I.
Ein Tag wird kommen
In diesen Tagen und Zeiten einen Sinn in das Dasein hineinzubekommen, ist nicht einfach. Verschärft gilt das für jene, die nicht in starre logistische Zusammenhänge, welche bündeln und zerstreuen, eingebunden sind, weil sie etwa, aus was für Gründen auch immer, bereits aus dem System gespült worden sind oder aber schon immer bewusst einen Weg außerhalb von vorgegebenen Strukturen gesucht haben.
Bei nicht wenigen ist das dringende Bedürfnis vorhanden, einen kleinen Beitrag zu leisten beim Herumreißen des Ruders, zumindest und als erstes aber allemal überhaupt zu verstehen, was geschieht mit unserer Zivilisationen, mit der Menschheit, und dieses Verständnis, und mag es nicht das eine gültige sein, mit anderen zu teilen und ein Nachdenken anzustoßen.
Die Kanäle aber, über die das geschehen müsste, sind verstopft. Nicht nur die medialen Kanälen, vielmehr und wenig erstaunlich — und doch erstaunt es! — auch die persönlichen. Der Weg hin zum Gegenüber schließt sich, sobald „falsche“ Wörter fallen, vor allem in Deutschland, aber nicht nur da. Die Gesellschaft ist in einem Haltungskorsett mehr als nur gefangen: Sie erstickt daran und alle menschlichen Zeichen und Angebote, hier Abhilfe zu schaffen, werden blitzschnell selbst zu Würgegriffen verdreht.
Wie aus einer solchen fundamentalen Katastrophe heraus handeln? Wie Geist wieder in Gang setzen? Wie Sinn hineinbekommen?
Der direkte Weg, das Benennen der Repression im Innern und Äußern, macht Blinde nicht sehend. Die Argumentation mag noch so stimmig sein, die Belege erdrückend, es ändert nichts und facht das Militante oft weiter an.
Die Rede vom allmählichen Umschwung scheint mir mehr der Mutzusprechung zu dienen denn der Wirklichkeit. Selbst da, wo es „umschwingt“, beherrschen genau besehen überwiegend Muster der Macht das Feld.
Und doch bleibt das Bedürfnis nach dem Tropfen auf den heißen Stein. Das Bedürfnis, nicht aufzugeben, das Bedürfnis zu glauben: daran nämlich, was Ingeborg Bachmann „Ein Tag wird kommen“ genannt hat. Und selbst die Erkenntnis, wahrscheinlich werde es nicht kommen, so von Bachmann ausdrücklich formuliert, kann an der Notwendigkeit, daran zu glauben, nichts ändern. Wir sind Menschen: nicht nur in der Zerstörung, wir sind es auch in der Hoffnung — und dass die verschiedenen Seiten in einem komplexen, zuweilen sich verwischenden Verhältnis stehen, macht die Aussage nicht ungültig.
Ein Tag wird kommen: Das ist auch das undogmatische Credo zweier in der deutschen Kleinkunstszene „arrivierter“ Künstler, die — im Grunde vor Corona schon — aus dieser „Arriviertheit“ ausgetreten sind: Sibylle und Michael Birkenmeier, unter anderem Träger des Deutschen Kleinkunstpreises und des Salzburger Stiers. Von ihrem Versuch werde ich berichten, beispielhaft. Und dass ich selbst Teil des Versuchs bin, soll nicht weiter stören.
Einen sinnlichen Raum eröffnen
Texte der Erkenntnis gibt es. Nicht wenige. Diese so in einen „Zusammenhang“ zu setzen, dass die darin enthaltenen „falschen Wörter“ nicht unmittelbar zu Haltungsblockaden führen, zur Abwehr, zur Aggression: Das ist die Kunst, die gefragt ist in dieser Haltungszeit. Ein solcher Versuch fand in Basel statt (1). Sätze der Erkenntnis erschienen in einem sinnlichen Rahmen, von Schauspielern gelesen, die mit ihren Stimmen spielten, von Bildern gerahmt, die an den Wänden hingen. Musik war ebenso Teil des Festivals, das sich als Ganzes verstand, wenngleich am Anlass, der hier konkret im Zentrum steht, nicht beteiligt. Die Texte selbst, dargeboten von präzisem Mundwerk, mit feurigen Augen, mit bewegten Körpern, gänzlich undigital, wurden nicht bloß in unterschiedliche stimmlich-phonetische Kleider gehoben — auch in dialektale Varianten —, sie stammten ebenso aus unterschiedlichen Zeiten und Genres.
