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Teures Vertrauen

Teures Vertrauen

Telefonbetrüger suchen mit Vorliebe ältere Menschen heim — die neue KI-Technologie macht sie noch gefährlicher.

Es fällt mir schwer, diese Geschichte niederzuschreiben, denn auch jetzt, ein Jahr danach, wird mir noch kalt, wenn ich daran denke.

Vertieft in die Arbeit

Ich saß an meinem Schreibtisch, vertieft in einen kniffligen Text. Mein Mann, im Nebenzimmer, recherchierte und telefonierte, deshalb war, anders als sonst, die Tür zwischen unseren Büros geschlossen.

Wenn Frauen knifflige Texte schreiben, erstellen sie ja gern gleichzeitig noch Einkaufslisten und Essenspläne ..., darüber hatte ich die Zeit vergessen und sagte, als mein Mann die Tür hinter mir öffnete, reflexartig und ohne mich umzudrehen: „Müssen wir schon los?“ — Essenseinladung: goldene Hochzeit im Freundeskreis, ein halbes Jahrhundert! Das würden wir nicht mehr schaffen, dafür hatten wir uns zu spät kennengelernt. Aber immerhin gefunden, zum Glück.

Es ist etwas Furchtbares passiert

„Liebes …“, sagte er. Die Stimme hinter meinem Rücken ließ mich gefrieren, und so wandte ich mich auch jetzt nicht um. „Es ist etwas Furchtbares passiert …“

Ich hob nur den Blick vom Bildschirm und starrte über meinen PC hinweg aus dem Fenster zum blühenden Pflaumenbaum.

Hinter unserem Garten liegt ein freies Feld; in der Ferne, am Horizont, sieht man den Olympiaturm, ganz klein. Olympia 1972. Anschlag. Olympia-Einkaufszentrum 2016. Amokläufer.

„Was?“, fragte ich, ohne mich zu rühren. Erdbeben? Tsunami? Feuersbrunst? Messerstecher? Krieg?

Er nannte den Namen seiner Tochter. „Was ist mir ihr?“ — „Unfall.“ „Hat dein Schwiegersohn angerufen?“, wollte ich fragen, doch da … Da trat mein Mann neben mich, den Hörer noch in der Hand. Er war grau im Gesicht. Also kein Blechschaden. Rettungsdienst? Krankenhaus? Koma? Ich konnte kaum atmen. „Ist sie verletzt?“ Er schüttelte den Kopf. „Aber sie hat … die andere Autofahrerin … ist tot.“

Sie hat eine Frau totgefahren

Ich presste die Ellbogen auf den Schreibtisch und die Hände auf den Mund. Während mein Mann erzählte, flüsterte ich nur immer wieder „Nein!“ in meine Handflächen.

„Die andere hatte ihre zwei Kinder dabei. Eins davon ist schwer verletzt.“ Oh Gott, oh Gott, Mutter von zwei Kindern fährt Mutter von zwei Kindern tot. Am Wohnort der Tochter sei es passiert; in der Kaiserstraße, vor ungefähr zwei Stunden. Wollte sie nicht heute zum Elternsprechtag? War sie auf dem Weg dorthin?

„Wer ist … wer …?“ Er hob nur wortlos die Schultern. „Sie?“ Er nickte. Oh Gott, auch noch schuldig. Nein. Hoffentlich überlebt das Kind. Bitte. Wenigstens das Kind. Kommt man dafür ins Gefängnis? Dafür kommt man ins Gefängnis.

Sie ist bei der Polizei

„Ja. Er sagt, sie hat telefoniert, mit dem Handy.“ Sonderbar. Passt gar nicht zu ihr. Sie ist doch sonst so vernünftig. Aber wenn der Schwiegersohn das sagt …

„Ist er noch dran?“ Mein Mann hielt noch immer den Hörer in der Hand. „Ja. Sie ist bei der Polizei; sie hat so geweint, konnte kaum sprechen. Grad war der Polizeibeamte dran; ich soll in der Leitung bleiben, er will mich mit dem Staatsanwalt verbinden. Telefon ist auf laut gestellt, kannst gleich mithören.“

Tochter. Weint. Unfall. Tod. Polizei. Staatsanwalt.

