Da in der Coronakrise selbst die Antifa, eigentlich der institutionalisierte Ungehorsam gegenüber staatlicher Übergriffigkeit, zur Speerspitze des Coronamaßnahmen-Gehorsams mutierte, anstatt sich auf die progressive Seite der Freiheit und gegen digitale Kontrolle und Überwachung zu schlagen, wanderte der Freiheitskampf nach rechts und mutierte dort zum Landesverrat. Wie die Studien von Luc Boltanski zeigen, gehört das sublimierte Kapern der Linken unter dem Vorwand des Guten zu den erfolgreichsten Strategien diffuser, kapitalistischer Herrschaftssysteme. Wenn Rechte aber gegen diese Strukturen opponieren, ist das vermeintlich eine Verschwörung.
War die Linke immer bereit, gegen den militärisch-industriellen Komplex zu kämpfen, so obsiegt der digital-biometrisch-finanzkapitalistische Komplex einfach dadurch, dass man ihn nicht sehen kann (keine brutalen Kriegsbilder, sondern stilles Leid der Vereinzelten); und sowieso alle in ihm gefangen sind wie in einem Fischernetz, mit ihren Smartphones, auf denen demnächst das digitale Zentralbankgeld direkt ankommt. Der heute größte Vorteil der Macht ist, dass sie sublimiert ist, selten physisch — also mit Schlagstöcken — daherkommt, daher nicht schmerzhaft ist, sondern uns tiefenpsychologisch mittels Algorithmen so umgarnt, dass stets der Eindruck entsteht, es entstehe alles freiwillig und nur für das Gute. Selten war diese Fiktion perfekter inszeniert als heute.
Demgegenüber müsste man eine neue radikale Aufklärung herstellen, die Skepsis mit Vertrauen verbindet. „Ich stelle mir die neue radikale Aufklärung wie die Arbeit von unbeugsamen, skeptischen und zugleich vertrauensvollen Weberinnen vor. Wir glauben euch nicht, sagen wir, während wir von überall die Fäden der Zeit und der Welt mit unzähligen ausgeklügelten Werkzeugen neu ordnen,“ schreibt die katalanische Philosophin Marina Garcès. Dieser Moment ist jetzt gekommen. Diesem Moment eines großen „Wir glauben euch nicht“, aus dem die Neuordnung der Welt hervorgeht, widmen wir uns gleich im dritten Teil.
Doch vorher streifen wir nur noch einmal Des Kaisers neue Kleider, auch ein schöner literarischer Stoff, um zu erfassen, was gerade passiert. Die Weber, die den Auftrag haben, des Kaisers neue Kleider zu weben, sind begeistert von ihrem neuen Stoff und rühmen sich, dass sie etwas ganz Besonderes weben würden. Nur besondere Personen könnten den Stoff sehen. Natürlich will jeder etwas Besonderes sein; auch will niemand zugeben, dass er den Stoff nicht sieht. Bis schließlich ein Kind ruft: „Der Kaiser ist nackt.“
Das Offensichtliche wird also einfach abgetan, es wird geleugnet, da alle zu der auserwählten Gruppe zählen möchten, dasjenige anzuerkennen, was die gerade Mächtigen für richtig erklären.
Mutig Widerspruch einlegen tut einzig ein Kind, das von dieser Macht noch nichts versteht und deswegen sagt, was es tatsächlich sieht.
Die eigentliche Pikanterie des Zeitgeschehens möchte man indes in der Umkehrung von Wahrheit und Lüge vermuten. Musste die DDR etwa noch sämtliche Statistiken aufwendig fälschen, um eine Wahrheit vom erfolgreichen Arbeiter-und-Bauern-Staat zu erzeugen und zu erzählen, die nicht der Wirklichkeit entsprach, so lag während Corona die Wahrheit — nämlich, dass die Maßnahmen unverhältnismäßig sind — die ganze Zeit auf der Straße: Ein Blick in die offiziellen Statistiken hätte gereicht. Aber keiner wollte die Wahrheit von der Straße aufheben. Mal ehrlich, wer braucht schon eine Wahrheit, wenn’s sich in der Lüge so viel einfacher leben lässt?
