Stellen wir uns einen Politiker-Blackout vor. Etwa einen Politiker-Lockdown. Morgen beschließen alle Politiker, in den Streik zu gehen. Oder sie bleiben allesamt mit Burn-out im Bett liegen. Was würde das bedeuten? Wohl würde abseits von Berlin-Mitte alles seinen gewohnten Gang gehen. In vielen — nicht allen — Redaktionsstuben sowohl der Leitmedien als auch der freien-alternativen würde helle Aufregung ausbrechen. Ohne die entsprechenden Feindbilder in Gestalt der Politiker der jeweiligen Parteizugehörigkeit würden viele Redaktionen schlagartig in die Themenarmut abrutschen. Die einen hätten keine AfD-Politiker mehr, an denen sie sich abarbeiten könnten, niemanden mehr, auf den man mit der Nazi-Keule draufschlagen könnte. Und Empörungspublikationen der „anderen Seite“ hätten wiederum keine Ampel-Politiker mehr, über die man sich stundenlang auslassen könnte; keine neuen Sprachfehler von Annalena Baerbock, keine neuen Patzer von Robert Habeck, die genüsslich auseinandergenommen werden könnten.
Was würden Redakteure in solch einer Situation machen, wenn das täglich Brot darin besteht, Politiker-Skandale auszuschlachten und zu Empörungsmeldungen zu verarbeiten? Wären all die Politiker in einem wie auch immer gearteten Lockdown, dann bräuchte es ja ganz neue Themen. Das tagespolitisch gefundene Fressen aus den Verlautbarungen und Handlungen der jeweiligen Feindbild-Politiker wäre dahin, und man wäre gezwungen, auf thematische Nahrungssuche zu gehen. Man kann ja schließlich nicht nichts schreiben, podcasten oder streamen. Das gilt insbesondere für gedruckte Publikationen. Die Seiten müssen doch gefüllt werden! Andernfalls sind die Follower, Leser und Abonnenten schnell weg, oder? Oder auch nicht, denn sie würden bei gleichartigen Publikationen auf dieselbe Themenarmut stoßen, wenn der Themenschwerpunkt immerzu auf den Höckes, Habecks, Merzens, Baerbocks und Faesers dieser Welt liegt.
Ja, stellen wir uns dieses Politiker-Vakuum einmal wirklich bildhaft vor und vergegenwärtigen wir uns dann in aller Klarheit, wie viel Raum diese Menschen in der Berichterstattung, in der medialen Welt und eben auch in unserem Leben einnehmen. Die Raumeinnahme ist immens!
Ebenso immens sind mittlerweile die damit verbundenen Kosten, wenn die Kritik an Politikern zu scharf, mitunter auch beleidigend formuliert wird. Wobei „beleidigend“ relativ ist. Während es freilich Beleidigungsdelikte gibt, die unmenschlich sind, unter die Gürtellinie gehen und verständlicherweise eine strafrechtliche Ahndung mit sich ziehen, genügen heute schon vergleichsweise harmlose Begriffe wie „Schwachkopf“, um eine Anzeige wegen Volksverhetzung an den Hals zu bekommen. Ebenso müssen die Repressionen erwähnt werden, die regierungskritische Medienhäuser erfahren, während gerichtlich der Lüge überführte Staatsmedien wie Correctiv mit Preisen überhäuft werden — staatliche Preise, versteht sich.
Ebenso scheint die Parteizugehörigkeit durch Justitias Augenbinde durchzuschimmern. Werden „die Falschen“ beleidigt, wird dramatisiert, werden hingegen „die Richtigen“ beleidigt, dann wird bagatellisiert. Alice Weidel zwangsgebührenfinanziert als „Nazi-Schlampe“ zu beschimpfen, ist gerichtlich okay, weil Satire, doch wehe, ein Bürger wagt es, ein „Schwachkopf Professional“-Meme mit Robert Habeck zu teilen...
