Sie fordert also: mehr Steuergerechtigkeit, damit sogar: „Reichtum umverteilen“, wie die Parole der gleichnamigen Initiative lautet, wenn nicht gar: die soziale Ungleichheit abzubauen, das heißt: der VdK ist keineswegs allein mit diesen Forderungen. Eigentlich alle großen Sozialverbände vom Paritätischen Wohlfahrtsverband über AWO und SoVD (Sozialverband Deutschland), Diakonie Deutschland, die Tafeln, der Kinderschutzbund, die Armutskonferenzen und der Deutsche Gewerkschaftsbund sind sich einig in dieser Notwendigkeit. Es ist die Stimmung im Lande, die wir mit dem Thema dieses Kongresses (wieder mal) getroffen haben. Spaltung, Ungleichheit, Ungerechtigkeit: Da haben wir alle Stichworte zusammen, die wir für unseren diesjährigen Kongress ausgegeben haben.
Verleugnung
Als wir dieses Thema für den Kongress ausgewählt hatten, da waren die Nachrichten und Talks voll mit dem Thema der Rechtsentwicklung, mit Haltungen, die vom „Verständnis für die besorgten Bürger“ bis hin zum „Gesocks“ reichten.
Wir wollten diese Entwicklung diskutieren, untersuchen, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit erschien uns die unverzichtbare materielle Grundlage, Folie. Die Populisten von Pegida und AfD zeigten, wie diese Erfahrung aufgegriffen und abgelenkt werden konnte gegen die, die sie für diese Erfahrung verantwortlich machten: die Ausländer, die Türken, und schließlich gegen die Flüchtlinge, aber auch gegen die Presse und gegen die Regierung, gegen die Politiker.
Abzulenken ist aber nicht nur die Strategie von Pegida und AfD, der Rechten also, sondern vielmehr der „Mitte“ der Gesellschaft. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ war die Behauptung der Soziologie (Schelsky 1912-1984) bereits der „Rekonstruktionsphase“ (Dutschke) der Adenauer-Zeit nach dem Ende des Hitler-Faschismus.
Es handelt sich um eine, das Bewusstsein der Bevölkerung der BRD, zumindest ihrer Führungsschickt und deren Anhänger, prägende Verleugnung der Ungleichheit, vor allem der Klassenstruktur der BRD-Gesellschaft — die (eigentliche) Spaltung: die Abspaltung dessen, was nicht sein durfte, nicht ins (Selbst)Bild passte, aus dem Bewusstsein, dem öffentlichen Diskurs.
Diese Verleugnung war (in den 68er Jahren) — kurzfristig müsste man heute im Nachhinein sagen — aufgebrochen, erschüttert — mit der Folge der Verunsicherung dieser Führungsschicht und deren Anhänger, ihren „empörten und empörenden Reaktionen“ (Peter Brückner 1972, „Sozialpsychologie des Kapitalismus, S. 151).
Mittlerweile ist die Restauration der Verleugnung fast vollständig gelungen:
- ein Armut verleugnender Armutsbericht
- die spalterische Diffamierung der „Abgehängten“
- die scheinheilige Warnung: „es drohe Altersarmut“
- die verlogene Werbung mit der „privaten Altersvorsorge“ (wo die Leute ohnehin nichts haben)
- die forcierten Exklusions- Spaltungsbewegungen: Gentrifizierung, bei gleichzeitiger Halbierung des Bestandes an Sozialwohnungen seit 1990
- die Diffamierung der sexuell übergriffigen und vorteilssuchenden Flüchtlinge, (die die Gastarbeiter abgelöst haben — und immer sind die Herren-Medien an vorderster Stelle, wenn es um das Schüren von Vorurteilen, Spaltungen geht.
- die Rehabilitierung der verkrüppelnden Einrichtungen wie Knäste, Psychiatrien, von Militär und Polizei ganz zu schweigen.
