Ich gebe es zu: Älter zu werden ist für mich eine Herausforderung. Ich werde in ein paar Wochen 47 Jahre alt. Vermutlich bin ich schon in der Mitte meines Lebens angekommen. Mein Haar wird langsam grauer, und obwohl ich mir immer mal wieder vornehme, dies geschehen zu lassen, greife ich dann doch wieder zur Haarfarbe, um mich ein kleines bisschen jünger und frischer zu fühlen. Pflanzliche Produkte, versteht sich. Auch wenn ich das eine oder andere Mal höre, dass ich maßlos übertreibe, wenn ich von tiefen Furchen spreche, sehe ich auch in meinem Gesicht, dass ich keine 30 mehr bin. Und auch dagegen habe ich ein Mittel gefunden … Face Yoga. Zugegeben, auch das wirkt nur begrenzt.
Neben diesem subjektiv erlebten Verfall meiner Schönheit sind sich einschleichende körperliche Gebrechen aber im Grunde viel entscheidender. Bei mir zeigt sich das in der zum Teil unkorrigierbaren Abnahme meiner Sehfähigkeit, was einen großen Verlust für mich bedeutet. Nicht nur, weil ich in vergangenen Jahren gerne viele Stunden an meiner Staffelei verbracht habe, was mich mittlerweile oft anstrengt.
Die Kunst ist wohl, sich den Herausforderungen eines jeden Lebensalters anzupassen.
Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich das Gefühl, das Leben würde ewig dauern. Niemals endende Schulstunden, die mich weit weg vom Sinn des Lebens brachten. Daneben ebenso endlos vergessene Augenblicke, wenn ich meine Legosteine aufeinandertürmte oder mich in einem Bild oder einer Hörspielkassette verlor. Die Zeit hatte einfach keine Grenzen. Sechs Wochen Sommerferien waren wie ein Traum von endloser Freiheit.
Doch wir wissen es alle und wir bekommen es wohl alle irgendwann von irgendwem gesagt, der älter ist als wir und der uns an seiner Erkenntnis über das Leben teilhaben lassen will. Und irgendwann teilen wir unsere Erkenntnis selber jemandem mit. Vielleicht weil es tröstet, wenn wir nicht allein damit sind … Das Leben ist endlich und die Zeit gewinnt auf wundersame Weise an Fahrt, je älter wir werden. Als würde sie erst so langsam in Schwung kommen, wenn sich das Rad des Lebens für ein paar Jahre gedreht hat, bis es nicht mehr aufzuhalten ist. Ein Jahr unserer Kindertage erleben wir als so viel länger, so viel ausgedehnter als jedes Jahr unserer Jugend. Und doch ist die Jugend endlos lang, wenn wir sie mit der Zeit zwischen unserem 20. und 30. Lebensjahr vergleichen. Und plötzlich gehen wir auf die 50 zu.
Für ein Kind ist das Leben noch neu und aufregend. Als physiologische Frühgeburt allein nicht lebensfähig, wenn wir das Licht der Welt erblicken, lernen wir nach und nach, erst unseren Körper zu beherrschen, dann all die Dinge, die andere meinen, dass wir sie lernen sollten, und wenn es gut läuft, eine ganze Menge von dem, was wir gerne lernen wollen. Aber dieses erste Erleben und Lernen der ganz einfachen Dinge kostet uns viel Zeit, und unsere Gehirnbahnen werden erst nach und nach die routinierten Autobahnen, die unser Bewusstsein verändern.
Alles ist neu, alles erleben wir zum ersten Mal. Für uns wird im besten Fall gesorgt und wir können uns ganz und gar diesem Erleben hingeben. Bis die Pflichten kommen, der Alltag, die Routinen, und aus dem Spiel Verantwortung erwächst. Erst für uns selbst, dann für andere, für unsere Familie — und wenn wir es ganz ernst nehmen, auch für unsere Gesellschaft, die Menschen auf unserem Planeten und für unseren Planeten selbst. Wir geraten oft in einen Strudel, der uns mitreißt, ohne dass wir es merken. Wir müssen etwas schaffen. Wir müssen schaffen. Etwas aufbauen. Gestalten. Erreichen. Jemand sein. Bestehen.