In einem dergestalt sinnlichen und verspielten Rahmen, so meine Einschätzung, kommen die über tausend Kanäle tief eingeprägten Schablonen eher ins Wanken.
Das Verspielte öffnet Räume für Erkenntnisse. Semantisch offene und vielschichtige Bilder nehmen vorschnellen Festlegungen die Eindeutigkeit, sodass ständig Zeichen mit im Raum sind, die, fühlt man sich durch eine Aussage in die Enge gedrängt, befreien von Inhalt und so einen wieder zugänglich machen.
Auch die „Verschichtung“ von Zeiten durch Texte aus verschiedenen Epochen, die sich gegenseitig und nicht immer planbar kommentieren, werden zu Impulsen, Dinge neu aufeinander zu beziehen und nichts Vorgefertigtes zu übernehmen.
Ästhetik unterläuft Schablonen und Radar
In einem solchen Umfeld werden nicht Schuldige am Zivilisationscrash gesucht, es wird vielmehr das Denken als sinnlicher Vorgang in Gang gesetzt. Und das war im Kern der Beitrag nicht nur des Festivals JETZT insgesamt, sondern jener Lesung vom 20. Oktober 2023 im Maison 44 in Basel im Besonderen. Beitrag dazu, die Repression, mittlerweile bis tief in Alltägliches greifend, zu überwinden.
„Kompositionen“ solcher Art — ich füge anschließend beispielhaft einen kleinen Ausschnitt aus der „Textcollage“, die am 20. Oktober inszeniert wurde, an — unterlaufen die auch innerhalb dissidenter Kreise gegebene Gefahr, vorgegebene Muster zu replizieren. Ebenso wird die Gefahr der Personalisierung von Inhalten — bei Vorträgen naturgemäß gegeben — umgangen, indem Erkenntnisse über die vermittelnde Rolle von Schauspielern, die in Szene setzen, begreifbar werden.
Politische, gesellschaftliche und geistige Erkenntnis als sinnlich inszenierter Anlass bietet eine Vielfalt, welche die Eindimensionalität eines Vortrags sprengt. Gerade weil Texte in einem ausgeweiteten Rahmen daherkommen, als Kunstanlass eben, als Lesung mit Bildern, mit Musik auch, rückt die Last der Geltung — und die ist in einer Haltungsgesellschaft immens — eher in den Hintergrund. Selbst in Menschen, die halbwegs immer noch im Systemischen verhaftet sind — sind wir das nicht alle? —, kann so etwas entstehen. Die Selbstzensur lässt mehr zu.
Sibylle und Michael Birkenmeier haben mit ihrem JETZT-Festival einen Versuch in diese Richtung gestartet. Neben analytischen und erzählerischen Texten — beispielsweise von Karl Kraus, Walter Mehring, Rosa Luxemburg und mir — waren auch Bilder präsent, deren Inhalt bei der Betrachtung entstehen und zuweilen auch oszillieren, jedenfalls nie eindeutig werden. Einige dieser Bilder, als Fotografie bloß, aber immerhin, sind auch in diesem Beitrag mit gesetzt.
Der Weg, der über eine poetische Inszenierung führt: Das scheint mir der Weg, der für die kritische Kunst — und also für Kunst, wie ich sie verstehe und wie viele meiner Generation Kunst immer verstanden haben — bedeutsam werden kann, weil er das Schöne nicht in der Kritik ertrinken lässt, sondern Ästhetik und Analyse gegenseitig schärft und formt, zuweilen — so haben es die Birkenmeiers im Grunde mit einfachen Mitteln bewerkstelligt — bis zur Betörung. Dass in einer solchen Konzeption dem Lachen eine wichtige Rolle zufällt, weil es an Erkenntnis gekoppelt ist und umgekehrt, wissen alle, die Kafka lesen.
