. Was Wunder, schließlich liegt im Amselfeld (Kosovo Polje) der Gründungsmythos der serbischen Nation. Eigenartig, dass die Kosovo-Albaner sich bis heute zur Bezeichnung ihres Staates der in den slawischen Sprachen von Polen bis Serbien gleich heißenden Amsel bedienen.

Wurde Kiew von der NATO bombardiert, als die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ihre Unabhängigkeit erklärten und sich die ukrainische Regierung weigerte, diese Unabhängigkeit anzuerkennen? Wurde Kiew von der NATO bombardiert oder von der EU mit Sanktionen belegt, als die ukrainische Regierung ab 2014 im Rahmen einer „Antiterroroperation“ die abtrünnigen Gebiete in Kriegsgebiete verwandelte? Von Doppelmoral reden wir nicht. Sie ist uns schließlich völlig unbekannt.

Aber wir wissen, dass jeder Schlag, jede Sanktion, jeder Regime Change gegen einen beziehungsweise in einem Staat, der im Verdacht steht, mit Moskau zu sympathisieren, nur ein Ziel hat: Russland zu schwächen und zu destabilisieren. Weder der Irak noch Libyen kommen seither zur Ruhe, sind in Bürgerkriege verwickelt, in denen sich fanatische Männer profilieren, Frauen und Kinder am meisten leiden. Der Regime Change in der Ukraine hat einen seit zehn Jahren andauernden Bürgerkrieg in der Ostukraine ausgelöst. Der Regime Change in Syrien ist auch nichts anderes als das Ergebnis jahrelangen Bürgerkriegs, in dem islamistische Milizen von den USA gegen die syrische Regierung unterstützt wurden. Wer nun glaubt, dass ein Islamistenführer vom Saulus zum Paulus wird, glaubt auch, dass der Klapperstorch die Kinder bringt.

Apropos Islamistenführer. Jahrelang haben wir unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt. Ich bin im September 1986 auf dem Weg von Karatschi nach Taschkent mal drüber geflogen, wenige Tage nachdem in Karatschi die Pan Am 73 mit 379 Menschen an Bord entführt wurde und es zwanzig Tote gab. Die Stimmung am Flughafen von Karatschi war entsprechend gereizt, die Leibesvisitationen unter den Augen von Männern mit Maschinenpistolen eine Grenzerfahrung. Gewiss der richtige Ort für unsere Sicherheit …

Nun verteidigt die Ukraine unsere Freiheit, und ihr amtierender Präsident möchte nichts lieber als den NATO-Bündnisfall herbeiführen. Die Folgen wollen sich Menschen, die ihre Sinne beisammenhaben, in keinem Fall vorstellen.

Im Gespräch zwischen Pierre und dem Fürsten Andrej wird der russische Eintritt in den Krieg als das bezeichnet, was wir heute einen Stellvertreterkrieg nennen. Für das Verhalten des Fürsten Andrej gibt es im Deutschen ein Sprichwort: „Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen.“

Esel wie den Fürsten Andrej haben wir in unserem Land zurzeit viele. Manche von ihnen haben viel, zu viel Verantwortung. Und noch viel mehr gehen den Bellizisten auf den Leim.

In Potsdam wurde gerade die Garnisonkirche wiederaufgebaut, mit ihr offensichtlich der „Geist von Potsdam“. Das passt in eine Zeit, in der „Nie wieder Krieg!“ zur Phrase verkommen ist.

Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass das Russische Reich, in seiner größten Ausdehnung von der oberschlesischen Grenze bis zum Yukon reichend, entstand wie der Anschluss Österreichs 1938. Ich bin aber auch nicht so naiv, zu glauben, dass ein Land mit 144 Millionen Einwohnern einen Krieg mit der NATO, 930 Millionen Einwohner zählend, beginnen will. Ich bin ebenfalls nicht so naiv, zu glauben, dass ein Land ein Militärbündnis überfallen wird, dessen Rüstungsausgaben mehr als zehnmal so hoch sind, Jahr für Jahr für Jahr.

Die Bellizisten in der Politik und die Nachplappernden in den Mainstreammedien jedoch halten uns für so naiv, verkaufen uns für dumm und sind dabei offensichtlich sogar erfolgreich. Wie sonst könnten die Zustimmungswerte zur NATO-Politik — vor allem im Westen des Landes — so hoch sein?

Wie sonst könnten 65 Prozent der Bevölkerung Angst vor einem Überfall Russlands auf uns haben (1)? Wie sonst könnte der Kriegsminister monatelang in Folge der „beliebteste“ deutsche Politiker sein? Wie sonst ist zu erklären, dass von einer Friedensbewegung in Deutschland weit und breit nichts zu sehen ist, obwohl es nicht allein oder vordergründig um eine imaginäre Kriegsgefahr durch Russland geht, sondern um die „neue Nachrüstung“ durch Tomahawk-Marschflugkörper und ballistische Hyperschallraketen vom Typ „Dark Eagle“ mit 3.000 Kilometer Reichweite, die kein anderer NATO-Partner in Europa haben will und uns gerade deswegen zu einem bevorzugten Ziel russischer Raketenschläge machen könnte.

