Der Kapitalismus lebt von Spaltung und Kontrolle. Er muss zerstören, um wieder aufbauen zu können, nur das garantiert ihm ewiges wirtschaftliches Wachstum; er muss immer stärker kontrollieren, um seine Bürgerinnen und Bürger auf Kurs zu halten. Damit der Mensch sich im Kapitalismus frei fühlt, bekommt er großzügig ein paar Wahlmöglichkeiten, am Ende aber darf er nie das große Ganze in Frage stellen, sonst wird er als Verschwörungstheoretiker diffamiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. So sichert sich der Kapitalismus gegen Angriffe von außen ab, manchmal aber macht er es noch geschickter. Dazu ein Beispiel aus der vergangenen Woche.
In der aktuellen KenFM-Sendung „Zur Sache“ fällt in der 11. Minute ein bemerkenswerter Satz. Einer der Talkgäste zum Thema „9. November ‘89 — der Beginn vom Ende des Neuanfangs?“ fragt Moderator Ken Jebsen, warum dieser in seiner Moderation eigentlich immer „ehemalige DDR“ sage, schließlich würde es im normalen Sprachgebrauch ja auch nicht ehemaliges Mittelalter heißen, oder ehemaliges Römisches Reich.
Jebsen, der für mich derzeit einer der investigativsten alternativen Medienmacher im deutschsprachigen Raum ist, pariert in gewohnter Manier mit einer zynischen Frage: „Bin vielleicht auch ich bereits ein Opfer der Propaganda der Tageschau geworden?“
Diese Szene bringt eines brillant auf den Punkt: wie wir nämlich alle, selbst die intelligentesten Köpfe unseres Landes, durch den Framing-Effekt immer und immer wieder völlig unbewusst „gehirngewaschen“ werden. Denn durch den im deutschen Sprachgebrauch weitverbreiteten und durch die Mainstreammedien unterstützten Begriff „ehemalige DDR“ wird dieses Land praktisch doppelt beendet. So soll auch nach 30 Jahren beschworen werden, dass so etwas wie die DDR, respektive der Sozialismus, niemals wieder „passieren“ dürfe.
Mit den Jahren habe ich gelernt, in genau solchen Augenblicken in die Vogelperspektive zu schalten. Und aus eben dieser betrachtet stellt sich für mich die Frage, in wessen Interesse es eigentlich ist, die DDR so zu verteufeln.
War denn am Sozialismus wirklich alles so schlecht, wie es von unseren Leitmedien und beispielsweise auch in Kinofilmen oder TV-Serien immer wieder episch dargestellt wurde und wird. Kann denn wirklich immer nur der Ossi vom Wessi lernen, wie der Mainstream es uns subversiv immer wieder ins Ohr haucht — oder vielleicht doch auch der Wessi vom Ossi?
Allein durch diese Einseitigkeit spaltet der kapitalistische Staat, der ja vorgibt, versöhnen und vereinen zu wollen. Wie passt das alles zusammen: Schaut man sich die Bemühungen der Bundesregierung an, Jahr für Jahr den Tag der Deutschen Einheit bundesweit zu einem Freudenfest für alle Deutschen auszurufen und gleichzeitig aber die Ostdeutschen immer und immer wieder medial pauschal zu diffamieren?
In einer Podiumsdiskussion mit unserem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, die ich im vergangenen Jahr auf Einladung der Demokratischen Stimme der Jugend in Hannover moderiert habe, erklärt dieser, dass er jedes Mal, wenn er in Sachsen sei, den Menschen sage, er habe Angst um die Ostdeutschen und ihre Haltung zu Fremden.
Rumms, da hat sie wieder zugeschlagen, die „Nazikeule“. Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen. Erstens: Wie kann man als ehemaliges Staatsoberhaupt Fremdenhass pauschalisieren und alle dort lebenden Sächsinnen und Sachsen über einen Kamm scheren? Und vor allem zweitens: Bekommt man durch solch eine Äußerung tatsächlich Verständnis und Frieden oder spaltet sie am Ende umso stärker? Ich denke die Antwort an dieser Stelle ist mehr als offensichtlich …
Meine nächste Frage an Wulff, ob wir nicht auch empathisch sein müssten mit Menschen und herausfinden sollten, „wo es weh tut“, um eine friedliche Lösung zu erreichen, bügelt dieser mit einer Gegenfrage ab: „Sie wollen mir jetzt aber nicht etwa Sympathie für die AFD abgewinnen?“ Nein, lieber Herr Wulff, das wollte ich ganz und gar nicht. Auch für mich ist die AFD nicht im Entferntesten eine Alternative, aber mit Ausgrenzung und weiterer Spaltung unterstützen wir am Ende genau das System, das wir nicht wollen. Wulff ist grundsätzlich in der persönlichen Begegnung ein charismatischer Mann, der Freundlichkeit und Wärme ausstrahlt. Ich bin davon überzeugt, er sagt das, was er sagt, nicht in einer bewusst bösartigen Absicht. Aber sein Weltbild scheint eben wie das der meisten Menschen ausschließlich in gut und böse unterteilt zu sein, in schwarz und weiß. Er spaltet, ohne es zu merken, und glaubt, mit seinen Mahnungen grundsätzlich Gutes zu tun.
Rückblende: Der 9. November 1989 war einer der aufregendsten Tage in meinem Leben. Ich saß vor dem Fernseher und rief meine Mutter ins Wohnzimmer: „Die Mauer ist gefallen, die DDR-Bürger dürfen reisen.“ Meine Mutter stürmte aus der Küche unserer Altbauwohnung herbei und gebannt starrten wir eine halbe Ewigkeit auf den flackernden Telefunken-Farbbildschirm. Wir konnten das Glück der Menschen auf der anderen Seite unseres Landes förmlich durch den Fernseher spüren.