Der Philosoph und Dichter Werner Köhne (2) hat bereits zu Beginn der Coronazeit von der Notwendigkeit gesprochen, den Radar der Repression durch Poesie zu unterlaufen. Nicht aus Duckmäusertum heraus, sondern weil solches Unterlaufen der Weg ist, starren Denkformen — auch innerhalb der Dissidenz — zuvorzukommen und Bilder und eine andere Sprache! freizusetzen, welche den Menschen überhaupt erst bewusst macht, wie sehr die politische Repression ihre eigene Poesie, also ihre Sinnlichkeit, Würde und Kreativität, bereits vereinnahmt und ausgelöscht hat.
Salopp ließe sich ergänzen: Mit Ästhetik lässt sich doch noch einiges sagen, ohne sogleich verhaftet oder behaftet werden zu können.
Das Maß an Versteckspiel ist entscheidend. Dabei ist spürbar, ob jemand das macht, weil er nicht mutig genug ist, oder ob er damit etwas ausdrückt, das in sogenannter Direktheit gar nicht ausgedrückt werden kann. Die weitere Ergänzung betrifft die Strategie: Versucht man, einen Freund, der im Narrativ ankert und doch vielleicht leise Zweifel hat, für einen Vortrag Ken Jebsens beziehungsweise Kayvan Soufi-Siavashs oder auch eines Daniele Gansers zu gewinnen, so wird er entweder sogleich ablehnen oder aber spätestens dort mental auf Blockade stellen, wohingegen die Chance deutlich größer ist, dass an einem Anlass, wie er in diesem Beitrag skizziert wird, etwas Öffnendes in sein Gehirn Eingang findet.
Selber machen und wieder nach Basel
Allein konkrete Räume für solche poetische Inszenierungen zu finden, ist nicht einfach. Aber im Kleinen und Privaten lässt sich beginnen, zumal es keine Massenangelegenheit sein kann, Denken in Gang zu setzen. Aus Tropfen auf heiße Steine werden Tropfen über kalte Steine springend. Es braucht dafür keine professionellen Künstler. Wenn sie aber da sind, die Künstler — keine Selbstverständlichkeit: Auch für Sibylle und Michael Birkenmeier haben sich die Mainstream-Kanäle weitgehend geschlossen und dazu muss man erst mal bereit sein —, so gilt es, das auszukosten und davon zu künden. Und so erwähne ich bereits jetzt, dass Sibylle und Michael Birkenmeier für den Herbst 2024 das zweite Festival der sinnlichen Erkenntnis planen. Bis dahin bleibt viel Zeit für solche poetischen Anlässe im Kleinen und unter dem Radar. In jeder Wohnung, jedem Haus.
Der folgende Ausschnitt aus der Lesung vom 20. Oktober 2023 mit Sibylle und Michael Birkenmeier kann hier nur in Textform erfolgen, ohne den Vortrag der Künstler. Beispiele der gestalterischen Umsetzung anderer Texte durch Sibylle und Michael Birkenmeier finden sich auf deren Website.
II.
(Sibylle Birkenmeier, „Technokratisches Menschenbild“, 2 m x 1 m auf Holz, Akryl und Kreide, 2021)
Abends, wenn der Tag
Abends, wenn der Tag müde, ein alter Mann an einem Brückengeländer steht
Sieht wie die Sonne violett im Dunst der Industriekamine untergeht
Wenn er sich fragt, was bin ich heut geworden?
Und was hatte Sinn?
Da steigt in ihm als Antwort auf ein hoher Ton.
Ein Ton so knirschend scharf, so bohrend fein, von keinem Bass beschwert, wie wenn ein Kahn mit seinem Kiel auf feinstem Sand auffährt.
In einem Fluss
in einem Überfluss,
fährt er auf Grund
was ist der Grund?
Er wird nicht Wort, wird nicht Begriff
Nur immer dieser knirschend scharfe Ton von einem Schiff
Ein Ton, da drin‘ da dreht sich dieser Tag
in wirrem Wirbel sinnlos vor sich hin
Wahnsinn ist dadrin‘
Dadrin‘ ist Wahnsinn.