Nur der Papst wagt, diesen Zusammenhang beim Namen zu nennen: „Kapitalismus“:
Kapitalismus tötet
—Evangelii Gaudium, IV, 202
Zwar bedrohen Pegida und AfD die Eliten nicht von links, sondern von rechts, nennen also die gesellschaftlichen Ursachen des Elends nicht beim Namen: „Protest im Rahmen des Diskurses der Macht“. Ihre Parolen gegen die „Lügenpresse“ und Aktionen gegen das Establishment sprechen aber den Unmut der Entmündigten an. Die soziale Ungleichheit zu thematisieren könnte eine „Flucht nach vorne“ sein, in dieser Situation die gesellschaftlichen Ursachen (wieder) in die Diskussion zu lassen.
Haben alle verstanden?
Sind wir deshalb am Ziel unserer Wünsche? Alle haben das Problem verstanden. Und dann kam Schulz: und verkündete: „Wir brauchen soziale Gerechtigkeit“. Und wie die Medienberichterstattung aus dem Häuschen war! Und wie die Umfragewerte der SPD in die Höhe sprangen.
Ungläubig staunend muss man feststellen: Da sagt einer, was wir alle (außer der kleinen radikalen Minderheit der Rechten) denken - und schon heben ihn die Medien hoch. Und alle sind high. Schulz nennt die Probleme beim Namen und lenkt nicht auf Nebenkriegsschauplätze und Sündenböcke ab, wie die Populisten. Und: Schulz löst das Problem des Populismus: er gräbt ihnen tatsächlich das Wasser ab, statt wie Seehofer, Söder, Scheuer usw. sich selbst an deren Spitze zu setzen. Problem gelöst, weil radikal an der Wurzel angepackt?
Moment mal! Wo denn angepackt? Erst mal angesprochen, beim Namen genannt — ob angepackt, das werden wir erst nach der Wahl sehen. Wirklich? Vorher nicht?
Haben wir doch genügend Erfahrungen mit der SPD: Ist sie nicht, haben wir vergessen, dass sie (unter Schröder) es war, die mit der Agenda 2010 die Spaltung der Gesellschaft erst derart vertieft hat, dass ein SPD-Kandidat nicht mehr drum herum kommt, zu behaupten, er sei dafür, dass wir mehr soziale Gerechtigkeit brauchen.
Und der Kandidat selbst, wir wissen, was Schulz bisher politisch gemacht hat, für welche Agenden er sich eingesetzt hat. Er war in Brüssel — zwar werden wir nicht besonders genau darüber informiert — aber wir wissen, dass er die Weichen gestellt und die Hindernisse aus dem Weg geräumt hat, dass das neoliberale Projekt (der Verarmung der Bevölkerung und der Bereicherung der Reichen) ohne große Hindernisse seinen Lauf nimmt. Dagegen hat sich Schulz nie hörbar oder gar spürbar engagiert.
Und was sagt er denn unter der großen Überschrift „Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit“? Nichts, keine einzige Maßnahme, die er ansetzen wollte, keine Absage an die Agenda 2010, keine Kehrtwende aus der bisherigen Politik, die er sogar als eine „sozialdemokratische“ apostrophiert!
Will der Mann überhaupt etwas anderes machen als Merkel?
Andere Strategie der Ablenkung
Mit Schulz erleben wir eine andere Strategie der Ablenkung von den gesellschaftlichen Ursachen und Verursachern: Indem er diese Ursachen explizit benennt, herbeiruft: Wir brauchen (mehr?) soziale Gerechtigkeit — aber nichts weiter sagt. Er sagt nicht, was er dafür unternehmen will, er sagt noch nicht einmal, ob er sich zuständig fühlt: „Die enormen wirtschaftlichen Gewinne … haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erarbeitet. Die Gewinne der Unternehmen sind deutlich stärker gewachsen als die Löhne.“ „Das sollten die Tarifpartner bei ihren nächsten Verhandlungen berücksichtigen“ (Interview mit der Westfälischen Rundschau). Sie sollen sich um die Erfüllung seiner Versprechungen kümmern.