„Es geht um Kaution, so was. Sie müsste dann nicht gleich in U-Haft, sondern könnte erst mal nach Hause.“ Tochter weint Unfall Tod Polizei Staatsanwalt Untersuchungshaft — Kaution???

Das ist ein Schockanruf

„Stopp! Fake! Leg auf! Das ist ein Schockanruf! Leg auf!“ Es knackte in der Leitung. „Mein Mann riss den Hörer ans Ohr: „Hallo?“ — „Leg auf!!!“ — „Ist niemand mehr dran.“ — „Die haben uns gehört.“ Er starrte mich wortlos an. „Das war ein Schockanruf!“ — „Du meinst …“ — „Ja, Telefontrick, voll der Beschiss! Wer hat dich zuerst angerufen, vorhin, wer hat dich benachrichtigt? Dein Schwiegersohn?“ — „Nein, erst war sie dran, und dann hat der Beamte übernommen, weil sie so fertig war.“ — „Ruf deine Tochter an. Ruf sie an!“

Sie meldete sich wohlbehalten aus dem Homeoffice, hörte dem aufgeregten Vater zu und entlockte ihm tatsächlich ein Lachen: „Ach ja, Kaution? Na, wie viel wär ich dir denn wert gewesen?“

Sind die Warnungen denn nicht allgegenwärtig?

Den Rest des Abends verbrachten wir auf dem Sofa, schockiert, erleichtert und erschrocken über uns selbst. Wie konnte uns das passieren? Na schön, es war ja nichts passiert. Außer dem Schock. Aber wieso haben wir es nicht sofort gecheckt? Hatten wir das Szenario nicht schon x-mal in der Zeitung gelesen? Sind die Warnungen nicht allgegenwärtig? Hatten wir die unfassbare Abzocke nicht auch schon mal mit einem „Wie kann man nur so dumm sein?!“ kommentiert und belächelt? Und vor allem: Wie kann man eine fremde Stimme mit der des eigenen Kindes verwechseln?

Ich verstand es noch immer nicht: „Wie konntest du eine fremde Stimme mit der deiner Tochter verwechseln?“

Das war total überzeugend

„Aber das war total überzeugend. Ich hätte schwören können, dass sie es ist. Aber alles andere …, wie kann man so bescheuert sein! Ja, spätestens auf dem Weg zur Bank wäre ich wohl noch aufgewacht. Aber wie konnte ich überhaupt auf so was reinfallen, ausgerechnet ich, wo es doch zu meinem Beruf gehört, alles zu hinterfragen!“ — „Und ich? Ich dachte, du sprichst von deinem Schwiegersohn; dass der dich benachrichtigt hat; also hab ich erst mal alles geglaubt; aber du meintest den Polizeibeamten, ähm — den sogenannten.“ — „Sag mal … gibt es an ihrem Wohnort überhaupt eine Kaiserstraße?“

Es dauerte Tage, bis wir uns beruhigt und das Geschehen analysiert hatten.

Analyse

Wir versuchten zu ergründen, was da mit uns geschehen war. Ein Hirnforscher könnte es besser erklären, ich gebe hier nur unsere unwissenschaftlichen persönlichen Erkenntnisse wieder. Die Schreckensnachricht vom schweren Unfall — zunächst einmal leider durchaus im Bereich des Möglichen — verursacht einen Schock. Der Schock lähmt das Vernunfthirn, nur das Emotionalhirn wird schlagartig hyperaktiv. Horrorfilm ab!

In der wahnwitzigen Bilderflut schlimmster Szenarien geht der letzte Rest Wachsamkeit flöten. Man nimmt überhaupt nicht mehr wahr, was einem da erzählt, vorgelogen oder befohlen wird; man folgt nur noch, wie hypnotisiert. Irgendwie erinnerte mich das ja auch an die Coronazeit.

Nur wie man die Stimme eines wildfremden Menschen mit der des eigenen Kindes verwechseln kann, das war mir nach wie vor unbegreiflich.