Bereits einen Tag später saß ich, elektrisiert durch die Medienberichte, im völlig überfüllten Intercity von meiner Heimatstadt Bad Salzuflen nach Berlin. Ich wollte die deutsch-deutsche Geschichte mit eigenen Augen sehen, wollte dabei sein, wenn die Menschen aus Ost und West sich in die Arme fallen. Es waren Bilder, die ich ein Leben lang nicht vergessen werde, denn die 24-stündige Dauerparty an der Berliner Mauer wurde zu einem der beeindruckendsten Ereignisse in meinem Leben. Dass ich drei Jahre später als junger Radiojournalist dann auch noch Michael Gorbatschow in Gütersloh persönlich treffen und um ein Autogramm bitten durfte, setzte meiner neu gewonnenen Ostromantik die Krone auf.
Doch der Osten Deutschlands hielt noch mehr Überraschungen für mich bereit. In Kiel entwickelte ich 1994 mit einem Kollegen die Radio-Comedyserie Baumann & Clausen, die schon kurze Zeit später auch in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf tägliche Sendung ging. Ich war damals ein junger Redakteur und hatte ja gar keine Ahnung, welchen Hype wir in der DDR mit dieser Bürokraten-Comedy auslösen würden. Stundenlang standen die Magdeburger für uns Wessis im Landesfunkhaus für ein Autogramm an, auch in Dessau, Cottbus, Rostock, Halle an der Saale oder Schwerin das gleiche Bild.
Wenn ich heute an diese Jahre zurückdenke, dann kommt es mir immer noch vor wie ein verrückter Traum, denn auch unsere ersten Bühnen-Tourneen waren in den neuen Bundesländern von Anfang an immer restlos ausverkauft. Was dabei auffiel: die Herzlichkeit der Menschen, ihre Geduld, ihr Humor und ihre grenzenlose Freundlichkeit im Umgang mit uns und auch miteinander.
Eine alte Dame, um die 80 Jahre alt, kam in Dessau nach einem Auftritt auf uns zu, schüttelte uns die Hand und bedankte sich mit zitternder Stimme einfach dafür, dass es uns gibt. Sie erzählte mit Tränen in den Augen, dass ihr Mann vor zwei Jahren verstorben sei und wir am Morgen ihr einziger Grund wären, noch aufzustehen. Dutzende solcher Erlebnisse hatte ich in den vergangenen fast drei Jahrzehnten.
Der Kritiker könnte an dieser Stelle einwerfen, ja klar sind die freundlich zu euch, ihr seid ja auch bekannt aus Funk und Fernsehen. Aber eben genau das ist es nicht. Die meiste Zeit, in der ich nicht als die Comedyfigur Hans Werner Baumann verkleidet und geschminkt auf der Bühne stehe, werde ich nicht erkannt und dennoch fühle ich mich im Osten pudelwohl.
2013 schloss ich in Erfurt mit einem Straßenmusiker Freundschaft, unsere gesamte Tourneecrew kommt aus den neuen Bundesländern, auch mit unserem Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke, der ebenfalls aus der DDR stammt, verstand ich mich auf Anhieb prächtig. Aber vor allem sind es die ganz normalen Menschen im Osten, die mich immer wieder berühren. Egal ob morgens beim Bäcker, im Supermarkt, im Schuhgeschäft, im Taxi oder in der Straßenbahn — die Menschen sind selten arrogant, sind unglaublich hilfsbereit und liebenswürdig. Immer wieder staune ich auch in unserer Tournee-Crew über die Kreativität, wenn es darum geht zu improvisieren, weil etwas mal nicht so läuft wie geplant.
Warum also empfinde ich als Wessi den Ossi so anders, so positiv? Liegt es vielleicht daran, dass der Kapitalismus immer dann seine hässliche Fratze zeigt, wenn es ihm gelingt, im Menschen den Dämon zu wecken, den gierigen Zeitgenossen, der nie genug bekommen kann?
Ist der Kapitalismus sauer auf die Ostdeutschen, weil diese noch eine andere Gesellschaftsordnung kennen und viele von ihnen im Dauer-Konsum nicht ihr Lebensglück sehen? Weil es mehr um Zwischenmenschlichkeit geht und nicht um ständig größer, weiter, höher? Weil der Kapitalismus ein Kaputtalismus ist, der erst die Menschlichkeit und dann den Menschen zerstört?
Und was macht man in solch einem Fall, wenn der Mensch im Kapitalismus nicht so mitspielt, wie es das System gerne hätte? Man spaltet, man diffamiert, man holt die Nazikeule raus oder andere Keulen, die den Ungehorsamen wieder auf Kurs bringen sollen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Rechtes Gedankengut, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind immer zu verurteilen, egal aus welcher Himmelsrichtung sie kommen. Wichtig wäre jedoch, Ursachen gründlich zu hinterfragen und auch kritische Themen aufzugreifen, statt pauschale Urteile zu fällen.
Die Frage ist nun aber: Was ist die Alternative? Der Sozialismus ist ebenfalls gescheitert, die DDR war eine Diktatur, die ihre Menschen eingesperrt und an der Mauer eigene Landsleute erschossen hat. Keine Frage, die DDR hatte brutale Seiten. Doch wenn wir endlich eine Wiedervereinigung im wahrsten Sinne des Wortes erreichen wollen, dann müssen wir es selbst in die Hand nehmen. Wir müssen beginnen uns kennenzulernen und vor allem voneinander zu lernen, und ohne Arroganz und Überheblichkeit die guten Seiten beider Systeme in einem zusammenführen. Und am Ende hat sich der liebe Gott vielleicht doch etwas dabei gedacht, dass die Sonne im Osten aufgeht und nicht im Westen.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.