Schlimm wird es dann, wenn man nicht mehr rufen kann, „Der Kaiser ist nackt“. Wenn der Luftballon, der zwischen Wahrheit und Wirklichkeit schwebt, nicht mehr zerstochen werden kann. Denn das ist der Moment, in dem ein politisches System noch mal auf die Füße fallen und sich neuordnen kann; der Moment, in dem Wahrheit und Wirklichkeit wieder in Kongruenz gebracht werden können. Eigentlich ist das die Essenz einer Demokratie, nämlich, dass immer mal jemand rufen kann: „Der Kaiser ist nackt“, ohne gleich geköpft zu werden. Wie ich in meiner Vorbemerkung skizziert habe, ist dieser Moment mit Blick auf Corona möglicherweise genau jetzt.
Wenn indes in einer Gesellschaft eine Lüge als neue Wirklichkeit zementiert wird, dann wird es gefährlich und notwendigerweise autoritär.
Eine gute Illustration davon gibt der französische Autor Emmanuel Carrière in seinem großartigen Buch über Eduard Limonow, den Anführer der russischen Nashbol-Bewegung (1) und dessen im Wortsinn wilden Lebens. Es ist vielleicht das beste Buch über die UdSSR, Russland und seine Intelligenzija des letzten Jahrhunderts. An einer Stelle des Buches, das die Umwälzungen in Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR auf einzigartige Weise beschreibt, schreibt Carrière: Stalin war der Einzige, der nicht nur eine neue Wirklichkeit geschaffen hat, sondern der diese für lange Jahrzehnte als Wahrheit zementieren konnte.
Jeder hat gewusst, dass Stalins Chargen morden und jede Nacht Leute abführten. Fast jeder hatte einen Bruder oder Cousin, der am nächsten Tag einfach nicht mehr da war. Aber keiner hat darüber geredet, das System der Repressalien war zu hoch. Und worüber nicht geredet wird, das gibt es auch nicht. Wie sagte es Paul Watzlawick? Wirklichkeit ist das, worüber man kommunizieren kann. Ich kann nicht mehr aufzählen, mit wie vielen Leuten ich all diese Dinge in den letzten Wochen diskutieren wollte, aber die meisten haben meine Einwände ausgeblendet: Es gab keine Kommunikation mehr darüber. Du spinnst ja! Das ist meines Erachtens der Übertritt einer Grenze, der die Demokratie mindestens infrage stellt.
Die Überwindung der kognitiven Dissonanz, in der sich jeder denkende Mensch in der Sowjetunion befunden hat — das beschreibt Carrière meisterhaft —, gelingt durch Verdrängung, gestützt auf jede Menge Alkohol, Wodka in diesem Fall. Wer an die Wahrheit nicht mehr herankommt, muss sich das, was ihm als solche verkauft wird, schöntrinken, damit er daran glauben kann. Wer das nicht konnte und bei der Wahrheit blieb, landete im Gulag. So Alexander Solschenizyn, dessen Buch Archipel Gulag wohl wie kein zweites die Welt veränderte, nachdem wie durch ein Wunder ein handgeschriebenes Manuskript über verschlungene Wege im Westen landete, Solschenizyn den Literaturnobelpreis bekam und der internationale Druck auf die UdSSR von außen so groß wurde, dass Solschenizyn aus der Haft heraus nach Frankfurt ausgeflogen wurde.
