Elisa Gratias: Wie kam es dazu, dass Sie das Aktionsbündnis „Zukunft Donbass“ ins Leben gerufen und seit Juni 2016 immer wieder Lastwagen mit medizinischen Hilfsgütern nach Lugansk in der Ukraine geschickt haben?
Iwana Steinigk: Ich habe die Situation in der Ukraine von 2013 bis 2015 sehr genau beobachtet und dabei schnell gesehen und verstanden, dass die Erzählung der meisten westlichen Medien und der pro-europäischen ukrainischen Medien vom „selig machenden Maidan“ nur die halbe Geschichte ist. Die Berichterstattung war sehr einseitig, was Hintergründe, Vorgänge und Auswirkungen des sogenannten Maidan — Revolution der Würde betraf. Beziehungsweise es wurde sehr stark die „Würde“ der Maidan-Aktivisten und sogenannten Opfer thematisiert.
Die Würde jedoch der Menschen, die mit den Zielen des „Euromaidan“ nicht konform gingen, spielte und spielt bis heute keine Rolle. Es waren ja nicht 43 Millionen demonstrierende ukrainische Staatsbürger auf den Maidanen. Selbst wenn man beim Zählen großzügig ist, kommt man bei der Zahl der Euromaidan-Demonstranten auf maximal 1 Million. Wie steht es um die „Würde“ der russisch sprechenden Menschen in der Ukraine? Wie steht es um die „Würde“ der Brandopfer von Odessa? Was ist mit der „Würde“ vieler Menschen in der Ostukraine, die sich weniger dem ukrainischen, sondern mehr dem russischen Kulturkreis zugehörig fühlen?
Heute im achten Jahr des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine kräht kein Hahn nach der Würde dieser Menschen.
Kurz gesagt haben wir mit einigen Gleichgesinnten 2016 beschlossen, praktisch zu helfen, statt nur schlechte Nachrichten aus der Ukraine zu bekommen.
Danach waren die Überlegungen recht einfach: Wenn man krank wird, verletzt wird, wo muss man dann hin — in ein Krankenhaus oder zum Arzt. Da auch Krankenhäuser vermehrt und beabsichtigt Ziel von ukrainischem Beschuss und Kampfhandlungen wurden, haben wir beschlossen, in Krankenhäusern und bei der medizinischen Versorgung der Zivilbevölkerung zu helfen. Die ersten zerschossenen Krankenhäuser, die ich 2016 gesehen habe, sahen katastrophal aus. Zwei Meter große Löcher in den Wänden, zerstörte Behandlungsräume, herausgebombte Fenster, blutige Matratzen und fast kein Personal. Und das in Europa. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal sehen werde.
Sind Sie hauptberuflich für das Aktionsbündnis „Zukunft Donbass“ tätig?
Manchmal habe ich den Eindruck ja. Vor allem dann, wenn wieder ein LKW zusammengestellt, beladen und auf den Weg geschickt wird. Eigentlich jedoch arbeiten wir alle im Verein ehrenamtlich. Jeder bringt sich soweit ein, wie er kann und möchte. Wir sind immer auf der Suche nach Helfern und Leuten mit Ideen. Vor allem suchen wir dringend Leute, die uns helfen, die Krankenhäuser in Deutschland abzuklappern, anzuschreiben, anzufragen, ob diese etwas spenden würden oder abzugeben haben.
Im Juni 2021 sind Sie nun selbst in den Donbass gereist und haben dort alle Krankenhäuser und Einrichtungen besucht, die humanitäre Hilfe von Ihnen aus Thüringen/Deutschland erhalten, und sich ein Bild von den Lebensumständen vor Ort gemacht. Wie fühlten Sie sich vor Ort, bei der Begegnung mit den Menschen?