Teile der Agenda seien ein „Fehler“, den man korrigieren müsste: „ist eine seiner ersten halbwegs konkreten Festlegungen“, stellt die Wirtschaftswoche vom 27.02.2017 ungerührt fest. Und dabei ist der Artikel in der WiWo eine einzige Panik-Mache über das große Unglück, das mit Schulz über Deutschland komme, weil er eine Rot-Rot-Grüne Regierung bilden werde.
Wenn Butterwegge erklärt: „Schulz tritt mit einer Agenda an, die meiner ähnelt: Im Mittelpunkt seiner Erzählung steht die soziale Gerechtigkeit. Doch er distanziert sich nicht von der Agenda 2010 und füllt sein Leitbild bisher nicht mit Inhalt. (s. jW 11.02.2017) dann täuscht er sich (und uns?): es ist ja gerade Schulzens „Agenda“ — dass er den „Inhalt“, den er einfüllen wird, nicht zeigt
Vor allem sagt er nicht, dass er selber zu den Verursachern gehört. Was er allenfalls vorbringt: „Fehler zu machen ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist: Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden. Wir haben sie erkannt.“ An Dreistigkeit nicht zu überbieten tischt er uns rührselige Geschichtchen auf: „Ein 50-Jähriger hat mich vor Kurzem angesprochen. Der arbeite seit 36 Jahren im gleichen Betrieb — und habe Angst. Wenn der seinen Job verliert, bekommt er 15 Monate Arbeitslosengeld. Und dann geht es an seine Existenz. Das darf nicht sein.
Franziskus nannte so einen einen „heuchlerischen Katholiken“ (bei seiner Ansprache in der täglichen Messe am Morgen des 24. Februar 2017). Es sei besser, ein Atheist zu sein als ein heuchlerischer Katholik.
Und er stellt fest: das seien Menschen, die sagten, sie seien sehr katholisch, gingen immer zur Messe, (usw.), die aber nicht christlich lebten: und ausdrücklich erklärte er: dass seine solche, die zahlten ihren Angestellten keinen angemessenen Lohn, die nutzten die Menschen aus, machten schmutzige Geschäfte. Steht ihr Unternehmen kurz vor dem Ruin, so erhalten die Angestellten keinen Lohn mehr, wissen also nicht, wie sie ihre Grundbedürfnisse stillen sollen, während der Unternehmer seine Winterferien am Strand im Mittleren Osten verbringt. Solche Menschen führen ein Doppelleben, indem sie „etwas Anderes tun, als sie sagten“.
Bourdieu hatte das in die Formel „Verstecken durch Zeigen“ gefasst — womit er die Vorgehensweise jener Medien charakterisierte, die an der Herstellung und Aufrechterhaltung des herrschenden Konsens beteiligt sind.
„Technisch“, mit Hilfe der Technik, ohne dass die politische Absicht sichtbar wird, wird hier durch die Wahl des Ausschnitts der Verfolger zum Verfolgten. Beispiel: die als Berichterstattung deklarierte Dauer-Kampagne gegen Russland, oder: weiteres Beispiel: die ebenso unversöhnliche Kampagne gegen die DDR. Immer geht es um Herauslösen eines Ereignisses aus dem Zusammenhang der Geschichte, des Kontextes: „Positivismus“
Ganz sicher wird Schulz nach der Wahl etwas mit unserer Stimme machen: Er wird agieren auf der Ebene, die in seinem Satz versteckt war, die nicht genannt, nicht „ausgefüllt“ (Butterwegge) war — vor unseren Augen, die unsichtbar war und bleiben wird.
Und: Schulz wird nicht in die Verlegenheit kommen, „etwas anderes zu tun, als er versprochen hat“, wie Franziskus über das „Doppelleben des heuchlerischen Katholiken“ feststellte, vielmehr wird er das Versprechen „mit Inhalt füllen“.