Zurück zur eingangs erwähnten Beschreibung der aktuellen Situation: Die jüngsten Demonstrationen beziehungsweise „Montagsspaziergänge“ über Weihnachten in Bayern und anderswo hatten als Sprechchor „Der Geist ist aus der Flasche“. Das ist zwar nicht ganz das Gleiche wie Der Kaiser ist nackt, aber fast. Es ist der Anfang von einem anschwellenden „Wir glauben euch nicht“, das Marina Garcès im Sinn hat. Mit ein bisschen Glück könnte dieser Protest zum Beginn einer der größten Demokratisierungsbewegung der Weltgeschichte und zum Ausgangspunkt für ein radikales Umdenken unserer Wirtschafts- und Lebenssysteme werden, wie es im nächsten Kapitel auszuführen gilt. Zu allem Unglück aber wird, ganz ohne Verschwörung, sondern ganz real, mit Blick auf digitale Kontrolle, Persönlichkeitsrechte, Datenschutz oder bürgerliche Mündigkeit das Gegenteil verwirklicht: Eine Verformung unserer Demokratie, die auf lange Sicht, und zwar strukturell, deren Ende bedeuten muss.
Die Frage ist also: #wiewollenwirleben und was ist uns unsere Freiheit wert? Werden wir uns weiterhin wie betäubt einreden, dass die neue Normalität ein Ausbund an neuer Freiheit ist? Bevor wir dann möglicherweise — ungleich zu Solschenizyn und der UdSSR — feststellen, dass es diesmal kein Außen gibt, das uns zu Hilfe kommt, kein Exil mehr, in das man ein Manuskript schmuggeln könnte, weil mehr oder weniger die ganze Welt mitmacht?
Das perfide an dem heute sich ankündigenden Totalitarismus ist, dass er auf Samtpfötchen daherkommt. War es in bisherigen Epochen so, dass zuerst meist durch brutale Gewalt — etwa in den Gulags — eine Lüge zementiert wurde, so kommt die Lüge heute medial so perfekt eingekleidet daher, dass es (fast) keiner Gewalt mehr bedarf und man die schmuddelige Wirklichkeit auch gar nicht mehr gerne anschaut.
Dazu braucht es erst einmal nicht viel Gewalt, außer der Vertuschung jenes Quäntchens, mit der man derzeit viele unbescholtene BürgerInnen durch Repressalien aller Art in die Ecke eines tatsächlich radikalisierten Randes und damit in die Ohnmacht drängt, tendenziell mutlos macht und so zum Schweigen bringt. Gegen strukturelle Gewalt ist eben nicht viel Kraut gewachsen.
Wenn Hannah Arendt schreibt, dass Totalitarismus die physische Extinktion des Individuums ist, so haben die Akteure der heute eher diffusen politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen — „der Schoß ist fruchtbar noch“ — genau das aus dem letzten Jahrhundert gelernt: Totalitäre Regime, die physische Gewalt anwenden, sind out. Wie viel einfacher und angenehmer ist es da, stattdessen (nur) das Bewusstsein des Individuums zu erobern, ihm seinen ganz dem Kapitalismus unterworfenen Körper zu belassen — und doch gleichzeitig die volle Kontrolle über diese Körper und ihre vollständige Kommerzialisierung zu erhalten.
Was heißt es schon, dass wir durch unsere digitalen Geräte alle permanent überwachbar sind, wenn es doch unser alltägliches Leben so sehr erleichtert? Und welche Freude, dass es bald dank implantierter Chips noch nicht einmal mehr ein Smartphone braucht und wahrscheinlich beizeiten auch keinen Türsteher mehr. Wer will noch Einblick haben in das Gesetz, wer braucht seine eigene Tür, wenn draußen Gleichheit und Sicherheit warten? Adieu, Individuum …
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Wer schweigt stimmt zu“ von Ulrike Guérot.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Nashbol steht für Nationalbolschewismus. In Russland gründete Eduard Limonow) im Jahr 1994 die Nationalbolschewistische Partei (NBP), die im Juni 2005 als verfassungsfeindlich eingestuft und verboten wurde.
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