Wer Robert Habeck berechtigterweise für das planmäßige Herbeiführen einer wirtschaftlich desolaten Lage scharf kritisiert, zu scharf, der darf mitunter mit einer Geldstrafe dafür büßen. Laut Statista ist Robert Habeck unter den Bundesministern der Anzeigen-Welt-/Hauptmeister. So stellte er zwischen September 2021 und August 2024 insgesamt 805 Strafanzeigen, gefolgt von Annalena Baerbock mit 513 Anzeigen. Natürlich ist das nichts im Vergleich zu Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die — Stand September — seit Februar 2023 etwa 1.900 Strafanzeigen gestellt hat, also hundert pro Monat.
Für Robert Habeck errechnete NIUS einen Arbeitsaufwand von 16 Tagen für das Schreiben, Sichten und Abnicken der Strafanträge. Am dritten Jahrestag der Ampelkoalition, dem 7. Dezember 2024, betrug seine Amtszeit bei 360 veranschlagten Tagen pro Kalenderjahr genau 1.080 Tage, wovon er 16 Tage — circa 1,5 Prozent — nur dafür aufwendete, ihn kritisierende oder beleidigende Bürger abzustrafen. Dass dabei keine Zeit mehr für das eigentliche Tagesgeschäft bleibt und sich die primären Aufgaben stapeln wie das Geschirr in seiner Küche, ist dann nicht weiter verwunderlich. Hätte Altkanzler Helmut Kohl in seinen 16 Jahren Amtszeit den gleichen Aufwand betrieben, so hätte er 85 Tage und damit fast ein Jahresquartal nichts anderes getan, als Anzeigen zu schreiben.
Doch die Zeiten haben sich mittlerweile geändert. Und das nicht erst, seit Politiker abgetreten sind, die im Vergleich zu heutigen Amtsträgern noch irgendwo ernst zu nehmen waren. Nicht einmal zehn Jahre ist es her, da solidarisierten sich weite Teile der politmedialen Kaste mit Jan Böhmermann, als er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als „Ziegenficker“ beschimpfte. Ein wohl unumstritten härteres Wort als der vielfach neckisch verwendete Ausdruck „Schwachkopf“. Damals mokierte man sich selbst im Mainstream über das Wiederaufleben der Majestätsbeleidigung. Heute riskiert ein jeder gelbe Briefe, wenn er es auch nur wagt, einen Zacken aus der Krone der sakrosankten Politiker herauszubrechen.
Welche Systematik das mittlerweile erreicht hat, zeigt sich überdeutlich in der Unternehmenspraxis der Hate-Speech-Hunter SO DONE. Das Unternehmen wirbt damit, systematischen Online-Hass ebenso systematisch abzuschalten. Betroffene können sich über ein Meldeformular bei SO DONE melden, welches dann die entsprechenden juristischen Schritte in die Wege leitet.
Dabei wartet das Unternehmen nicht erst auf die Meldung von Betroffenen, sondern sucht selbst proaktiv mit der Hilfe von KI nach „Hassverbrechen“, um diese dann zur Anzeige zu bringen.
Die Abmahn-Schmiede führte bis Mitte November einen mittlerweile gelöschten Erfolgsstatistik-Score. Am 19. November — einsehbar dank der Wayback-Machine – lag dieser bei 7.816 angezeigten Hasskommentaren, bei 95 Prozent erfolgreich geführter Gerichtsverfahren, bei denen im Durchschnitt 591 Euro Entschädigung erstritten werden konnten. Widerrechtlicherweise warb ausgerechnet Robert Habeck für SO DONE, bis diese Verletzung der ministerialen Neutralitätspflicht von dem renommierten Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel mit Erfolg abgemahnt wurde.
Vor diesem Hintergrund stellt sich eine entscheidende Frage: Können ein Unternehmen und die dafür werbenden Politiker ein Interesse an der letztendlichen „Bekämpfung von Hassverbrechen“ haben, wenn ebendies genau das ist, wovon das Unternehmen lebt?
Kognitionsforscher Rainer Mausfeld hatte bereits sehr treffend herausgearbeitet, dass es bei einem Kampf gegen das variable X nie um die Bekämpfung von X geht, sondern um die Machtausweitung, die sich mit dem Kampf gegen das X rechtfertigen lässt (1). So geht es beim Kampf gegen Hassverbrechen auch nicht um Hassverbrechen, sondern um die sich damit zu rechtfertigende Einschränkung der Meinungsfreiheit, sowie die Genugtuung, die eigenen Kritiker nicht nur mundtot zu machen, sondern sie auch monetär in die Knie zu zwingen.