Guten Morgen sagt der neue Tag, er weiß von nichts und schaut mich fragend an.
Morgens, wenn die Sonne aufgeht, da geht der Sinn unter. (Birkenmeier, 1989, 3)
Um Wahnsinn zu begreifen, muss man ihn fassen können. Unter Irren und Mördern.
Der Zeitpunkt, zu dem Ingeborg Bachmann ihren Text spielen lässt, ist die Sammlung der neuen alten Ordnung. Die Irren und Mörder scheinen harmlos, sitzen sie doch im Wirtshaus noch und geht es ums Reden bloß. Indes, ihre Sätze — und das war die Leistung der Denkerin Bachmann — sind harmlos nicht. Das kann nur erkennen, wer aus der Sprache, die gilt, aussteigt. Wer sich nicht in Zahlen und Tabellen einnistet, wer nicht von „Gesängen“ der Regierenden und Visionen der Konzerne sich betören lässt. Bachmann, 1961 wie gesagt, hätte die Erkenntnis eröffnet. Doch eine Chance hatte sie nicht wirklich, diese Erkenntnis.
Sie wurde überdeckt, die Gehirne geflutet, mit Spaß und Werbung und Zahlen über Jahrzehnte hin. Und wo Erkenntnis doch einmal durchdrang, griff die Rede von der Verschwörungstheorie. Selbst die, die skeptisch blieben, in Teilen erkennend, haben die Wucht des Ganzen nicht erkannt, weil selbst verstrickt. Konsum als Kunst. Konsum als Leben. Und Marketing ein Menschenrecht. Wie gesagt: UNTER Mördern und Irren existieren für Mörder und Irre keine Mörder und Irren. (Sandmann, 2021, 4)
„Das Fin de siècle hat seine Eigenschaften verpufft, es gibt keine Hoffnung mehr auf das große Tremendum. Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit, hat Bertolt Brecht gesagt. Stimmt. Jetzt bleibt uns nicht einmal mehr das. Wie soll das nun weitergehen? (...) Sogar die Katastrophe ist normal. Rentabel ist sie bestimmt, wenn die Zeit reicht, noch schnell vor Schalterschluss eine Schadenersatzklage einzureichen. Auch das ist normal. Überhaupt ist alles, was normal ist, katastrophal.“ (Basler Zeitung, 1998, 5)
(Andrea Schumacher, ohne Titel, 2022)
Der Mensch sieht sich im Gegenüber, steht auf, erwirbt die Sprache, sagt wir, tötet die Tiere, die ihn bedrohen, beginnt zu produzieren, zu dichten, sagt ich, wird entseelt, wird mechanisiert, reduziert auf den Körper, dann überführt, als Biomasse ins Gerät, und überwunden. Nanotechnik. Und immer ist‘s die Angst. Vorm Sterben. Vorm Tod. Der Weisheit letzter Schrei: dem Tod zuvorkommen, indem man zu leben aufhört. Super Idee. Lockdown. Shutdown. Klinische Ruhe. Dann Cyborgs. Geräte haben keine Angst. Ein Verfallsdatum, aber kein Bewusstsein. Und wenn eines Tages doch: Dann frieren sie sich ein. Auf dass noch Gescheitere sie dereinst wieder aus dem Eis buddeln. Beim Ende der Vernunft — einen Anfang mal vorausgesetzt — geht es brutal zu und her. Aber unter Mördern und Irren wird der Krieg gegen das Leben zum humanen Gefecht. Wer nicht teilnimmt, fällt aus der Art. Entartung eben. Nichts ist neu. Nur die Technik.
Schwierig, dem Angstwesen Menschen klarzumachen, dass die Mörder und Irren aus Bachmanns Erzählung wieder am Werk sind, hat er sein Schicksal doch gänzlich in deren Hände gelegt. Sie sollen ihn erlösen von dem Bösen. Daran beißt du dir die Zähne aus:
Deine Freunde, deine Verwandten haben sich ergeben. Sind unter ihnen, den Mördern und Irren. Die hirnrissigste Maßnahme, die offensichtlichste Vernichtung: Sie wird als Heil begriffen.