Zurzeit meldet man nahezu täglich, dass die russische Rüstungsproduktion „auf Hochtouren“ läuft. Genauso gut könnte man melden, dass die Rüstungsindustrie in Bhutan auf Hochtouren läuft. Wer weniger als ein Zehntel des Budgets hat, hat als Ergebnis der „Hochtouren“ deshalb auch nur weniger als ein Zehntel. Alles andere wäre ein betriebswirtschaftliches Wunder. Aber je bedrohlicher der Feind dargestellt wird, desto leichter wird es, die eigene Agenda umzusetzen. Dazu passt, dass Olaf Scholz in seiner Neujahrsansprache am 31. Dezember 2024 behauptete, viele würden „mit einem Gefühl wachsender Beklemmung auf Russlands brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ blicken. Ich gehöre nicht zu den „vielen“. Meine Beklemmung kommt daher, dass die Stimmen der Vernunft im Getöse der Bellizisten, Transatlantiker und Mainstreammedien viel zu leise sind.

Abgesehen von den nackten Zahlen gibt es jedoch auch ein paar militärische Aspekte, die einen Überfall Russlands auf die NATO nur dann wahrscheinlich werden lassen, wenn Putin wirklich von allen guten Geistern verlassen wäre.

Mit Raketen kann man Ziele hinter Grenzen oder Fronten erreichen. Mit Raketen kann man zerstören, nachhaltig sogar. Man braucht dazu nicht mal Kernsprengköpfe. Für einen Erstschlag müsste Russland deshalb nicht bis 2029 warten. Der wäre mit Langstreckenraketen heute schon möglich. Es bliebe jedoch nur Zerstörung. Eroberung gelingt so nicht. Eroberung gelingt der russischen Armee seit vielen Monaten ohnehin kaum noch, und wenn, dann unter hohen Verlusten. Bei der Geschwindigkeit stünden Russlands Truppen günstigstenfalls am 8. Mai 2945 vorm Brandenburger Tor — und nicht 2029.

Um die russische Flagge auf dem Reichstagsgebäude zu hissen, bedarf es aber der Eroberung. Dazu werden Bodentruppen benötigt: Infanterie und Panzertruppen. Diese wiederum müssen unterstützt werden von Luftstreitkräften, von Artillerie, von Pionier- und Nachrichtentruppen sowie Rückwärtigen Diensten. Es bedürfte des Zusammenwirkens der Teilstreitkräfte und Waffengattungen. Es bedürfte der Auffüllung mit neu ausgebildeten Soldaten, des Nachschubs an Technik, Munition, Kraftstoff und Pioniertechnik. Die Nachschubwege wären immens lang. In den so eroberten Gebieten müssten Besatzungstruppen verbleiben, um Partisanen, vor allem die vom Nationalismus „beseelten“ ukrainischen und polnischen, im Griff zu behalten.

An diesen Problemen ist schon Napoleons Grande Armée im Russlandfeldzug gescheitert. Für die Russländische Gesellschaft, wie sie Tolstoi beschrieb, war es der „Vaterländische Krieg“. Zum „Großen Vaterländischen Krieg“ haben den Russen, Ukrainern, Weiß- und Schwarzrussen, Groß- und Kleinrussen, Tataren, Burjaten, Kasachen, Usbeken, Georgiern, Armeniern, Inguschen, Dagestanern und allen anderen wir Deutschen „verholfen“.

Wie gesagt: Nichts von dem, was im Kalten Krieg noch plausibel war, ist es heute noch.

Aggressoren gehören zum Krieg dazu. Zu Kriegen verabredet man sich nicht. Kriege verletzen immer Rechte anderer. Kriege enden fast immer mit Kompromissen, mit territorialen Zugeständnissen, selten mit einer bedingungslosen Kapitulation.

Am Ende heißt das dann „Frieden von …“. Grenzen, wie wir sie heute kennen, entsprechen selten den Umrissen historischer Siedlungsräume. Grenzen sind häufig willkürlich nach irgendeinem „Frieden von …“ entstanden. So kam Schlesien zu Preußen, später zu Polen, das Tessin zur Schweiz, Franken zu Bayern, Elsass und Lothringen zu Frankreich, der größte Teil Sachsens zu Preußen, und Südtirol zu Italien. Kriege scheinen auch — oder gerade — uns Deutschen durchaus in den Genen zu liegen, was die Kriegsrhetorik der Leute vom Schlage Kiesewetter, Strack-Zimmermann, Hofreiter oder Baerbock gerade wieder bestätigt.

Diese Rhetorik ergibt nur dann einen Sinn, wenn man die Worte der Noch-Außenministerin Annalena Baerbock („Russland ruinieren“) und der neuen EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas („Russland in seine einzelnen Ethnien zerschlagen“) zu Ende denkt.

Man wäre einen systemischen Rivalen los, dessen Vernichtung zudem die BRICS nachhaltig schwächen würde. Kaum eines der daraus entstehenden staatlichen Gebilde wird wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen. Man könnte sie somit leichter der eigenen Einflusssphäre unterwerfen und ihre Bodenschätze, den größten wirtschaftlichen Reichtum Russlands, ausbeuten. Dem westlichen Kapitalismus, der sich längst nicht mehr auf Kosten der zweiten und dritten Welt bereichern kann wie einst, würde es noch eine Reihe von Jahren schenken.

Dass ausgerechnet junge Frauen und Mütter dies als Lösung präferieren, irritiert: Die Gewalt an Frauen in Kriegen ist sehr spezieller Natur. Man muss eine gestörte Selbstwahrnehmung haben, wenn man glaubt, dem entrinnen zu können. Oder hofft, im Bunker sicher zu sein.

Krieg ist keine Lösung, niemals. Die Verlängerung eines Krieges ebensowenig wie ein Stellvertreterkrieg. Ich wünsche mir lieber Tangerine Dreams „White Eagle“ statt Uncle Sams „Dark Eagle“, lieber Friedenspfeife statt Tomahawk!


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Quellen und Anmerkungen:

(1) ARD-DeutschlandTREND/infratest dimap 19.12.2024

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