Es ist also nicht so, dass es nur die Ebene dessen, was einer sagt gibt; die Ebene der Äußerung, (des Signifikanten), der verkündeten Aussage, Rede, Äußerung, (wie die Positivisten uns weiß machen wollen). Nur ist es diese Ebene, die ausschließlich gezeigt wird — uns, den Bürgern, die als Wähler gewonnen werden sollen. Und das ist auch der Grund: die Katze im Sack zu kaufen: eine andere Variante des Populismus: den „Pöbel“ einfangen — für die eigenen Geschäfte, Machenschaften, Politik. (Das gilt übrigens mutatis mutandis ebenso für die AfD: deren Geschäftsideen in ihrem Programm durchaus neoliberal formuliert sind — ganz im Widerspruch zu ihrem agitatorischen Auftreten gegen die neoliberale Politik der Regierung).
Kurz: hatten wir bisher gedacht: Populisten lenken den Unmut, Unzufriedenheit von den gesellschaftlichen Ursachen und damit von den Perspektiven ihrer Veränderung dadurch ab, dass sie diesem Unmut die Perspektive auf einen „Sündenbock“ weisen: Die Juden, die Gastarbeiter, die Ausländer, die Türken, die Flüchtlinge, die Muslime sind „schuld“ an unserem Elend, denn sie nehmen uns, was uns deshalb fehlt: unseren Wohlstand, unsere Kultur, unser Geld, die Zuwendung unserer Politiker.
Die Ablenkung von den Gründen der Misere geht jetzt ohne Sündenbock — wäre das nicht ein Fortschritt? Zumindest für die betroffenen, sie wären verschont von der Sündenbock-Rolle (und damit letztlich auch die Gesellschaft insgesamt: frei von atavistischen Zwangsritualen).
Gleichwohl: bleibt dies eine Verleugnung, Verleugnung, dessen, was nicht in die glänzende Oberfläche passt – eine Abspaltung – mit nicht weniger atavistischen Folgen: der Wiederkehr des Autoritären, wie Almuth Bruder-Bezzel in ihrem Vortrag im Rahmen der Langen Nacht der Psychoanalyse, Berlin im Juni zeigte. Die Probleme die nicht gelöst, sondern nur abgespalten, verleugnet werden, sie werden nicht auf Dauer still gestellt, befriedet. Das Abgespaltene, das Verdrängte wird zurückkehren: die Folgen der Ungleichheit, der Klassen-Spaltung der Gesellschaft.
Des Pudels Kern
In seinem Internet-Beitrag für die Internet-Plattform „scharf-links“ vom 4.2.2017 verortet Kai Ehlers das Problem der „Ungleichheit“ in dem globalen Rahmen. Er sieht die Politischen Klassen der führenden Länder und die hinter ihnen stehenden „Eliten“ ratlos, wie sie mit der aus allen Fugen schießenden globalen Expansionsdynamik und der wachsenden Ungleichheit zwischen den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung und der bedrohlich wachsenden Zahl Benachteiligter, Ausgegrenzter, „Überflüssiger“ umgehen oder sich ihrer entledigen können — bevor „diese Milliarden ihren Anteil am Reichtum der Welt immer ungeduldiger forderten, global und lokal.“
Darauf haben die Eliten keine Antwort, keine andere Antwort als das „Immer weiter so!“ (Schmickler): Aussitzen als Krisenmanagement, Verschieben auf die Zukunft, die Augen verschließen, Verleugnen, abspalten.