Als Übel durchaus, aber notwendig. Und je übler die Sache, je vernichtender, desto notwendiger. In der Tat: Es muss ein Riesenübel sein, das uns aus der Angst führt. Je hirnrissiger, desto einleuchtender. Je übler die Wirkung, desto richtiger der Weg. So geht Vernunft heute.
(Sandmann, 2021, 6)
Ich arbeite mit Gewalt
tätigen
und Gewalt
gefährdeten Menschen
und zwar mit Gewalt
freier Kommunikation.
Ist das bei Ihnen so angekommen?
Gut! (Birkenmeier, 2003, 7)
(Sibylle Birkenmeier, „Geimpft“, Akryl, Kreide auf Holz 180 x 130, 2020)
Wenn das Denunzieren wieder Volkssport ist, wenn jemand genötigt wird, öffentlich zu widerrufen, hat er eine unpassende Meinung vertreten, ansonsten er sein Amt verliert, wenn Gesundheit und Sicherheit wieder über alles gelten und das große eine Volk gegen Leugner, nur eine Heilssekte kann ein solches Wort setzen, und Verschwörer, vor 100 Jahren waren Juden die Verschwörer, ausgespielt werden, wenn jede Nachricht mit Todeszahlen beginnt und Grundrechte zerstört liegen, da geht immer noch was, wenn man von Quarantäne-Camps spricht und Überwachungsmechanismen greifen, gegen die jene des NS-Faschismus technisch bedingt noch Kinderspiele waren, und wenn eine Sprache wieder herrscht, die sich von Goebbels‘ Rhetorik nicht unterscheidet, wenn das alles ist, und man empört sich ob der Vergleiche, die mit dem Hitler-Regime gezogen würden, dann, ja dann befindet man sich UNTER Mördern und Irren.
Solchen klarzumachen, dass Auschwitz nicht mit Auschwitz begann, sondern mit einer Sprache, bedeutet die Quadratur des Kreises.
Es sind Denk- und Sprachmuster, die den Holocaust herbeiführen. Nicht umgekehrt. (Sandmann, 2021, 8)
Nach der Machtergreifung 1933 werteten die Leser der Fackel, wartete die ganze literarische Welt dieser Zeit in Hochspannung auf die Reaktion von Karl Kraus, dem Herausgeber der Fackel. Ein dünnes Heft erscheint. Darin als erste und einzige Wortmeldung von Karl Kraus dieses Gedicht:
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte. (Kraus, 1933, 9)
Dass Karl Kraus bereits an einem 300-seitigen Werk arbeitete, verschwieg er auch dann noch, als er in der nächsten *Fackel *einen Text veröffentlichte mit dem Titel: Warum die Fackel nicht erscheint.
Er hatte im letzten Moment den Druck seines neuen Buches „Die dritte Walpurgisnacht“ gestoppt. Nur Auszüge daraus erschienen in dieser Fackel im Sommer 1934.
Warum aber verhinderte Kraus im letzten Augenblick die Publikation dieses Werkes? Er hat beim Schreiben bemerkt, dass er dieser Zeit mit Satire und Witz nicht beikommt. Die Satire fällt unversehens unter den Gegenstand ihrer Kritik, an dem sie sich vergeblich abarbeitet. Der Gegner ist zu monströs, um ihn mit Witz aufs Kreuz zu legen. Kraus schreibt: „ Es waltet ein geheimnisvolles Einverständnis zwischen den Dingen, die sind, und mir: Autarkisch stellen sie die Satire her, und der Stoff hat so völlig die Form, die ich ihm einst ersehen musste, um ihn überlieferbar, glaubhaft und doch unglaubhaft zu machen: dass es meiner nicht mehr bedarf und mir zu ihm nichts mehr einfällt.“
„Die dritte Walpurgisnacht“, welche vollständig 1952 posthum als Buch erschien, beginnt Kraus mit den Worten: „Mir fällt zu Hitler gar nichts ein...“ und durch Einstreuen von Zitaten aus Goethes Walpurgisnacht, aus Faust 2, hebt er all seine Schilderungen aus dieser Zeit in den Bereich eines unfassbar-gespenstischen Geschehens.
