Es existiert kaum noch ein gesellschaftliches Wir-Gefühl, kein Bewusstsein, irgendwie im selben Boot zu sitzen. Eine Entwicklung, die sowohl auf die durch die digitale Kommunikation entstandene Trennung von Informationsräumen zurückzuführen ist als auch generell mit dem Paradigma des Digitalen konform geht, das auch unsere politischen Diskurse nicht unangetastet lässt. Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han unterscheidet in seinem Buch „Der Schwarm — Ansichten des Digitalen“ die digitale Menge vom klassischen, durch Gustave Le Bon geprägten Begriff der Masse:
„Die Welt des Homo digitalis weist zudem eine ganz andere Topologie auf. Ihr sind Räumlichkeiten wie Sportstadien oder Amphitheater, das heißt Orte der Massenversammlung fremd. Sie gehören zur Topologie der Massen. Die digitalen Bewohner des Netzes versammeln sich nicht. Ihnen fehlt die Innerlichkeit der Versammlung, die ein Wir hervorbringen würde. Sie bilden eine besondere Ansammlung ohne Versammlung, eine Menge ohne Innerlichkeit, ohne Seele oder Geist. Sie sind vor allem für sich isolierte, vereinzelte Hikikomori, die alleine vor dem Display sitzen. Elektronische Medien wie das Radio versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln“ (1).
Dass das Phänomen der Einsamkeit heutzutage mehr und mehr an Relevanz gewinnt, ist nichts Neues. Doch die herkömmliche Form der Einsamkeit unterscheidet sich von der digitalen vor allem in dem Punkt, dass sie oft unbemerkt bleibt. Das Leiden unter der digitalen Vereinzelung kann schwerer zugeordnet werden, auch weil ihm eine erklärende Geschichte, ein Narrativ fehlt. Han schreibt hierzu:
„Das Wort digital verweist auf den Finger (digitus), der vor allem zählt. Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht. Zählen ist eine posthistorische Kategorie. Weder Tweets noch Informationen fügen sich zu einer Erzählung zusammen. Auch die Timeline erzählt keine Lebensgeschichte, keine Biografie. Sie ist additiv, nicht narrativ“ (2).
Auch gesellschaftlicher Zusammenhalt beruht auf einer Erzählung, einer irgendwie gearteten Zusammengehörigkeit. Das muss kein Patriotismus sein, es reicht lediglich das Gefühl, dass es eine Bedeutung hat, gemeinsam zur selben Zeit am selben Ort zu leben und diese Raumzeit als Gemeinsames zu begreifen.
Das Problem ist also weniger ein durch soziale Medien verbreitetes, möglicherweise problematisches Weltbild, etwa die Ideologie rechter oder verschwörungstheoretischer Gruppen auf der einen Seite oder die der sogenannten woken Bewegung auf der anderen, sondern vielmehr, dass der Raum, in dem sich beide bewegen, der Raum des Digitalen, echte Weltbilder, die getragen sind von Zeitlichkeit und Narration, immer mehr zersetzt.
Was wir stattdessen sehen, sind Pseudo-Weltbilder, die nicht geprägt sind von echten, historisch gewachsenen Werten, auf die man sich in seiner Argumentation beruft und die diese erst konsistent machen. Sondern sie erzeugen, ähnlich der von Han beschriebenen Menge, eher lose Ansammlungen von Gleichgesinnten, die deshalb ähnliche Ansichten vertreten, weil dies von der Gruppe, zu der sie sich mehr oder weniger zufällig zugeordnet haben, als Common Sense festgelegt wurde.
Beide Gruppen verlieren durch das Digitale immer mehr den Bezug zu einer Welt, in der sie beide leben, einer gemeinsamen, realen Welt, die es auch gemeinsam zu gestalten gilt, weil sie im Gegenteil zur digitalen nicht in mehrere Parallelwelten aufgespalten werden kann.
Die physische Realität leistet der imaginären Separierung sozusagen Widerstand: in der U-Bahn, am Arbeitsplatz oder bei der Großfamilienfeier. Überall dort werden wir konfrontiert mit der Unzulänglichkeit des Digitalen. Zwar sehen die Menschen, die wir bei besagter Familienfeier seit langer Zeit einmal wieder treffen, genauso aus wie auf ihrem Facebook-Profilbild; sie erzählen von denselben Urlaubsreisen, die wir schon in ihren Instagram-Storys gesehen haben, und äußern dieselben Ansichten wie in ihrem letzten X-Kommentar — und doch ist etwas anders.