Wer im Netz emotional getrieben in seiner Ausdrucksweise nicht an sich halten kann und ausfällig wird, erliegt dem Trugschluss, dass die schriftlichen oder verbalen Beleidigungen gegenüber Politikern selbige tief im Mark treffen. Beleidigungen wie „dümmste Außenministerin der Welt“, „Schwachkopf“ oder „Kriegstreiberin“ mögen die Politiker vielleicht oberflächlich und kurzzeitig treffen, vielleicht auch durchaus eine leichte narzisstische Kränkung herbeiführen. Doch auf einer Meta-Ebene sind solcherlei Beleidigungen — und seien sie noch so hart, teilweise wirklich unmenschlich — ein Zuspruch. Denn sie signalisierenden den adressierten Politikern Folgendes: „Du bist relevant. Du bist wichtig. Du spielst in meinem Leben eine so große Rolle, dass ich Bürger das Bedürfnis verspüre, dich in der Öffentlichkeit zu beleidigen.“
Traumaforscher Franz Ruppert skizzierte sehr anschaulich die Abhängigkeit der verschiedenartigsten Tyrannen von den ihnen Untergebenen, die sich daraus ergibt, dass Erstere von der Energie der Letztgenannten leben:
„Sie (die Tyrannen) setzen bei ihrem Agieren vor allem auf Abhängigkeit. Sie wollen, dass andere Menschen von ihnen politisch, wirtschaftlich, sozial und psychisch abhängig sind. (...) De facto sind aber auch sie psychisch abhängig von anderen Menschen. Alleine, ohne den Kampf mit anderen, sind sie innerlich leer, weil sie ihre eigenen Urbedürfnisse und damit ihre positiven Emotionen abgespalten haben. Sie können sich selbst nicht mehr fühlen und müssen sich beständig mit äußeren Erlebnissen anfüllen. Täter leben von den Lebensenergien ihrer Opfer. Abgeschnitten von ihren eigenen Lebensenergien, brauchen sie die beständige Zufuhr von Lebensenergie von außen und von anderen. Sie selbst sind nur eine leere, aufgeblasene Hülle, die in sich zusammenfällt, sobald die Energiezufuhr von außen versiegt. Daher stärkt sie der Widerstand gegen sie. Sie sind auf ihn angewiesen. Im Kampf mit ihrem Volk oder der gesamten Menschheit wiederholen solche Täter den aussichtslosen Kampf um die Liebe ihrer Mutter und/oder ihres Vaters. Alle Tyrannen scheitern daher früher oder später in diesem Kampf (…). Tyrannen können also nur über ein psychisch krankes Volk herrschen und es niemals in eine lebenswerte Zukunft führen. Sie führen es immer in den Abgrund.“
Was sich daraus schließen lässt? Dass verbale oder schriftliche Entgleisungen gegenüber Politikern keinen Akt des Widerstands darstellen, auch wenn sie in einigen Fällen ob des geschehenen Unrechts menschlich nachvollziehbar sind. Davon abgesehen stellt es in gewisser Hinsicht eine Errungenschaft dar, dass sich Gesellschaften darauf geeinigt haben, Beleidigungen, die nicht von der Kunstfreiheit gedeckt sind, nicht zu tolerieren und gegebenenfalls auch zu ahnden. Selbstredend haben die letzten Jahre Doppelstandards zutage gefördert. Die Beleidigungen aus der einen Richtung werden bereits unterhalb der Bagatellgrenze verfolgt, während der anderen Fraktion keinerlei Grenzlinien gesetzt sind, nicht einmal Gürtellinien. Insofern stellen Politikerbeleidigungen abseits ihres potenziell strafrechtlich relevanten Charakters auch ein Herablassen auf ein Niveau dar, für welches sich ein jeder zu schade sein sollte. Und auf dieser Ebene unterbietet sich der Bürger nicht nur in seinem sozialen Niveau, sondern verliert eben auch Energie, was sich seit kurzem immer öfter auch monetär in Form von Strafzahlungen ausdrückt.