Das ist kein Spiel

Nun wussten wir, wie das kriminelle Drehbuch aussieht. Die polizeilichen Regieanweisungen zum Eigenschutz kannten wir ja vorher schon, theoretisch. Doch die Wirkung eines solchen Anrufs ist übermächtig. Das ist kein Spiel, das ist hochprofessionelle kriminelle Manipulation. Deshalb hier noch mal das Wichtigste:

  • Ratschläge und Warnungen der Polizei zu Anrufen, WhatsApps, Mails, SMS et cetera lesen und ernst nehmen.
  • Die Telefonbetrüger zielen auf liebende Eltern oder Großeltern ab — und oft bekommen sie die auch ans Telefon. Ganz oben auf der Beuteliste stehen Festnetzanschlussbesitzer mit altmodisch klingenden Vornamen. Friedlinde, Camilla und Isolde, Erdmann, Gernot und Gottlieb sollten ihren Telefonbucheintrag zügig löschen lassen.
  • Bei zweifelhaftem Anruf — oft eine Schreckensnachricht — sofort auflegen und die angeblich betroffene Person unter ihrer bekannten Nummer zurückrufen. Nicht die Nummer auf dem Display wählen, auch wenn dort die 110 erscheint.
  • Polizei oder Staatsanwaltschaft würden niemals (!) am Telefon Geld fordern. Jede Geldforderung ist ein Betrugsversuch, auch wenn die Geldübergabe vor einer echten Polizeistation oder vor einem Gericht stattfinden soll.
  • Nicht den Namen des Kindes nennen und damit den Betrügern verraten; also kein „Clärchen? Bist du das?“. Nein, verdammt, es ist nicht Clärchen. Es ist KI!

Gewarnt und gewappnet

Wir jedenfalls waren nun gewarnt und gewappnet. Aber man kann nicht vorsichtig genug sein: „Meinst du, wir sollten einen Erkennungscode mit den Töchtern ausmachen? Sicherheitshalber?“ Das fanden wir dann aber doch übertrieben.

Als der Schock nachließ, wurde ich wütend. Für den Fall, dass ähnliche Typen es irgendwann nochmal versuchen sollten, hatte ich schon ein paar freche Sprüche parat, so was wie „Ich kann auch so gut heulen, sogar profimäßig! Darf ich bei euch einsteigen? Was zahlt ihr denn so?“

Dann hat es auch mich erwischt

Nur wenige Wochen später waren alle Sprüche weg. Denn dann hat es auch mich erwischt.

Mein Mann hat einen Festnetzanschluss, ich habe einen eigenen. An jenem Tag klingelte sein Telefon, aber er war gerade nicht in Reichweite, und so nahm ich den Anruf an seinem Apparat entgegen. „Mama?“, schluchzte meine Tochter am anderen Ende der Leitung. — „Ja?“ Sie klang wirklich verzweifelt. — „Mama, ich muss dir was sagen …“

Mama … ich muss dir was sagen …

Nein. Stopp. Nicht schon wieder! Doch. Schon wieder. Ein Betrugsversuch.

„Es ist was ganz Schlimmes passiert, Mama …“ Das ist nicht meine Tochter. Das ist ein Schockanruf. Aber die falsche Tochter sagt nicht „Mami“ oder „Mutti“, sie sagt „Mama“, so wie die richtige das sagt. „Mama … ich hab eine Frau totgefahren! … Mama?“ Die Stimme spricht wie meine Tochter und sie klingt wie meine Tochter.

Ich weiß, dies ist ein Betrugsversuch — aber ich höre die Stimme meiner Tochter

Ganz sicher werde ich jetzt nicht ihren Namen nennen, so dumm bin ich nicht. Kein „Clärchen-bist-du-das“. Aber ich kann nicht auflegen. Ich höre meine Tochter und weiß, sie ist es nicht. Ich bin erschrocken, aber nicht im Schock. Ich kann klar und logisch denken. Ich bin nicht crazy, das hier ist crazy, und ich sollte sofort auflegen. Aber ich muss die Stimme nochmal hören.

„Sag mir deinen Namen!“, fordere ich harsch. „Aber Mama! Ich bin doch deine Tochter!“ Es ist ihre Stimme, so vertraut in allen Stimmungen, Schwingungen und Nuancen und jetzt in großer Verzweiflung, mit einer Prise Vorwurf darin. Stimmlage, Tonfall, Sprachduktus: meine Tochter.