„Das kann auf Dauer nicht funktionieren“, so Sergej Lawrow auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz (2017) weil die Grundfragen der gegenwärtigen Entwicklung, durch Krisenmanagement allein nicht zu lösen“ seien, „solange … alle heute herrschenden Kräfte der Welt an der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise der kapitalistischen Expansion festhalten, die ja ihrerseits letztlich Ursache der Krisenerscheinungen [sind], wie wir sie heute haben.“
„Die Machtgrundlagen des Westens erodieren, die Dominanz bekommt Risse. Das fängt bei der ökonomischen Basis an: Der Anteil, den EU und USA am globalen Bruttoinlandsprodukt halten, ist — kaufkraftbereinigt — binnen nur eines Jahrzehnts von 40 auf rund 32 Prozent gefallen. Die überwältigende militärische Macht der NATO-Staaten hat außer Zerstörung nichts eingebracht: Keinen der Kriege, die sie von Libyen bis Afghanistan geführt oder zumindest angezettelt haben, haben sie gewinnen können. Stattdessen stellen sich erste Rückschläge ein. Verhandlungen über den Syrien-Krieg werden seit Ende 2016 nicht mehr von den transatlantischen Mächten, sondern von Russland geführt – unter Heranziehung der Türkei und Irans. In Libyen steht die vom Westen gestützte Übergangsregierung vor dem Kollaps, während Russlands Verbündete erstarken. Machtverschiebungen zuungunsten des Westens zeichnen sich inzwischen in so mancher Weltregion ab, von Südosteuropa bis Afghanistan“ (Kronauer Junge Welt vom 20.02.2017, S. 8).
Ein weiteres Highlight (der Internationalen Buchmesse in Havanna 2017) war die Präsentation einer kubanischen Ausgabe des im portugiesischen Original bereits 2015 erschienen Buches Paraíso perdido (Das verlorene Paradies) des Dominikaners Frei (Bruder) Betto. In bewusster Anlehnung an John Miltons weltbekanntes gleichnamiges Versepos, das davon handelt, wie Satan versucht, Gott die Macht zu entreißen, indem er als Schlange ins Paradies eindringt und den Sündenfall von Adam und Eva provoziert, beschreibt der brasilianische Befreiungstheologe den Untergang des realen Sozialismus. Aus seiner Sicht, sagte der Dominikaner, der sein Buch als »teilweise auch biografisch« bezeichnete, sei der Sozialismus die einzige Alternative, um »die Menschen aus der Armut zu befreien und die Menschheit vor der Barbarei zu schützen«. Ganz besonders berühre und ehre ihn, dass Fidel Castro ein Jahr vor seinem Tod zu diesem Werk ein vierseitiges Vorwort verfasst hat (Volker Hermsdorf (2017): Gegen das Imperium. Erinnerungen an Castro, Whistleblower und Marquez: In Havanna endete die Internationale Buchmesse. Aus: Ausgabe vom 23.02.2017).
Geht man davon aus, dass es an der Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel vorbei höchst wahrscheinlich keine Rettung der Zivilisation gibt (Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei), so können sie keine Antwort haben, da sie sich aus Gründen der Vernunft selbst abschaffen müssten.
Für den Erhalt ihres Systems haben sie aber doch Antworten, „sieht man einmal davon ab“, dass diese Antworten uns immer näher an die Schwelle zum Atomkrieg bringen. Sie erledigen womöglich gerade das Herrschaftsinstrument bürgerliche Demokratie, weil ihnen die Diktatur ganz andere Möglichkeiten bietet. Sie bereiten sich auf mögliche Massenbewegungen vor, indem sie technisch weltweit alles unter Kontrolle bringen. Sie haben die Periode der Entspannung beendet, weil Kriege ihnen immer aus der Krise geholfen haben. Diana Johnstone hat für diese „Elite“ einen neuen Begriff gefunden: „MIMIC“ oder „Military Industrial Media Intelligence Complex“.
Dass das so oder so auf Dauer nicht funktionieren kann, begreifen sie vielleicht aus ihrem Klasseninteresse heraus wirklich nicht.
Das Verleugnen der Probleme, ihrer Ursachen, es ist nicht Dummheit, sondern Klasseninteresse: man möchte die Bedingungen seiner Klassenherrschaft um keinen Preis preisgeben: Die gesellschaftliche Ungleichheit. Und zwar jene Ungleichheit, die die Klassenstruktur der Gesellschaft begründet: Deren entscheidende Bedingungen nicht die Verteilung des Reichtums ist, sondern dessen Produktion. Sie findet unter Produktionsverhältnissen statt, in denen die Produktionsmittel Privateigentum sind, statt gesellschaftliches Eigentum der Produzenten. Deshalb auch der zu allem entschlossene und ohne jede rationale Besinnung geführte Krieg gegen alles, was an diese Bedrohung des Privateigentums erinnerte.