Das führt zu folgender Erkenntnis: Die einzig moralisch vertretbare und legale Art und Weise, Politiker zu „beleidigen“, ist zugleich die effektivste: Ignorieren!
Im widerstandgehemmten Deutschland ist es Teil der Mentalität, zuvorderst nach der Legalität eines subversiven Akts zu fragen. Für die Beantwortung dieser Frage braucht man hingegen nicht Jura studiert zu haben, um sie mit Klarheit zu beantworten: Ja, es ist legal, Politiker zu ignorieren! Aus keinem Gesetz ergibt sich die Pflicht, der Rede von Politikern, ihren Talk-Show- oder Social-Media-Auftritten Beachtung zu schenken oder ihr Versagen zu kommentieren. Bürger sind einzig an die beschlossenen Gesetze gebunden, jedoch nicht daran, den sie beschließenden Politikern Aufmerksamkeit zu schenken. Man muss sich dann vielleicht den Vorwurf gefallen lassen, man sei politikverdrossen. Aber auch das ist das gute Recht eines jeden Bürgers.
Dabei liegt dem Vorwurf eine falsche Vorstellung von Politikverdrossenheit zugrunde. Politikverdrossenheit ist nicht dem gleichzusetzen, wenn man dem Politainment-Zirkus überdrüssig geworden ist und sich lieber dafür entscheidet, seinen eigenen Wirkungsradius mit den eigenen Mitmenschen auszuschöpfen. Ja, auch das ist legal. Wenngleich in der seit Jahren laufenden Diskursverschiebung die Angst geschürt wird vor parallelgesellschaftlich sich autark machenden Menschen, die sich in Kommunen organisieren, preppen oder sich nur durch das Obst- und Gemüse-Anbauen in zu „klimaschädlich“ erklärten Gärten unabhängiger machen. Schnell steht dann der Vorwurf im Raum, das könnten Reichsbürger(-Sympathisanten) sein, während es in Wahrheit schlicht „Es-reicht-mir“-Bürger sind. Das sind die Bürger, die die Schnauze gestrichen voll davon haben, sich von einer abgehobenen, lebensrealitätsfernen und häufig minderqualifizierten Techno- und Bürokratenkaste in jeden einzelnen Lebensbereich mit infantilisierenden Vorgaben hineinfunken zu lassen – angefangen bei der Erklärung, wie man sich richtig die Hände wäscht.
Stellen wir uns nun mal wirklich eine echte Energiewende auf dieser Ebene vor, die darin besteht, dieses auf die Politiker gerichtete Spotlight zu dimmen beziehungsweise auf ganze andere Bereiche zu richten.
Dann mag halt ein Robert Habeck weiterhin alleine am Küchentisch von seiner Kaiserkandidatur schwärmen, Annalena Baerbock in ihren Reden weitere unfreiwillige Wortneuschöpfungen kreieren und Friedrich Merz bereits Pläne für den fünften Weltkrieg schmieden. Man stelle sich vor, dass alledem kaum noch jemand Beachtung schenkt und stattdessen eigene Projekte initiiert werden, die mit den auf allen Ebenen suizidalen Vorhaben der Politiker beziehungsweise ihrer hintergründigen Auftraggeber nichts mehr gemein haben. Wenn wir nun fest davon ausgehen, dass die Energie stets der Aufmerksamkeit folgt, dann wird das Abstrafen mit Ignoranz unweigerlich früher oder später zu einem Energieabfluss bei der Politikerkaste führen.
Dabei muss sich niemand den Vorwurf gefallen lassen, durch die Aufmerksamkeitsverschiebung eine Delegitimierung von irgendetwas zu forcieren. Ganz abgesehen davon, dass ein Staat nicht durch eine Handvoll Einzelpersonen delegitimiert werden kann, hat niemand den Staat in der letzten fünf Jahren so delegitimiert wie der Staat sich selbst. Nicht nur, aber gerade durch die zeitweilige Suspendierung elementarster Grund- und Menschenrechte in der Zeit der Fake-Pandemie (2), aber auch dadurch, dass das zentrale Legitimierungsritual in Gestalt der Wahlen mittlerweile vollkommen entsubstantialisiert wurde. Wenn ein ordentlicher Wahlgang mal durch vorgetäuschten, mal durch realen Papiermangel oder anderweitiger infrastruktureller Unzulänglichkeiten nicht durchgeführt werden kann — wie vielfach in Berlin geschehen —, dann kann im umgekehrten Falle bei einer ordentlichen Wahl das Ergebnis rückgängig gemacht werden, wenn es politisch nicht gewollt ist.