Doch halt! Erst wenn wir stehen bleiben und unseren Blick in den tiefen Raum in uns wenden, können wir überhaupt ansatzweise erfassen, welche Größe und welches Wunder uns umgibt. Denn im Hier und Jetzt öffnet sich die Pforte zur Ewigkeit, durch die wir immer wieder hindurchschreiten können. Damit uns in all diesem Schaffen nicht unsere kostbare Zeit durch die Finger rinnt, die wir hier auf diesem Planeten haben. Denn das Leben ist endlich. Mitunter auch für ein Kind.
Er hieß Bernd und war vielleicht 9 Jahre alt. Ich kannte ihn aus der Schule. Er wirkte immer etwas ungepflegt. Meine Freundin und ich spielten auf dem Spielplatz der Gartenkolonie, wo ihre Eltern eine Parzelle hatten. Wir schaukelten. Wir schaukelten hoch. Ja, wir schaukelten sehr, sehr hoch, bis unsere Köpfe in den Wolken verschwanden und unsere Bäuche spürten, wie es sich anfühlt zu fliegen. Dann sprangen wir ab. So weit wie wir konnten. Auch Bernd sprang ab, immer wieder. Wir spürten die Freiheit unserer Kindertage und wussten doch nicht, wie kostbar sie war. Irgendwann hatten meine Freundin und ich genug von diesem Spiel und gingen heim. Jede in ihre eigene kleine Welt. Bernd blieb. Wenig später erfuhr ich, dass er tot war. Aus seinem kleinen Leben gerissen, das doch für diesen Augenblick so unendlich weit war. Es hieß, Bernd sei auf einem Spielplatz tödlich am Kopf verletzt worden. Gehirnblutung. Tot.
Für mich war all das unfassbar. Ich kannte diesen Jungen nicht besonders gut, noch lag er mir sehr am Herzen. Dennoch war ich tief erschüttert, dass etwas, was eben noch so lebendig war, plötzlich zu Ende sein konnte. Das Leben eines kleinen Jungen.
Damals betete ich. Auch das lernte ich von meiner Freundin. Und ich fing an, Bernd in meine abendlichen Gebete einzuschließen. Ich bat um Schutz und Vergebung für alle, die mir wichtig waren. Auch für Bernd, denn durch seinen erschütternden und viel zu frühen Abschied aus dieser Welt hatten sein Gesicht und sein Name sich in mein Gedächtnis gebrannt. Nachts lag ich lange wach und dachte an ihn. Und wie eine Offenbarung zeigten sich neue Räume in meiner eigenen Kinderseele, die sich zunächst dunkel und furchteinflößend vor mir auftaten.
Auch für mich war dieses Ereignis ein Abschied. Ein Abschied aus der Unendlichkeit des Lebens und der Beginn eines wachsenden Bewusstseins darüber, dass alles ein Ende findet, dass alles sich in den Wandel begibt, dass nichts bleibt, wie es ist.
Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Leben gerade erst begonnen hat, oder ob es an Jahren gealtert und deshalb Zeit ist zu gehen. Es gibt keine Garantien. Es gibt keine Garantien dafür, dass ein Leben, das lange gedauert hat, auch reich an Leben war, und es heißt auch nicht, dass ein Leben, das früh endet, sich nicht erfüllt hat.
Ich war 19, als die Endlichkeit des Lebens erneut mit ihrer unausweichlichen Wucht in mein Leben trat. Malte war 21. Wir waren Freunde in einer Zeit unseres Hierseins, die geprägt war von einem unstillbaren Hunger nach Leben und Lebendigkeit. Malte war ein Typ, den alle Frauen gerne hatten, weil er jeder das Gefühl gegeben hat, für ihn jemand Besonderes zu sein. Aber keine fand sich, die die Liebe mit ihm teilen wollte, die er so gerne verschenkt hätte und von der er so gerne etwas abbekommen hätte. Partys, Alkohol, Drogen. Musik und endlose Gespräche über das Leben und die Liebe. Das verband uns zu dieser Zeit.
Malte starb nach einem langen Arbeitstag auf der Autobahn. Am Tag seiner Beerdigung war die Kapelle des Friedhofs so voll, dass die Trauernden in großer Schar davorstanden und nur wenig von dem mitbekamen, was drinnen gesprochen wurde. Doch das wäre durch die Tränen und den Schmerz vermutlich sowieso nicht zu uns durchgedrungen, denn selten können solche Trauerreden doch greifen, was wir gehen lassen müssen, wenn ein Freund stirbt. Viel zu jung!
