Das letzte Halali ist geblasen, und der Palmer blieb auf der Strecke. Mein Disclaimer könnte so lauten: Ich war einer der ersten Pfarrer im Land, die im Pfarrhaus und in der Kirche Kirchenasyl für Flüchtlinge aus aller Welt organisierten — dunkelhäutig oder nicht, das war nie die Frage. Wenigstens nicht für mich und meine Familie und mein Umfeld. Das Problem tauchte erst später einmal auf, als zu meinem Geburtstag eine ganze dunkelhäutige Delegation der Geflüchteten zur Gratulation kam, um ihren Dank abzustatten und ihre Verehrung. Und ein kleines Mädchen aus der Gemeinde lief durch den Garten und rief: „Versteckt euch, versteckt euch, die Neger kommen!“ Woher hatte es diese Furcht vor dem schwarzen Mann? Ist die älter als wir? Älter als unser Tun und unser konkretes Verhalten? Und wenn ja, wie kriegt man das weg? Und ist es das, was wir uns heute in unseren Seelen oder in unserem Unterbewussten anschauen müssen? — Ich bin dabei.
Und jetzt Disclaimer Nummer zwei, weil man ja nicht weiß, was einem alles um die Ohren gehauen wird, was nichts damit zu tun hat: Homosexuell begabte Menschen gehörten immer schon zu meinen besten Freunden, unter anderem habe ich sie als Taufpaten ausgesucht. Und jungen Gemeindegliedern, die in der nahen Kreisstadt ein anderes Geschlecht ausprobieren wollten oder mussten, stand ich schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bei und versuchte es den Eltern zu erklären. Mit mehr kann ich jetzt spontan nicht dienen. Hört ihr mir überhaupt noch zu? Ich bin jetzt 76 Jahre alt. Zählt das Alter noch? Zählt noch, was ich erfahren habe?
Über viele Jahre habe ich als junger Student in Tübingen morgens auf dem Marktplatz vor dem Rathaus gestanden und wie in einem Oberseminar das gute Predigen studiert. Ich wollte, dass meine Worte wirken. Mein Lehrer war ein Obsthändler und seine Art, wie er mit den Leuten redete. Mein Lehrer war Helmut Palmer, der Vater von Boris Palmer. Er war nicht nur ein begnadeter „Prediger“, weswegen ich ja da stand und lernte und lernte. Statt Kirchensprache die Sprache des Volkes, statt intellektueller Distanz Volksnähe ohne Berührungsängste und auch, dass die Predigt beim Predigen entsteht und nicht im Studierzimmer! Der Palmer wusste das. Die Kirche weiß es bis heute nicht.
Und dann die Wirkmacht der Bilder und Symbole, wenn er wieder einmal irgendein Gemüse oder sonst was in die Hand nahm, um den Umstehenden etwas klarer zu machen! Also vielleicht ein grünes Blatt nehmen und erklären, wie schnell es braun werden kann, wenn es von seinen Wurzeln abgeschnitten leben will — all das wusste und lehrte er. Er war ein Genie. Ein Mann, ein Wort. Ein Verkäufer der anderen Art. Ein Missionar, ein Kämpfer eben, der gegen den immer noch fruchtbaren braunen Schoß in unserer Gesellschaft ankämpfte und sich ohne Rücksicht auf eigene Verluste und Familie — wie sein Sohn später auch — in die Bresche warf.
Ich habe ihn bewundert, wie er da und dort auf der Ladefläche seines Obstwagens stand und agitierte und die „Nazis“ da und dort und überall ausmachte. Ich habe ihn bewundert wegen seines Mutes, wie unerschrocken er immer und immer wieder lieber ins Gefängnis ging, als sich für etwas zu entschuldigen, bei dem er keine Schuld sah. Also immer dann, wenn sich wieder einmal ein kleiner oder großer Herr auf den politischen Schlips getreten fühlte und Palmer mal wieder mithilfe der oft willfährigen Obrigkeitsjustiz ins Gefängnis ging. Palmer, der Rebell aus dem Remstal, seligen Angedenkens, du warst Salz in den Wunden der Mächtigen und in der oft faden Suppe der Demokratie! Was hat das mit deinem Sohn gemacht?
Später wurde ich selbst einmal ein „Opfer“ seiner antifaschistischen Mission. Als landesweit bekannte Glotzgröße, vulgo TV-Pfarrer, war ich zu einem Gottesdienst nach Schorndorf ins Remstal eingeladen worden, dem Heimatort der Palmers. Und weil die Kirche zu klein war, fand die Veranstaltung in einer großen Sporthalle statt. Und da stand mein Helmut Palmer mit einem riesigen Transparent vor dem Eingang und warnte die Gläubigen davor, in meinen Gottesdienst zu gehen. Er prangerte die Pfaffen und das Fernsehgeschäft an und die unheilige Allianz von Staat und Kirche und nutzte die letzte Möglichkeit, an alle zu appellieren, nicht zum Fliege zu gehen. Mit mäßigem oder keinem Erfolg. Aber das war ihm immer schon egal. Last man standing! Das erkennt man in seinem Sohn bis heute.
