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Kontrollverlust in Syrien

Kontrollverlust in Syrien

Nach dem Sturz Assads treiben bewaffnete Milizen ihr Unwesen. Ob die neue Führung die Konflikte lösen oder nur neue schaffen wird, muss sich erst zeigen.

Laut Euronews vom 21. März 2025 starben bei Angriffen von bewaffneten Truppen viele Zivilisten — vor allem Angehörige der alawitischen Minderheit. Es wird angenommen, dass einige der Angreifer Verbindungen zu dschihadistischen Organisationen hatten, während andere aus oppositionellen Milizen stammten und später Teil der Sicherheitsstrukturen der Übergangsregierung wurden.

Am 3. April 2025 hat auch Amnesty International schwere Anschuldigungen erhoben: Milizen unter der Kontrolle der syrischen Übergangsregierung haben gezielt Zivilisten angegriffen — ein Vorgehen, das laut Amnesty den Verdacht auf Kriegsverbrechen begründet.

Zeugenberichte und Aussagen von Betroffenen belegen dies. In der Stadt Jableh, so berichtet ein Bewohner namens Said, begannen die Auseinandersetzungen mit Verhaftungen im Dorf al-Daliya. Darauf folgten heftige Angriffe mit Kampfflugzeugen und Artillerie, was zum vollständigen Zusammenbruch der Sicherheitslage führte.

Milizen füllen das Machtvakuum

Angesichts der schwachen zentralen Kontrolle nutzten bewaffnete Gruppen — darunter auch ausländische Kämpfer — das Chaos aus und stürmten Dörfer wie al-Shir, al-Mukhtariya und Sanawbar. Euronews dokumentierte schockierende Berichte über konfessionell motivierte Verbrechen: Alawitische Zivilisten wurden in ihren Häusern ermordet, ihre Leichen verbrannt, ganze Häuser wurden geplündert und anschließend in Brand gesetzt — etwa in Harisun und Barmaiya.

Bewohner beschrieben die Täter gegenüber Euronews als „maskiert, mit langen Bärten und fremden Dialekten“. Es kam zu standrechtlichen Hinrichtungen auf Basis religiöser Zugehörigkeit — auch jene, die alawitischen Familien Schutz boten, wurden nicht verschont. So wurde etwa eine sunnitische Frau aus Latakia namens Bayan gemeinsam mit ihrer Mutter geschlagen, weil sie einer alawitischen Familie Unterschlupf gewährte.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte dokumentierte 56 Massaker mit über 1.514 getöteten alawitischen Zivilisten — eine Zahl, die sie selbst als „nicht abschließend“ bezeichnete.

Viele Familien weigern sich trotz Rückkehrversuchen der Regierung, ihre Heimatorte wieder zu betreten, und suchten Zuflucht auf russischen Militärstützpunkten — ein klares Zeichen für das fehlende Vertrauen in die neue Führung.

Zweifel an der Wirksamkeit der Untersuchungskommissionen

Um internationalem Druck zu begegnen, kündigte Übergangspräsident Ahmad al-Sharaa am 11. März 2025 die Bildung einer unabhängigen nationalen Untersuchungskommission zu den Ereignissen an. Diese besteht aus sieben Mitgliedern. Trotz des Versprechens von Transparenz äußerten Beobachter Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit — vor allem, weil keine Vertreter der Küstenregion dabei sind und die Ergebnisse nicht öffentlich gemacht werden sollen.

Der Sprecher der Kommission, Yasser al-Farhan, erklärte, man wolle die Identität der Zeugen schützen und den Bericht direkt der Justiz übergeben. Er betonte, dass man offen für internationale Kooperation sei, bevorzuge aber „nationale Kapazitäten“ — eine klare Ablehnung internationaler Beteiligung.

In einem Interview mit der BBC kritisierte Mohammad al-Abdallah, Geschäftsführer des Syrian Center for Justice and Accountability, das Verhalten der Behörden scharf. Opfer seien ohne ausreichende Dokumentation begraben worden, Medien sei die Berichterstattung untersagt worden, und es habe bislang keine öffentlichen Gerichtsverfahren gegeben — all das verstärke das Gefühl von Wut und Misstrauen.

Amnesty berichtete zudem, dass viele Familien ihre Toten nicht gemäß religiöser Rituale bestatten konnten. Die Leichen seien in Massengräbern neben lokalen Friedhöfen verscharrt worden — ein eklatanter Mangel an Menschenwürde und strafrechtlicher Gerechtigkeit.

Die strukturelle Herausforderung: Milizen ohne institutionelle Identität

Die meisten dokumentierten Übergriffe in der Küstenregion wurden laut Euronews, BBC und Amnesty von Milizen verübt, die offiziell dem neuen Militär angehören, aber faktisch ihre religiös-ideologischen Strukturen und die dschihadistische Ideologie beibehalten haben — vergleichbar mit al-Qaida und dem IS. Dies macht ihre Eingliederung in staatliche Strukturen äußerst schwierig.

Ein Überlebender aus einem Dorf bei Jableh, Abu Fadi, berichtete Euronews, dass Kämpfer der Miliz „al-Amshat“ gemeinsam mit den „al-Hamzat“-Brigaden und ausländischen Kämpfern sein Dorf stürmten und einen konfessionellen Säuberungskrieg begannen, der viele zur Flucht auf den russischen Stützpunkt Hmeimim zwang. Viele sagten: „Wir verlassen den Flughafen nicht, solange diese Gruppen noch in der Küstenregion sind.“

Laut dem Bericht nutzten einige Milizen religiöse Fatwas, um Morde zu rechtfertigen. Sie ignorierten die Bitten ihrer Opfer und betrachteten sie als „Ungläubige“, denen sie „Dschizya“ auferlegten oder sie hinrichteten.

Zeugenaussagen zufolge sollen die Täter ihre Opfer als „Kuffar“ beschimpft haben — ein klarer Ausdruck extremistischer Gewaltideologie.

Zentrale Frage: Staatsaufbau mit Milizen möglich?

In einem solchen Umfeld stellt sich die zentrale Frage: Wie kann eine Übergangsregierung staatliche Institutionen aufbauen, wenn sie sich auf Milizen stützt, die beschuldigt werden, Massaker begangen zu haben — Milizen mit einer gewaltverherrlichenden, religiös-extremistischen Ideologie?

Solange die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden und bewaffnete Gruppen ihre Waffen behalten, bleibt jeder Versuch eines Staatsaufbaus fragil, wie auch die BBC in einem Bericht vor einem möglichen „Kollaps der Stabilität“ ohne Strafverfolgung warnt.

Wochen nach den Massakern fordern betroffene Familien klare Garantien: keine symbolischen Erklärungen oder Ausschüsse — sondern öffentliche Gerichtsverfahren, Entschädigungen und konkrete Schritte zur Entwaffnung der Milizen und zur Strafverfolgung ihrer Anführer. Sonst droht der Küstenregion eine dauerhafte Abkopplung vom Staatsgefüge.

Gerechtigkeit ist in einem neuen Syrien keine Option — sie ist Voraussetzung. Doch viele zweifeln daran, dass die Mächtigen in Damaskus diese Realität anerkennen wollen.


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