Diese Differenz steht im Zentrum — nicht nur der Kritik der politischen Ökonomie, sondern der anthropologischen Überlegungen, der Theorie der Entfremdung von Marx. In seinen Auszügen aus James Mills (1821/1823) Buch Eléments d’économie politique von 1844 hat er diese Differenz folgendermaßen entfaltet: Dass „ich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen“ ist der Zustand der Arbeit unter der Voraussetzung des Privateigentums. Unter dieser Voraussetzung ist Arbeit „Lebensentäußerung“ statt „freie Lebensäußerung“, statt „Genuß des Lebens“ zu sein.
„Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist meine Individualität bis zu dem Punkte entäußert, dass diese Tätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Tätigkeit, darum auch eine nur erzwungene Tätigkeit und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt ist. Daher erscheint (meine Arbeit) nur noch als der gegenständliche, sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.“
Auch die Psychologie
Unter der Voraussetzung des Privateigentums kann auch die Psychologie nur Spiegel sein: Spiegel meiner Entäußerung, meiner Qual, meiner Reduzierung, des Scheins meiner Selbstäußerung, der Spiegel des Ausdrucks meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.
Um mehr zu sein als dieser Spiegel der elenden Verhältnisse muss sie, bzw. die Psychologen diese Voraussetzung (des Privateigentums), die auch die der Psychologie ist, wie wir sie kennen, in den Blick nehmen: eine Notwendigkeit der Verantwortung des Psychologen: Thema all unserer bisherigen 8 Kongresse.
Dieser Verantwortung hat Paul Parin (in den 1970er Jahren) seine engagierte Stimme gegeben als er die Notwendigkeit, die Gesellschaftskritik in die Psychoanalyse zu tragen, vertrat: erst dann sei eine individuelle Analyse als vollendet zu betrachten, wenn die Wirkungen der ins Unbewusste verdrängten gesellschaftlichen Zusammenhänge dem Bewusstsein des Analysanten zugänglich seien.
„Der Kontrast zwischen den (Gerechtigkeits-) Ideen der Herrschenden und den (Gerechtigkeits-) Ideen der von ihnen Beherrschten ist kein pathologisches Vorkommnis; er gehört zur Macht-/Ohnmacht-Struktur herrschaftsförmig organisierter Gesellschaften. Deren Interessenstruktur nicht aufzudecken und die herrschenden (Gerechtigkeits-) Ideen nicht als Verschleierungsvokabular tatsächlicher Interessen aufzudecken ist ein Verrat an dem Wissenschaftsanspruch der Sozial- und Geisteswissenschaften“ (Hermann Klenner).
Es gibt auch eine Verantwortung des Psychologen „jenseits der Couch“: die Verantwortung als Citoyen. Eine Brücke dazu hat Jaques Derrida in États d'âme de la psychanalyse (2000, S. 20) vorgeschlagen: indem er an die Beschwerdehefte erinnert, Cahiers de Doléances in denen die Wähler ihre Forderungen an die Abgeordneten der Generalstände formuliert hatten, die 1789 durch den König einberufen worden waren. Haben wir nicht in den Protokollen dessen, dem wir im psychoanalytischen setting helfen, zur Sprache zu kommen, so etwas wie die Cahiers de Douleurs aus denen wir die Cahiers de Doléances formulieren können.
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, 1941 in Leipzig geboren, studierte Psychologie, Soziologie und Politik in Würzburg und Heidelberg und lehrte an der Freien Universität Berlin. Er gilt als einer der profiliertesten Vertreter einer explizit gesellschaftskritischen Psychologie und ist erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).
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