Was im Februar 2020 mit der Thüringer Wahl-Posse noch ein Testballon war, kann ab jetzt durch den Präzedenzfall der Rumänien-Wahl immer wieder angewendet werden: das Für-ungültig-Erklären eines Wahlergebnissees mit einem nicht beweispflichtigen, aus geheimdienstlichen Quellen stammenden Verweis auf ausländische Einflussnahme, etwa über TikTok. Davon abgesehen wird auf Seite 43 in der vom „Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit“ herausgegebenen „Smart City Charta“ von 2017 bereits mit der „Post-Voting-Gesellschaft“ geliebäugelt. Darin heißt es:
„Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen.“
Insofern ist der zukünftige Bedeutungsverlust von politischen Persönlichkeiten staatlicherseits fest eingepreist, was die Bürger erst recht dazu berechtigt, Politikern die kalte Schulter zu zeigen.
Was würden wir auch sonderlich Großartiges verpassen?
Was soll die Empörung, die den Politikern gilt, überhaupt bezwecken? In erster Linie geht es doch immer darum, dass XY wegmuss. Und dann? Dann kommen neue Gesichter. Die starten entweder direkt als neue Projektionsfläche oder als anfängliche Hoffnungsträger, die sich dann jedoch zuverlässig als neue Enttäuschung entpuppen.
Auf einen zurückgetretenen Scholz folgt entweder ein doppelter Scholz oder jemand, der noch destruktiver agiert. Dabei ist der Langzeitgedächtnisverlust erstaunlich, den manche Zeitgeschehen-Beobachter an den Tag legen. Bemerkbar macht sich das unter anderem an der vielfach entflammten Hoffnung, eine neu angetretene Union unter Friedrich Merz könne das Ruder herumreißen. Gingen viele der heutigen Verwerfungen nicht auf das Konto von Angela Merkel, die 16 Jahre im Interesse der Global-Oligarchie in Deutschland die Weichen stellte? Wie können so viele Menschen nun wieder die Hoffnung schöpfen, dass ausgerechnet ebendiese Union den Karren aus dem Dreck ziehen könnte?
Das Ganze ist vergleichbar mit dem nicht dauerhaft erfolgreichen Versuch, sich in fiebrigen Nächten abzukühlen, indem man alle paar Minuten die Decke umdreht. Für einen kurzen Moment wirkt die soeben gewechselte Deckenseite erfrischend auf den Körper, ehe sich nach wenigen Minuten erneut die Hitze einstellt, die man durch das Deckendrehen loswerden wollte. So verbleibt man in einem ewigen Rotieren zwischen den Deckenseiten, die für wenige Minuten abkühlen, um dann wieder eine erstickende Wärme zu erzeugen. Erst das Weglegen der Decke kann diesen Kreislauf durchbrechen. In diesem Bildnis ist das Politainment die Decke. Besser gesagt, die Aufmerksamkeit, die wir den Politikern zuteilwerden lassen. Wie oft erlagen schon wie viele Menschen dem Trugschluss, der da lautete: „Mit dem Nächsten wird‘s besser!“ Wie oft wurde die parteiliche oder personelle Decke gedreht, nur um dann wieder den gleichen Zustand herbeizuführen? Wann tritt ein breitflächiger Lerneffekt ein?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Mit „Ignorieren“ ist nicht das gänzliche Totschweigen der Politiker und ihrer Äußerungen gemeint. Es geht vielmehr darum, sie aus dem unmittelbaren Spotlight, aus dem Hauptfokus herauszunehmen. Rein für die Geschichtsschreibung ist es archivalisch sinnvoll, die Patzer, Entgleisungen und ganz allgemein die Rhetorik dieser Personen für die Nachwelt zu dokumentieren.