Und doch hatte der Tod ab einem gewissen Zeitpunkt in meinem Leben auch etwas Tröstliches an sich. Etwas uns alle Verbindendes. Wir gehen alle den gleichen Weg, der eine geht vor uns, der andere hinter uns. Es gibt keine Ausnahme. Für niemanden. Vor dieser Wahrheit sind wir alle gleich, und sie könnte das Leben auf diesem Planeten so entscheidend verändern, wenn wir diese unumstößliche Tatsache nicht immer wieder mit unseren Taten leugnen würden.
Wie ein Bad im eiskalten Schnee nach einem Saunagang könnte uns diese Erkenntnis für einen Augenblick aufwecken. Damit wir uns fragen, was wir hier überhaupt tun. Was dieses HIER überhaupt ist und welchem Gott oder welchem Führer wir hinterherlaufen, der keinen anderen Zweck erfüllt, als uns in die richtige Stimmung zu bringen. Eine Stimmung, die uns zu träge macht, um gegen das aufzubegehren, was wir vielleicht noch ändern könnten. Denn in diesem Erwachen könnten wir endlich ruhigen Gemüts annehmen, was wir nicht ändern können. Aber oftmals versuchen wir ja nicht einmal, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Irina war 37, als ich mich von ihr verabschieden musste. Sie war auf den Tag genauso alt geworden wie Vincent van Gogh. Und sie war eine begnadete Künstlerin. Die letzten 10 Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einer weniger als einfachen Wohnung in Berlin Friedrichshain. Aber das war ihr egal. Sie wollte malen und ihre Animationsfilme machen. Und das tat sie. Stunde um Stunde verbrachte sie in ihrem heimischen Atelier, ohne dass der erhoffte Erfolg sich einstellte, bis eine schwere Diagnose sie heimsuchte: Speiseröhrenkrebs. Einer der grausamsten Wege zu sterben, von denen ich mitbekommen habe. Doch Irina vertiefte sich weiter in ihre Kunst und schrieb sogar noch ein Buch, in dem sie sich auf anrührende Art mit Karl, ihrem Krebs, auseinandersetzte. Die „Krebskomödie“. Noch immer höre ich ihr erheiterndes Lachen und bin voller Bewunderung für die unaufhaltsame Bedingungslosigkeit, mit der sie sich ihrem Werk bis zuletzt hingab.
Irina war die erste Tote, die ich sah. Doch es war nur noch ihre Hülle übrig, als die Schwester sie in den Aufbahrungsraum schob. Ihre Seele war bereits durch die noch immer geöffneten Augen davongeflogen. Ich konnte den Schmerz nicht aufhalten und zerfloss in einem lindernden Meer aus Salz.
Leben heißt loszulassen. Mal sind es liebgewonnene Gewohnheiten, von denen wir uns verabschieden müssen, verbrauchte Vorstellungen, Erinnerungen, die uns lange genug gequält haben, oder Erwartungen an andere Menschen.
Mal sind es Menschen selbst, die gehen, bevor unserer Meinung nach ihre Zeit gekommen ist. Doch auch sie müssen wir gehen lassen. Und irgendwann ist es Zeit für einen jeden von uns, unseren Körper zurückzulassen, der dem einen ein sehr anstrengendes, und der anderen vielleicht ein Leben leicht wie eine Feder geschenkt hat. Dabei spielt es keine Rolle, wie alt oder jung an Jahren wir sind. Es liegt an uns, ob wir jung im Herzen geblieben sind und mit der weisen Seele einer alten Frau oder eines alten Mannes gehen, weil wir uns den Herausforderungen gestellt haben, die unser ganz eigenes Leben uns gestellt hat. Ohne dass es danach gefragt hat, ob wir diese Herausforderungen, so wie sie uns serviert wurden, auch wollen. Wir haben ja schlicht und einfach keine Wahl zu entscheiden, was uns geschenkt wird. Aber wir haben die Wahl zu entscheiden, wie wir damit umgehen. Immer. Jederzeit.
Vor ein paar Wochen lernte ich Christel kennen. Christel hatte bereits ihr achtzigstes Lebensjahr um einige Jahre überschritten. Es dauerte nicht lange, bis sie mit ihrer freundlichen und doch ein wenig resoluten Thüringer Art mein Herz erobert hatte. Vielleicht waren es auch ihre offenen und liebevollen Augen, die mich gütig anblickten, oder ihr klarer Verstand, der sich zeigte, während wir uns über allerlei persönliche und weltbewegende Themen austauschten. Ihre Liebe zu den Vögeln und Rehen in ihrem Garten rührte mich an.