Ich fühle mich aufgewühlt, wenn ich dort bin. Ich kann und will nicht verstehen, warum Kiew ein Problem mit diesen Menschen hat. Ich begreife nicht, wie man die Menschen Separatisten, Terroristen und Okkupanten nennen kann, die 2014 in ihrer überwiegenden Mehrheit ukrainische Staatsbürger waren und noch sind. Die OSCE kann bis heute keine eindeutigen Beweise für die Anwesenheit der russischen Streitkräfte im Donbass vorlegen. Und auf dieser Behauptung fußt alles: die Sanktionen, die bewaffnete Auseinandersetzung, die Beschuldigung der Russischen Föderation, als Aggressor zu agieren, der Widerwillen, mit dem die Kiewer Delegierten zu den Minsker Verhandlungen reisen. Wenn die Russische Föderation den Donbass besetzt hätte, hätte Kiew Kriegsrecht ausrufen müssen.
Die Menschen, die ich traf, erzählten mir vor allem von ihren Lebensumständen, von den Schwierigkeiten, die sie bewältigen müssen. Alte Menschen schienen mir eher deprimiert. Familien, die aus der Frontzone beziehungsweise den ukrainisch kontrollierten Gebieten weggezogen sind, versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Jüngere sind optimistischer, sie studieren oder machen eine Ausbildung in Lugansk oder in Russland.
Allerdings habe ich auch erschreckende Erfahrung gemacht, als ich selbst in die Frontzone gefahren bin. Dort leben nach wie vor Menschen, die Häuser sind zerschossen und bis heute werden die Einwohner fast täglich beschossen. Von Waffenstillstand kann keine Rede sein. Kann man sich an so ein Leben gewöhnen?
Es ist ein beklemmendes Gefühl, wenn dir eine 70-jährige Frau erzählt, wie sie 2014/15 im Keller gelebt hat und jetzt schon weiß, wann geschossen wird und wann nicht, und danach ihre Arbeitszeit in ihrem Gemüsegarten ausrichtet oder den Gang in den kleinen Dorfladen.
Wie sehr hat Sie diese Reise geprägt? Wie fühlten Sie sich bei Ihrer Rückkehr?
Diese Reisen in den Donbass sind immer prägend. Sie holen dich ganz schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Es ist ja nicht meine erste Reise dorthin. Das, was andere berichten, oder was man normalerweise aus den Medien erfährt, siehst du mit eigenen Augen. Ganz ehrlich frage ich mich jedes Mal, wie „normal“ ist es mittlerweile für mich, in ein Konfliktgebiet zu fahren?
Was mich prägt, ist zu sehen und zu hören, wie die Menschen tatsächlich leben, wie ihre Infrastruktur funktioniert, wie sie sich ihre Selbständigkeit vorstellen und versuchen umzusetzen, was sie von diesem Bürgerkrieg halten.
Die Menschen erzählen mir, wie es 2014 und 2015 war. Sie erzählen aber auch, wie es jetzt ist, wenn man im Frontgebiet lebt. Das Personal in den Krankenhäusern erzählt, wie es unter den gegenwärtigen Bedingungen arbeitet. Um noch einmal auf die Frage zurückzukommen: Natürlich, so etwas prägt mich und ich frage mich, wie es sein kann, dass ein Bürgerkrieg „Normalität“ wird.
Wie ich mich bei meiner Rückkehr fühlte? Ernüchtert und motiviert zugleich. Ernüchtert, weil immer noch kein Frieden im Donbass ist, weil Kiew die Minsker Verhandlungen sabotiert und weil Präsident Selenskij bei seiner Wahl eine Beendigung des Bürgerkrieges hoch und heilig versprochen hat, und passiert ist gar nichts. Einmal mehr ein Beleg, wie leicht und wie oft Politiker einfach lügen. Motiviert hat mich die Reise, weil ich gesehen habe, dass unsere Spenden ankommen, dass sie dringend benötigt werden und vor allem in den Krankenhäusern eine sehr wichtige Arbeit geleistet wird.
Wie können Menschen aus Deutschland der Bevölkerung im Kriegsgebiet helfen? Sie transportieren medizinisches Material, aber werden auch Nahrung, Spielzeuge und vielleicht andere Ausrüstungen, zum Beispiel für Lebensmittelanbau, gebraucht?