Oft empfinden wir solche Situationen dann als unbefriedigend oder langweilig und sind enttäuscht, weil unser Gehirn sich auf den Dopaminausstoß vorbereitet hatte, den es bereits beim Konsumieren der betreffenden Inhalte im Netz wahrnahm. Aber der bleibt aus, stattdessen: öde Realität, die einen jedoch nach einer Weile und nachdem man den ersten Suchtdruck überwunden hat, irgendwie in ihren Bann zieht. Was sie so besonders macht, ist ihre Andersartigkeit, die Fähigkeit, etwas an einen heranzutragen, was sich wirklich unterscheidet von einem selbst und zu dem man in Beziehung treten kann. Ein Subjekt. Die digitale Welt gewöhnt uns daran, das einzige Subjekt weit und breit zu sein, an das nur Objekte in Form von informationellem Konsummaterial herangetragen werden. Was nur in der realen Welt entsteht, ist ein Wir aus Ich und Du.
Das Digitale vermag es nicht, uns etwas wirklich anderes entgegenzusetzen. Es kombiniert vermeintlich Neues aus den immer gleichen Nullen und Einsen. Ganz ähnlich funktioniert auch das Prinzip von künstlicher Intelligenz wie ChatGPT, die uns unsere Fragen zwar mit erstaunlicher Präzision beantwortet, indem sie vorhandene Information auf die Weise kombiniert, auf die sie trainiert wurde, aber nicht in der Lage ist, uns etwas wirklich Neues oder Unerwartetes zu präsentieren. Das mag auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheinen, setzt man voraus, dass man diese Technologien nicht als Ersatz für das eigene Denken, sondern lediglich als Hilfestellung benutzt, um schneller ans Ziel zu gelangen. Doch genau in diesem Vormarsch der Effizienz und dieser Schnelligkeit liegt das Problem: Genau genommen handelt es sich nämlich gar nicht um Schnelligkeit, sondern um Zeitlosigkeit.
Das Digitale kennt keine Zeit. Es kennt es auch keinen echten Raum, denn die Nullen und Einsen machen es zweidimensional. Zeit und Raum sind aber die wohl prägendsten Kategorien, die der Mensch in seiner gesamten Existenz erlebt hat.
Ein gesellschaftliches Leben, das dieser Kategorien nach und nach beraubt wird, beginnt zu erodieren, weil ihm die Struktur fehlt, die es zu einem singulären Ereignis macht. Auch unser Erkenntnisprozess und unsere politische Meinungsbildung sind davon betroffen.
In einer zweidimensionalen Ebene finden keine Brüche statt; sie ist glatt, hat keine spürbaren Ecken und Kanten, keine Haptik und damit nichts, woran man sich festhalten kann beim Denken eigener Gedanken und Gedankenmodelle. Wirkliche Entwicklung jedoch, egal ob kollektiv oder individuell, intellektuell oder emotional, passiert durch Brüche, etwas, das das Bisherige unterbricht und etwas völlig Neues entstehen lässt. Etwas Neues nicht im Sinne einer nie dagewesenen Kombination des Alten, sondern ein spürbares Novum, das zwar angebunden an die Vorgeschichte, aber dennoch etwas Eigenes ist. Jedes Gesellschaftssystem, jedes tief berührende Gedicht ist so zustande gekommen.
Je mehr wir uns im Digitalen verlieren, desto mehr stagnieren wir. Obwohl wir paradoxerweise das Gefühl haben, in ständigem Fortschritt begriffen zu sein, verstehen wir nicht, dass es letztlich genau dieser Fortschritt ist, der uns, aus Ermangelung von Zeit und Raum, ins Nichts schlittern lässt.
Die Bedeutungslosigkeit tritt ihren Siegeszug an, ähnlich dem Nichts aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, das die Wesen Phantasiens vernichtet, weil die Menschen verlernt haben, in ihrer Fantasie Neues entstehen zu lassen. So leben wir immer mehr in einer Art Tyrannei des Gleichen. Es ist wie bei einem Komponisten, der Popsongs aus den immergleichen Akkorden herstellt. Sie alle werden ein Hit, aber keiner von ihnen geht in die Geschichte ein, weil keiner von ihnen besonders ist. Die großen Werke der Musik werden deshalb von so vielen als berührend empfunden, weil sie das Bekannte durch etwas ergänzen, was dem Zuhörer andersartig erscheint, ehe er es als Teil von sich selbst erkennt.