Wir teilten uns den Essenstisch in einer Rehaklinik. Sie sei hier wegen einer Hüft-OP. Jeden Abend erzählte sie mir stolz, welches Fitnessprogramm sie wieder absolviert habe. Von Gehschule bis zum Krafttraining. Und jeden Tag berichtete sie von neuen Hürden, die ihr Körper ihr darbot. Ohne zu klagen. Taubheit in den warmen Händen, da bei einer OP ein Nerv durchtrennt worden sei, Osteoporose, Herz-OP. Momentan machten ihr aber Gesichtsfeldausfälle Sorgen. Doch mit etwas Motivation machte sie auch hierfür Übungen, die man ihr gezeigt hatte. Kurz bevor wir uns mit einer herzlichen Umarmung verabschiedeten, erzählte sie mir von ihren Hörproblemen. „Hörprobleme?“ Ja … Die seien von ihrem Gehirntumor gekommen.
Jung zu sterben muss nicht heißen, nicht alt zu werden. Der Verfall unseres Körpers lässt sich offensichtlich nur begrenzt aufhalten.
Wir können uns gesund ernähren, wir können Sport machen und Yoga, und wir können meditieren. Es ist sicher gut, möglichst auf den Konsum von allerlei schädigenden Substanzen wie Zucker, Alkohol oder Tabak zu verzichten, in die Natur zu gehen, unseren Geist beweglich zu halten, unser Herz zu nähren.
Singen. Und tanzen … Ja, wir sollten definitiv wieder mehr tanzen! Wir können das Spielerische in unserem Leben bewahren und eine schöne Zeit mit unseren Freunden erleben. Die Welt erkunden und Kunst machen. Wir können uns mit schönen Dingen umgeben und öfter früh ins Bett gehen. Lasst uns Bücher lesen, die unsere Seelen berühren und nicht nur unsere politische Wissbegierde befriedigen. All das können wir tun. Sterben werden wir trotzdem irgendwann. Vielleicht werden wir wiedergeboren. Vielleicht werden wir einfach wieder zu dem Sternenstaub, aus dem wir gekommen sind. Sterben werden wir allemal. Also lasst uns endlich anfangen zu leben!
Für immer jung
Frei übersetzt nach Alphaville
Lasst uns stilvoll tanzen, lasst uns einfach eine Zeit lang tanzen
der Himmel kann warten, wir betrachten nur die Lüfte
Hoffen wir auf das Beste aber erwarten das Schlimmste
Werdet ihr die Bombe fallen lassen oder nicht?
Lasst uns jung sterben oder lasst uns für immer leben
Wir haben nicht die Macht, aber wir sagen niemals nie
Sitzen im Buddelkasten, das Leben ist ein kurzer Trip
Die Musik ist für den traurigen Mann
Kannst Du Dir vorstellen wann dieses Rennen gewonnen ist?
Richten unsere goldenen Gesichter der Sonne entgegen
Loben unsere Führer, wir werden richtig gestimmt
die Musik wird von Wahnsinnigen gespielt
Für immer jung, ich will für immer jung sein
Willst Du wirklich für immer leben, für immer und ewig?
Für immer jung, ich will für immer jung sein
Willst Du wirklich für immer leben, für immer und ewig?
Manche sind wie Wasser, manche sind wie die Hitze,
manche sind die Melodie und manche sind der Beat,
Früher oder später werden wir alle weg sein
warum bleiben wir nicht jung?
Es ist so hart grundlos alt zu werden
ich will nicht verderben wie ein schwindendes Pferd
Die Jugend ist wie ein Diamant in der Sonne
Und Diamanten sind für immer
So viele Abenteuer könnten heute geschehen
So viele Lieder, die wir vergaßen zu spielen
So viele Träume schaukeln sich aus heiterem Himmel auf
Wir lassen sie wahr werden
Für immer jung, ich will für immer jung sein
Willst Du wirklich für immer leben, für immer und ewig?
Für immer jung, ich will für immer jung sein
Willst Du wirklich für immer leben, für immer und ewig?
Für immer jung, ich will für immer jung sein
Willst Du wirklich für immer leben, für immer und ewig?
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Quellen und Anmerkungen:
Die Kunst der im Text erwähnten Künstlerin Irina Rosanowski ist hier zu finden.