Wir sammeln Spenden für medizinische Geräte und Verbrauchsmaterialien. Wir müssen die Kosten unserer Transporte decken. Die LKW, die wir dorthin schicken, stellt uns eine weißrussische Spedition. Wir schicken drei bis vier LKW pro Jahr und einer davon ist der Weihnachts-LKW. Dieser transportiert auch Geschenke für Kinder und Erwachsene. Außerdem sammeln wir bedarfsgebunden, das heißt zum Beispiel für einen Kindergarten oder ein Flüchtlingswohnheim oder für eine Krankenhausküche.
Eine der letzten Spezialsammlungen waren Diabetikerbedarf und Geld für neue OP-Lampen. Wenn uns jemand Baumaterial spenden würde, könnten wir das auch dorthin schicken. Es fehlt dort an so vielem. Meistens bekommen wir Anfragen, ob wir uns an einer konkreten Sache beteiligen könnten, wie zum Beispiel der Renovierung eines Kinderheimes, eines Ferienlagers oder eines Wohnheimes für „Bürgerkriegsopfer“, die alles verloren haben. Es sind nicht ausschließlich medizinische Spenden, jedoch stellen sie den Hauptanteil unserer Hilfslieferungen.
Warum engagieren Sie sich so sehr für Menschen, die so weit weg leben? Was verbindet Sie mit dem Donbass?
Das ist gar nicht so weit weg. Die Entfernung von Leipzig nach Lugansk beträgt 2.400 Kilometer, nach Madrid sind es 2.200 Kilometer. Es ist in unseren Köpfen weit weg, weil wir die Ukraine nicht unbedingt mit „Europa“ assoziieren. Geografisch ist es Osteuropa. Kulturhistorisch war diese Region immer gespalten in einen Teil, der eher zu Westeuropa gehörte, Galizien, die Bukowina, das heißt die Westukraine, und einen Teil, der in Osteuropa und im russischen Kulturkreis verankert ist.
Mich persönlich verbindet meine Biografie mit der Ukraine, meine Mutter stammt aus einer Kleinstadt bei Kiew, ihre Mutter war Ukrainerin, ihr Vater Russe. Das war ganz normal und sehr verbreitet in der ehemaligen Sowjetunion. Ich habe viel in der Ukraine gearbeitet, ich kenne das gesamte Land sehr gut.
Mit dem Donbass verbinden mich seit fünf Jahren die Kontakte zu den Menschen, die wir kennengelernt haben. Und uns geht es in allererster Linie um die Menschen dort. Die politischen Aspekte, das, was sie denken, wo sie sich historisch und kulturell verorten, ist ihre Angelegenheit.
Die Wahl, sich zum Beispiel als eher russisch zu empfinden, ist ihr Recht. Es hat niemand und schon gar keine EU-Institution oder eine Institution in Kiew das Recht, ihnen dies zu verweigern.
Das ist aber leider das, was aktuell geschieht, eingepackt in irgendeinen geopolitischen Kontext, sagt man in Kiew, ihr dürft kein Russisch mehr sprechen oder ihr dürft euch kulturell nicht mehr im Einflussraum der Russischen Föderation verorten.
Ich frage mich angesichts solcher Anstrengungen und Gesetze, die in Kiew beschlossen werden, wie demokratisch das ist und was das mit einer multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft zu tun hat?
Die meisten Menschen im Donbass haben noch die ukrainische Staatsbürgerschaft und so gesehen sind sie formal immer noch Ukrainer. In Kiew scheint es, hat man schon seit Langem beschlossen, diese Menschen nicht mehr als Ukrainer zu betrachten und tut alles Mögliche, um sie von sich fern zu halten. Sicher man hat die Republiken Lugansk und Donezk gegründet, aber für diese Entscheidung gab es Gründe, Vorgänge im Winter und Frühjahr 2014. Kiew beschuldigt einseitig die Russische Föderation, die Separierung forciert zu haben. Kiew und Westeuropa fragen sich aber nicht: Was haben wir eventuell falsch gemacht, was ist unser Anteil an dem Konflikt?