Uns erging es ähnlich mit Corona. Eine inszenierte Pandemie als Satire zu erfinden, lange bevor es sie gab — einmal 2009 und später 2019 —, das fiel uns wesentlich leichter, als auf ihr tatsächliches Erscheinen dann satirisch zu antworten. Da waren wir auch erstmal sprachlos... (Birkenmeier, 2023, 10)
Die Pharma ist ein Krankenwagen, der die Leute regelmäßig vorne umfährt, damit er sie hinten wieder einladen kann. Wenn Sie es nicht glauben, dann lesen Sie die Packungsbeilage und fressen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. (Birkenmeier, 2000, 11)
(Sibylle Birkenmeier, „Gewaltsam“, Akryl auf Holz, 2 m x 1 m, 2020)
2009, bei der Schweinegrippe, fiel uns noch einiges ein. Unsere Kabarettnummer dazu nannten wir „Die Impfung“ (Birkenmeier, 2023, 12):
Sie erinnern sich: Die nächste Grippe nach der Schweinegrippe kam, natürlich, also ganz naturgemäß, es war die Affengrippe. Ein mutiertes Affenvirus D1N3, vermutlich entstanden im Zoologischen Garten, so die offizielle Version. Fachleute wussten sofort: Dieses Virus ist Handarbeit, gibt’s nur im Labor, und zwar --- nur:
Wenn der Husten eines Wüstenkamels
mit der Nierenbeckenentzündung einer schönen Laborantin
im Urin eines genmanipulierten Rhesusaffen
24 Stunden lang bei 37,3 Grad
angesetzt wird
dann entsteht dieses Affenvirus.
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Der Impfstoff ist schon patentiert
Ab die Post, jetzt wird das Virus ausgeführt
(...)
Nach sieben Tagen die Meldung kam
Dreihundert Fälle weltweit: Pandemie-Alarm.
Impfstoff? Zufällig ziemlich bereit, natürlich ungetestet,
aber kein Problem. Non, non, non, non.
Der Staat übernimmt wie immer voll
die Haftung und
die Kosten für
das Risiko.
Das heißt. Er macht gleich jetzt und hier
den großen Test mit Laborratten,
Sie ahnen’s:
Das sind wir.
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
(…)
Nein, nein, alles ganz legal, es gilt jetzt Notrecht.
Die Presse zeigt Grippe-Symptome, Horror-Bilder
jeden Morgen
Die Zunge schwillt riesig an. Man muss sie hinter den Lippen versorgen,
sonst wächst sie weiter und weiter bis sie runter auf den Boden hängt.
Kein Wunder, dass man sich jetzt vor den Impfstationen drängt.
4 Millionen impfen in vier Tagen, das sind 70 Prozent.
Die anderen 3 Millionen weigern sich aber — konsequent.
Gut, dann müssen die eben eine gelbe Armbinde tragen.
Fahren in extra Eisenbahnwagen,
Konzerte, Theater, Whisky-Bar
kommt nicht mehr in die Tüte.
Alles klar?
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Alle drohten, protestierten und schimpften,
die Affengrippe kriegten aber ausschließlich
die Geimpften.
Ihre Zunge schwillt und schwillt und brennt,
und trotzdem geht der Impfzwang mit Ja
durchs Parlament.
Die Geimpften lallen mit letzter Kraft:
Wir sind eine freie affene Gesellschaft.
Es impft der Bund, es zahlt der Bund
Hier gelbes Band, dort Affenmund.
Einzig die Pharma ist jetzt rechtlich immun
und finanziell total gesund
Die Chemie muss einfach stimmen, das ist das A und O…
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
Impfedi, ampfedi, umpfedibumm
So, aber ich bin noch nicht beruhigt, für mich liegt da noch ein Fass begraben, ein Fass ohne Boden:
Die Höhlenbewohner hatten ihre Höhlen.
Die Pfahlbauer die Pfähle und wir haben die Impfos.
Impfos sind der Rohstoff der Impformationsgesellschaft.