Mir wird übel

Ich rufe mich zur Ordnung. Ich bin nicht dumm: Stimmen zu erkennen und zu unterscheiden, gehört zu meinem Beruf. Ich habe ein gutes Gehör. Meine Vernunft ist nicht gelähmt, und in meinem Hirn läuft kein Film. Ich höre bewusst und sehr genau hin. Aber ich darf nicht glauben, was ich höre.

„Sag mir deinen Namen!“, fordere ich. „Aber verstehst du denn nicht?! Mama! Ich brauche deine Hilfe!“ — „Sag mir dein Geburtsdatum!“ Und dann, hilflos und kindlich-verzagt, bittet sie mich: „Dann gib mir doch mal den …!“

Was sagt sie da? Sie fragt nicht nach „Papa“. Sie nennt den Vornamen meines Mannes, der nicht ihr Vater ist und den sie deshalb auch nie „Papa“ genannt hat, sondern stets mit seinem Namen anspricht. Mir wird übel. Da stürmt der Nichtpapa die Treppe herauf. Er hat schon mitbekommen, was los ist. Ich drücke ihm den Hörer in die Hand: „Mach du mal weiter. Das … das ist gruselig!“

„Nennen Sie mir Ihre Dienststelle!“

Ich rase hinunter zu meinem eigenen Fon und wähle die Nummer meiner Tochter. Nur die Fröhlichkeit, mit der sie sich meldet, unterscheidet ihre Stimme von der, die mir eben ins Ohr geschluchzt hat. „Sie nennen mir jetzt sofort Ihre Dienststelle!“, höre ich oben meinen Mann ins Telefon brüllen. Dann ist der Spuk vorbei.

KI?

Am Tag darauf, bei der Arbeit im Synchronstudio, klagte ein Kollege, irgend so ein verd… A…loch habe seine Profisprecherstimme geklaut und stelle nun alle möglichen Videos mit dieser geraubten Stimme ins Netz. Und er fragte, ob und wie man sich dagegen wehren könne. Das wusste aber niemand.

KI!

Einige Monate später besuchte ich einen Einführungskurs zur künstlichen Intelligenz (KI). Und erfuhr:

Neuerdings kann die KI auch Stimmen fälschen. Ein Sekunden-Stimmschnipsel der Originalstimme reicht aus, um mit der so gewonnenen Doppelgängerstimme ganze Gespräche führen zu können.

Da wurde mir gleich noch einmal schlecht.

Offene Fragen

Woher die kriminellen Mistkäfer den Vornamen meines Mannes hatten, war nicht schwer zu erraten: aus dem Telefonbuch. Aber wo hatten die verdammten Ganoven die Stimme meiner Tochter abgefischt? Warum gerade ihre? Und wer hätte wissen können, dass ich die Mutter ebendieser Tochter bin? Ich stehe längst nicht mehr im Telefonbuch. Und der fiese Anruf galt ja nicht mir — er galt meinem Mann, ich nahm ihn nur zufällig entgegen. Die Gangster hatten einen Mann mit altmodischem Vornamen angewählt und bekamen, unerwartet, eine „Mama“ an die Strippe — und die war nicht kooperativ. Aber warum hat die Stimme dann nicht nach „Papa“ gefragt? Das hätte doch nahegelegen. Wieso fragte die Stimme so, wie auch meine Tochter gefragt hätte? Wusste da jemand über die Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid? Woher? Oder war das alles Zufall? Oder fing ich an zu spinnen?

Irgendwann habe ich aufgehört zu grübeln. Es wurde mir zu unheimlich. Aber ich wundere mich nicht mehr darüber, dass sogar schon ein bekannter Kriminologe (2) auf diese Betrugsmasche reingefallen ist.

Und ein Codewort sollten wir jetzt vielleicht doch mal ausmachen. Nur besser nicht am Telefon.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2024-09/63390028-bundesweit-mehr-als-117-millionen-euro-schaden-trickbetrueger-immer-erfolgreicher-enkeltrick-falsche-amtstraeger-schockanrufe-knapp-99-000-betrug-007.htm
(2) https://www.rtl.de/cms/fakeanruf-von-falschen-polizisten-kriminologe-christian-pfeiffer-faellt-auf-schockanruf-rein-5002435.html

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