Ehrlich gesagt, habe ich im Donbass keine Gesprächspartner getroffen, die sich ein Leben in und mit der Ukraine überhaupt noch vorstellen können. Zumindest nicht so lange, wie die jetzige Kiewer Führung am Ruder ist.
Wie steht es um Ihre eigene Kraft im Alltag? Was gibt Ihnen Kraft und hat Ihr Engagement, Ihre Einstellung zum Leben geändert?
Natürlich ist es jetzt sehr schwierig, humanitäre Hilfe zu finden, Menschen, die spenden, und solche die bereit sind, anderen zu helfen, die in großer Not sind. Sicher, ich investiere viel Zeit in diese Arbeit. Aber ich weiß auch, dass es eine wichtige Sache ist, für die ich mich engagiere. Und ich weiß, wie sehr man dort in Lugansk auf den nächsten LKW wartet.
Unser nächster LKW wird der 29. sein und das macht uns auch sehr stolz, weil wir das seit sechs Jahren machen, weil wir es immer wieder schaffen. Selbst im Covid-Jahr 2020 haben wir drei LKWs schicken können. Das macht uns Mut, denn so etwas geht nur, wenn andere von der Richtigkeit und Rechtschaffenheit dieser Aktion überzeugt sind, uns unterstützen und spenden.
Jetzt gerade sammeln wir für den 29. LKW, dieser soll im September beladen werden und wegfahren.
Meine Einstellung zum Leben ist schon länger, dass es wichtig ist, nicht nur für sich selbst zu leben, immer wieder über den eigenen Tellerrand zu blicken. Den Menschen in Deutschland, in der Schweiz und sogar Österreich, die uns bei diesem Hilfsprojekt für den Donbass helfen, sind wir unendlich dankbar, denn ohne sie könnten wir das gar nicht machen. Das ist ein ganz wichtiger Moment, der uns, der mir Kraft gibt.
Das Aktionsbündnis „Zukunft Donbass“ hat im Juni 2016 zusammen mit Human-Plus e.V. zwei Lastwagen mit medizinischen Hilfsgütern nach Lugansk/Ukraine schicken können. Der dritte Transport wurde im November 2016 durchgeführt. Von Jena aus machte sich ein LKW mit Krankenhausmobiliar und Geräten auf den Weg. Nun im Jahr 2021 angekommen kann das Aktionsbündnis dank der Unterstützung von vielen Menschen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz auf 28 Transporte zurückblicken, die mit Medizinspenden beladen beim Wiederaufbau der Krankenhäuser im Donbass helfen. Nach fast sieben Jahren bewaffnetem Konflikt in der Ostukraine ist ein wenig Ruhe eingekehrt. Im Juni wurde ein weiterer Waffenstillstand beschlossen, der jedoch höchst fragil bleibt. Während der gesamten Zeit des Konflikts gerieten Krankenhäuser immer wieder unter Beschuss. Sie wurden von Granaten getroffen und beschädigt. Jedoch ist die Aufrechterhaltung der Arbeit von Ärzten und des Krankenhauspersonals ungemein wichtig — lebensnotwendig. Weitere Informationen unter Aktionsbündnis Zukunft Donbass. Unterstützen Sie die Arbeit von Iwana Steinigk und ihren Kollegen mit einer Spende direkt hier.
LNR, Juni21, Solotoe-5; Foto: Iwana Steinigk
ZHD Krankenhaus für Notfallmedizin, alte Betten; Foto: Iwana Steinigk
Lugansk, Blockposten Stadtausfahrt; Foto: Iwana Steinigk
Kinderkrankenhaus OP-Saal; Foto: Iwana Steinigk
Lugansk, Treffen mit Rentnern; Foto: Iwana Steinigk
Kindergarten Rosinka; Foto: Iwana Steinigk
Gedenkstelle für getötete Journalisten; Foto: Iwana Steinigk
Kindergarten Rosinka, Einschussloch im Fenster; Foto: Iwana Steinigk
Kindergarten Rosinka; Foto: Iwana Steinigk
Brjanka Krankenhaus, Lugansk, Küchenteile des Aktionsbündnis Zukunft Donbass; Foto: Iwana Steinigk
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