Alles, was uns uns weiterentwickeln lässt, stellt eine Verbindung her zwischen bereits Dagewesenem, der jetzigen Empfindung und der Hoffnung auf die Zukunft. Das Digitale kann keine echte Entwicklung initiieren, weil ihm diese Dimension der Zeitlichkeit fehlt. Marcel Proust hat deren Relevanz in seinem Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wohl am berühmtesten beschrieben. In seiner Passage über die „Madeleine“ wird der Protagonist durch den Geschmack des in Tee getunkten französischen Gebäcks schlagartig in seine Kindheit versetzt und spürt die Vergangenheit in sich heraufströmen. Proust schreibt:
„Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt; oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu?
Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir“ (3).
Eine digitale, eine zweidimensionale Erfahrung — egal wie hochaufgelöst das Bild, das uns an etwas erinnert, auch auf dem Display erscheint — wird niemals in der Lage sein, so etwas auszulösen. Nicht nur fehlt ihr das Geheimnisvolle, das Proust rätseln lässt, woher diese plötzliche Empfindung kommt — denn sie ist geprägt von völliger Transparenz und ständiger Verfügbarkeit —, sie ist auch allein aufgrund ihrer Beschaffenheit nicht in der Lage, uns mit uns selbst in Kontakt zu bringen, weil sie eben kein anderes Subjekt beinhaltet. Wir finden uns selbst nur im anderen, und so finden wir uns heutzutage immer mehr allein mit uns selbst.
Die digitale Vereinzelung der Gesellschaft unterteilt die Welt in das „Ich“ und das „Das“, in Form eines Konsumierbaren. Was verschwindet, ist ein echtes „Du“, das diese narzisstische Kontingenz unterbricht, weil es anders agiert als erwartet. Was sich somit konstituiert, ist ein Zusammenleben in Beziehungslosigkeit.
Nun verbringen wie aber immer weniger Zeit in jener realen Welt, die einen mit einem echten „Du“ konfrontiert. Selbst wenn wir in der Bahn oder bei einem Geburtstag sitzen, kann es sein, dass wir derart vom digitalen Paradigma unseres Konsums eingenommen sind, dass ein „Wir“ gar nicht zustande kommt, obwohl nach außen hin alle Voraussetzungen gegeben wären. Nicht nur schauen wir permanent auf unser Smartphone, wir sind mittlerweile auch darauf konditioniert, unsere Umwelt nach postbaren Inhalten abzusuchen. Selbst wenn wir das am Ende gar nicht tun, hat es etwas Beruhigendes, sich in einer Umgebung zu wissen, für deren Ästhetik sich der Anglizismus „instagramable“ etabliert hat. Dinge, die nicht dieser vorzeigbaren Ästhetik entsprechen, verlieren an Wert, weil sie dazu verdammt scheinen, in einer Welt omnipräsenter Öffentlichkeit privat zu bleiben.
Aber vielleicht liegt der Wert dieser Imperfektion in genau jener Intimität, die Raum schafft, um ein mittlerweile an Isolation gewöhntes Ich wieder an die Realität zu gewöhnen, nämlich dass es eine physische Welt gibt, der man sich, so sehr man es auch versucht, nicht entziehen kann, dieses Schicksal aber tröstlicherweise mit allen anderen teilt. Diese Erfahrung der Gemeinsamkeit ist es, die nicht nur uns Stabilität, sondern auch unserer Gesellschaft die Struktur gibt, die ein friedliches Miteinander ermöglicht. Wir sollten die mittlerweile seltenen Gelegenheiten, sie zu machen, nutzen, ehe unsere Fähigkeit dazu immer mehr verkümmert.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Han, Byung Chul: Im Schwarm — Ansichten des Digitalen, Matthes & Seitz Berlin, 2020, Seite 21.
(2) Ebenda, Seite 50.
(3) http://www.peter-matussek.de/leh/s_18_material/s_18_m_07/proust_madelaine.pdf.