Doch wo kämen Medienschaffende und Rezipienten hin, würde die gleiche Aufmerksamkeit und damit die Energie, die bislang fast ausschließlich für irgendwelche tagesaktuellen Polit-Aufreger vergeudet wurde, in andere Blickrichtungen gelenkt werden?
Sicherlich — diese neuen oder tiefergehenden Themen sind keine tiefhängenden Früchte mehr, mit denen sich mit geringem Arbeitsaufwand viele Klicks generieren lassen. Diese Themen bedürfen Einfallsreichtum sowie gründlicher Recherche, die über die bloße Reproduktion von Bildschirminhalten hinausgeht. Es wäre vonnöten, neue, bislang im alternativmedialen Kosmos unbekannte Menschen zu interviewen, statt im eigenen Saft der Gesinnungsbekanntenkreise zu baden und sich dort wechselseitig zu bestätigen. Vielleicht müssen Medienschaffende dann sogar mal den Platz vor dem Monitor verlassen und raus in die analoge Welt gehen.
Früher war das im Journalismus noch das Normalste der Welt. Dann würde ein neuer, multiperspektivischer Journalismus das machen, was Annalena Baerbock von Wladimir Putin verlangt hat — eine 360-Grad-Wende vollziehen. Wobei dann zunehmend alle oder zumindest mehr Betrachtungswinkel in den Bereich des Sichtbaren rücken. Dieser langfristige Perspektivenwechsel würde die Blicke darauf freistellen, dass die Welt vielleicht nicht „100.000 Kilometer“ groß, aber doch größer als Robert Habecks Küchentisch ist.
Dies wäre eine journalistische Perspektive auf 2025 und darüber hinaus. Aber warum ist es immer noch so, dass konstruktive, zur Partizipation oder vorbildhafter Nachahmung anregende Beiträge zuverlässig zu klickzahlentechnischen Ladenhütern verkommen, während der aktuellste Abgeordneten-Affentheater-Akt sich großer Reichweite gewiss sein kann?
Es scheint eine regelrechte Sucht zu geben, sich in einem Abschimpfen über „die da oben“ zu ergehen. Sucht ist eine geronnene Suche. Und aus Herrschersicht ist das eine durchaus vorteilhafte Sucht. Mit dieser Sucht sucht der Untergebene nämlich weder nach den entscheidenden Machtzentren noch — und das ist elementar — nach den allesentscheidenden Machtzentren, die in ihm selbst liegen. Die Verschleierung des entscheidenden und des allesentscheidenden Machtzentrums ist Teil dessen, was viele Namen kennt: Tiefenindoktrination, Programmierung, Psy Op, Social Engineering, Kognitive Kriegsführung. Dass der Mensch in korporatistischen Scheindemokratien in permanenter Beschäftigung mit Polit-Marionetten gehalten wird, dient primär dazu, ihn von seinem eigenen Potenzial fernzuhalten, ihn vergessen zu lassen, dass dieses ihm innewohnt.
Insofern ist das Antrainieren einer kalt gezeigten Schulter gegenüber den Polit-Darstellern zugleich ein Schultraining, um auf ebendiesen Schultern größere Lasten selbst tragen zu können. Wer davon Abstand nimmt, sich von den Energieräubern in politischen Ämtern kleinreden und infantilisieren zu lassen, und sich stattdessen eigenen Projekten und/oder der Innenarbeit zuwendet, wird ungeahnte Kräfte entwickeln.
Im Kraftsport ist im Übrigen das Langhantelrudern eine Übung für breite, starke Schultern. Dabei macht man mit dem Achselzucken eine Körperbewegung, die wie keine zweite Desinteresse ausdrückt. Politiker mögen die Beleidigungen nicht verdient haben – unser Desinteresse aber allemal!
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Mausfeld, Rainer, „Angst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien“, Frankfurt am Main, 2019, Seite 39.
(2) Vergleiche Christ, Alexander: „Delegitimierung, die“, in Gegendruck 2: „Staat gegen Bürger“, Mainz, 2024, Seite 52 und folgende.