Da bin ich dann unmittelbar vor dem Gottesdienst zu dem Alten gegangen, habe mich ein wenig anschreien und angiften lassen, Auge in Auge, ganz nah, und dann habe ich ihm von mir erzählt und unseren heimlichen gemeinsamen Jahren damals in Tübingen auf dem Marktplatz und davon, was ich von ihm gelernt habe, und ihm wohl klargemacht, dass eine tiefe schöpfungsverbundene Spiritualität nicht automatisch dem Bündnis von Kirche und Staat dient. Da verstummt er, schaut mich an, rollt sein riesiges Transparent ein und geht. Ich aber gehe in die „Kirche“ und denke zwischen Predigt und Vaterunser: Was passiert da jetzt draußen? Stürmt der Palmer gleich die Halle? Nix ist passiert!
Doch, etwas Großes ist passiert! Das Größte, was unter Menschen überhaupt passieren kann. Denn nach dem Gottesdienst, als ich mich von allen Besuchern per Handschlag und Segen verabschiedete, stand auf einmal der Palmer da, wartete, bis alle gesegnet waren, bat um Entschuldigung für seinen Eklat und brachte mir eine in der Zwischenzeit von zu Hause geholte große Kiste voller Äpfel als Geschenk und „Sühnezeichen“. Es waren Früchte vom Baum des Lebens, die uns beide in Liebe und Verzeihen, in Verehrung und Vergeben verbunden haben. Für immer.
Sind es diese Äpfel, die mich jetzt an die Seite seines Sohnes treten lassen? Schließlich drängt uns Jesus, der Meister des Lebens, dazu, als Christ ein Leben gerade so wie ein Anwalt zu führen. Also als Fürsprecher, Stellvertreter und Allesversteher durchs Leben zu gehen. Von Tübingen bis Moskau und zurück. Das geht! Und hier sogar ganz leicht, denn so viel spontane und herzliche Entschuldigung wie beim Palmer ist mir im politischen Raum nie mehr begegnet. Das ist das eine. Aber eher ist es doch auch die Familiengeschichte der Palmers, die über drei, vier Generationen — wie Jesus lehrt — auf jeden von uns wirkt. Konkret: die mittlerweile bekannte Palmer'sche Unbeugsamkeit gegen das Braune in jeder Gesellschaft! Bekannt ist auch, wie teuer sie alle dafür bezahlt haben und wie ein Sohn und ein Enkel davon geprägt wurden.
An dem Palmer-Exempel, das da im politischen Raum statuiert wurde und wird, gibt es auf vielen Ebenen viel zu lernen. Denn wenn im politischen Raum die richtigen Knöpfe gedrückt werden, dann ist man als einzelner Mensch oft genug hilflos seinen Gefühlen ausgeliefert. Last man falling!
Eine uralte Emotion kommt nach oben und eröffnet einmal mehr den Tanz aus der Reihe. Ein Palmer soll ein „Nazi“ sein?! Wie bitte? Wisst ihr nicht mehr, was ein „Nazi“ war und was heute ein „Nazi“ ist? Habt ihr gar keinen politischen Kompass mehr? Seid ihr noch bei Trost? Seid ihr also eher nicht bei Trost und darum verrückt und aus jeder Mitte und Orientierung gefallen? Und dann die ganze grün-braune Horde hinterher, die den Palmer johlend noch anstachelt — vielleicht geht da noch was! Was für ein politischer Lustgewinn, medial aufgeputscht und geputscht, und wir sind ihn los! Palmer ein „Nazi“. Und da ist sie wieder, diese Jagdmeute, die Masse, die anderen Gesetzen folgt als denen der Vernunft, der Mäßigung, der Toleranz und der Liebe.
Und wenn dann Palmer junior das Wort „Neger“ weder aus Kinderbüchern oder anderer Literatur gestrichen oder durch gestelzte Umschreibungen ersetzt noch aus Bäckereien und Apotheken entfernt sehen will — zumal es in seinem Wortschatz wie auch in meinem nur vorkommt, wenn es darum geht, das Problembewusstsein für Sprache, Sprachkontrolle und Gehirnwäsche zu schärfen —, dann hat er mich an seiner Seite als Palmerversteher. Nachgeborene sind nicht die besten Richter über die Eltern. Das hat a Geschmäckle, wie der Schwabe sagen würde.
Und dann auf einmal ist das Maß voll, und der Sohn kommt einmal mehr nach dem Vater. Kaum dass Boris Palmer endlich erkennt, dass er mit seiner harten Verteidigungstechnik Wunde um Wunde schlägt ohne jeden Erfolg, geht er in sich, erkennt seine alten Kränkungen als Krankheit an und will sich helfen lassen. Wer, bitte schön, hat denn diese Größe? Im fortgeschrittenen Alter in Therapie zu gehen?! Wo gibt’s denn so was? Was Helmut nicht lernt, lernt Boris immer mehr.
Ach ja, Boris Palmer, der grünbunte Oberbürgermeister meiner alten Universitätsstadt, wollte mich doch vor Kurzem noch als ungeimpften Querdenker ziemlich leiden und bluten lassen. Da war er noch ganz nah bei den braunen Grünen, wusste schon von schweren Impfschäden und war immer noch im Krieg gegen das Virus. Der Krieg ist verloren, wie jeder Krieg verloren und ohne Gewinner ist! Und darum längst verziehen!
Also, noch mal: Gebt Ruhe! Seid still! Kehrt in dieser Woche in aller Stille wie die Schwaben vor der eigenen Tür. Eine innere Kehrwoche wird die Krankheit heilen.
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