Und doch wissen wir von nichts. (Birkenmeier, 2009!, 13)
„Die Impfung“ wirft einen Blick auf den ganz aktuellen Gesundheitswahnsinn. Die Kabarettisten kehren vieles um, was verkehrt läuft, „impfen“ uns mit spannenden neuen gedanklichen Zusammenhängen. Suchen nach der ansteckenden Gesundheit! Was das im Zuschauer freisetzt? Neues Interesse: Wut, Mut und die Lust, für sich Entscheidungen zu treffen. Denn je mehr die Gegenwart der Vergangenheit ähnelt, desto intensiver denkt das Kabarettduo Birkenmeier in die Zukunft. (Birkenmeier, 2009, 14)
Faschismus, Kinder, ist etwas Komplexes und Einfaches zugleich. Hochkomplex und einmalig, bindet man ihn an eine bestimmte historische Situation und sagt: Genau so muss es sein, damit es faschistisch ist. Weil historisch, ist der Faschismus so immer einmalig, und so gesehen gibt es den Faschismus mit Garantie nicht mehr und man kann alles machen und sogar das Gleiche und es wird nicht Faschismus sein. Was allerdings die, die vom Totalitarismus schwafeln, machen, ist gegen die Geschichte: Sie fragen, was waren das für Muster des Handelns und Formens des Denkens, die das ausgemacht haben, was man damals Faschismus genannt hat. Und sie entdecken:
Es wird nicht debattiert, sondern einsortiert.
Man kämpft nicht mit Argumenten, stattdessen wird geflüstert und geschwiegen. Dann gebrüllt.
Auf der Straße und unter den Wohnungstüren herrscht die Angst.
Zu sagen, was man denkt, falls man noch denkt, getraut sich keiner. Am wenigsten am Arbeitsplatz.
Man spricht über Funktionales.
Es gilt nicht die Verschiedenheit, es gilt, was die Einheitspartei sagt.
Deren Segen leitet die Meldungen ein, vom Wetter bis zum Sport: Fallzahlen. Ohne Fallzahlen kein Fußballresultat, keine Sturmwarnung, keine Hautcreme. Und dass die Einheitspartei gegen außen verschieden angeschrieben ist, versteht sich. Man hat aus der Geschichte gelernt.
(...) Braucht Faschismus Juden, Kinder? Nein. Er braucht sie nicht, wenn er andere findet. Und die anderen gibt es. Gibt es immer.
(...) Der Mensch ist zu überwinden, sagt der Gnom. Muss verschwinden. Im Nichts der unendlichen Geschichte, im Reich des Digitalen. So gehen Bubenträume. — War Hitler nicht Bub genug, Kinder? — Und wer da nicht mitgeht, hinein ins Verschwinden, der verschwindet zuvor schon. Auf die alte Art. Kiefern und Knochen. Ein Unfall hier, ein Infarkt dort. Notfalls mit körperlicher Gewalt. So sagt es das Gesundheitsamt.
(...) Der Virenvater sei wieder ins Labor geschlüpft, habe ich gehört. (Sandmann, 2020, 15)
(Sibylle Birkenmeier, „Der Hüter“, Akryl auf Holz, 2 m x 1 m, 2022)
Abends, wenn der Tag
müde, ein alter Mann
an einem Brückengeländer steht
Sieht wie die Sonne violett
im Dunst der Industriekamine untergeht
wenn er sich fragt: Was bin ich heut geworden
und warum?
Mit einem Mal dreht er sich zu uns um
Er sagt: Ihr malt ein trübes Bild
Quadratschläge bohren ihre Spuren
Tief in diesen Tag...
Beharrlich, ja beharrlich pocht dagegen an
ein anderer Schlag:
ein Vorschlag, ein guter
ein Umschlag, Kamille
ein Handschlag: Jawohl, so seis!
Ein Zungenschlag: da, da, da, danke!
(...)
Und immer schlägt dein Herz
aus Zuversicht
und gegen jedes Untergehen setzt
sein Schlag einfach ein JETZT und JETZT und JETZT
Und schon Jahrhunderte
pulst wie ein Herz durch jeden Tag
der Türme Glockenschlag
Er setzt unpassend breit
mitten in die Zappel-Zeit
Sekundenlang den Gegenklang
Ich mag den Glockenschlag
So spricht der alte Tag
Und mit dem letzten Sonnenstrahl
versinkt er hinterm Birkenwald am Rheinkanal
Doch als Widerschein in einer Fensterfront
im 17. Stock
winkt er uns blinkend zu.
Viel Glock!
Seid froh, ihr müsst die Sonne
Morgen früh nicht aufgeh‘n machen
Doch dass ein Sinn aufgeht, das wohl
Und seis, dass ihr beginnt
über euch selbst zu lachen. (Birkenmeier, 1989, 16)
(Andrea Schumacher, Ohne Titel, 2022)
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Quellen und Anmerkungen:
Bei den in diesem Beitrag enthaltenen Illustrationen handelt es sich um Bilder der Malerinnen Andrea Schumacher (https://www.andrea-schumacher.ch/) und Sibylle Birkenmeier. Auf der Website des Theaterkabaretts Birkenmeier finden sich Beispiele ihrer Arbeit (https://theaterkabarett.ch/).
(1) Sibylle und Michael Birkenmeier veranstalteten im Oktober 2023 das Festival JETZT (https://theaterkabarett.ch/wpcms19/wp-content/uploads/2023/08/flyer-a4-jetzt-birkenmeier-230802-1.pdf) in Basel mit Malerei, Klassischer Musik, Jazz, Lesungen und Sonntagmorgengesprächen. Neben Sibylle und Michael Birkenmeier traten unter anderem Olga Tucek, das Ensemble Campanula, das Trio Beriosa, das Kaleidoskope String Quartet & Michael Zisman, das Alberto Garcia Trio & Gabriel Grossi sowie Felicia Birkenmeier auf. Die in den Räumlichkeiten aushängenden Bilder stammten von Andrea Schumacher und Sibylle Birkenmeier.
(2) Von Werner Köhne sind verschiedene Beiträge auf Rubikon/Manova (https://www.manova.news/autoren/werner-kohne) und in der Zeitung des Demokratischen Widerstands erschienen. Vor allem aber sind zwei poetische Bücher im Verlag Sodenkamp&Lenz herausgegeben worden: „Minima Mortalia“ und „Die Corona-Litanei“ (https://www.manova.news/artikel/eine-ausfahrt-vor-unna).
(3) Michael Birkenmeier, aus dem Programm: „ Quadratschläge“; Theaterkabarett Sibylle und Michael Birkenmeier 1989
(4) Daniel Sandmann: Unter Mördern und Irren, Rubikon/Manova 20. Januar 2021 (https://www.manova.news/artikel/unter-mordern-und-irren)
(5) Aurel Schmidt: Kolumne am Wochenende, Basler Zeitung (BAZ) 1998 (das war noch nicht der Mainstream von heute!)
(6) siehe Fußnote 4
(7) Michael Birkenmeier: A short Wort zum Sport 2003
(8) siehe Fußnote 4
(9) Karl Kraus: Man frage nicht, in: Die Fackel Nr. 888, Oktober 1933, S. 4.
(10) Moderierender Text im Rahmen der Lesung vom 20. Oktober 2023 im Maison 44 in Basel
(11) Michael Birkenmeier, aus: „Das Mediziel“, 2000.
(12) Moderierender Text im Rahmen der Lesung vom 20. Oktober 2023 im Maison 44.
(13) Michael Birkenmeier, aus: „ Die Impfung“ 2009; es ist frappant, mit welcher Präzision die Birkenmeiers mit dieser Kabarett-Nummer das Geschehen von 2020 ff. vorwegnahmen!
(14) Michael und Sibylle Birkenmeier, Pressetext zum Programm „Die Impfung“, 2009.
(15) Teer Sandmann: Das Geschwafel (von der Redaktion geänderter Titel: Die Totalitarismus-Leugner), Rubikon/Manova, 23. Dezember 2020 (https://www.manova.news/artikel/die-totalitarismus-leugner)
(16) siehe Fußnote 3