Die ZEIT erklärte ihren Lesern kürzlich auf Facebook:
„Jesus war ein Mann, glauben die meisten. Der Historiker Anselm Schubert erforscht Beschreibungen der (sic!) Heilands. Warum der Gottessohn auch eine Frau gewesen sein könnte.“
Dazu ein Bild, das Jesus als Mann zeigt, zusätzlich versehen mit der Frage:
„Geschlechtergeschichte Jesu: War Jesus queer?“
Jener Anselm Schubert hat gerade ein Buch mit dem Titel „Jesus (m/w/d)“ geschrieben, und im Interview mit der ZEIT — hinter Bezahlschranke — wird er gefragt, ob es nicht sein könne, dass Jesus queer gewesen sei. Ja, entgegnet der Historiker, bevor seine Worte hinter dem Nebel von bezahlten Texten verschwinden, das könne schon sein. Er beruft sich auf einen norwegischen Theologen, der auch dieser Ansicht ist. Man liest noch etwas über „Eunuchen“, überlegt, den Artikel zu kaufen, und entscheidet sich dafür. Oder dagegen. Letzteres tat der Autor dieser Zeilen.
Denn warum sollte man einen solchen Text kaufen? Er wird gespickt sein mit Hinweisen und vermeintlichen Beweisen, die ein für alle Mal klarstellen, dass Jesus eine Frau war oder irgendwas Non-Binäres, wer weiß das schon? Während des Schreibens dieser Zeilen rief mir aus der Küche ein Kollege zu, dass er nicht mal daran glaube, dass es Jesus überhaupt gegeben habe, aber ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit blasphemischen Kollegen zu befassen.
Doch auch ohne den ZEIT-Text gelesen zu haben, frage ich mich, was es ändern würde, wäre Jesus eine Frau oder etwas Ähnliches gewesen. Faktisch nichts, aber es würde wohl bedeuten, dass es mehr als diese zwei Geschlechter gibt, von denen ich bisher ausgegangen bin.
Die Geschlechterfrage wäre also sozusagen offiziell geklärt. Jeder Non-Binäre könnte sich künftig auf Jesus berufen, wenn er mir Intoleranz vorwirft, was mich in eine defensive und ziemlich unangenehme Situation bringen würde.
Aber womöglich hätte es auch Vorteile bei meinem Umgang mit Vorurteilen. Das wiederum würde einer Britin helfen, die nicht mehr einkaufen gehen kann, ohne dass ihr Herz in 1.000 Teile geschreddert wird.
Herzschmerz mit Tattoos
„Es bricht mir das Herz, dass ich mit meinen Kindern keine Schulsachen mehr kaufen kann.“ Mit diesen Worten wird im MERKUR eine britische Mutter zitiert, die ständig die Blicke anderer auf sich zieht. Der gemeine Leser entwickelt unverzüglich Mitleid, denn es kann ja nun wirklich nicht sein, dass eine Mutter angegafft wird, nur weil sie mit ihren Kindern ein paar Federtaschen und Radiergummis kauft.
Doch, halt! Es gibt einen Grund für die Fleischbeschau. Die Frau hat ein paar kleine Auffälligkeiten im Gepäck:
„Denn die Mutter aus Kidderminster ist am ganzen Körper tätowiert. Auch ihr Gesicht ist völlig von Tatoos (sic!) bedeckt. Zeigt sich Melissa in der Öffentlichkeit, sorgt sie für Aufsehen. Und das nicht unbedingt im positiven Sinne.“
Frechheit! Da zieht man an einen Ort, der Kidderminster heißt und trotzdem müssen die Kids leiden. Und das nur wegen ein paar Tätowierungen oder eben auch ein paar mehr. In Zeiten wie diesen sollte es doch nun wirklich kein Problem mehr sein, wie ein Tuschkasten durch die Gegend zu ziehen, oder?
Ehrlich gesagt, das kann man auch anders sehen.
Würde ich mir vor dem Einkaufen einen Blecheimer auf den Kopf setzen, grünen Lippenstift auflegen und meine Füße in Kaffeetassen stecken, hätte ich wohl ebenfalls mit verwirrten Reaktionen zu rechnen.
Dass ich es nicht tue, hängt übrigens weniger mit diesen Reaktionen zusammen als eher damit, dass es mein Vorhaben nicht unbedingt erleichtern würde.
Was also will uns der MERKUR-Text sagen? Vermutlich, dass wir Ganzkörper-Tattoos ab sofort nicht mehr als eine Auffälligkeit, sondern als das Normalste auf der ganzen Welt betrachten sollen. Sind doch nur ein paar kleine Bilder auf dem Körper, manche nennen es Kunst, also, wo ist das Problem? Lasst die arme Mutter in Ruhe, die ihren Kindern vermutlich peinlich ist, und erzieht die Gören vernünftig, damit das Muttertier nicht mehr so leiden muss. Die Einkaufskundschaft nehmen wir uns als Nächstes vor.
Hier ist das Problem!
Ob der queere Jesus oder die tätowierte Mutter — unterm Strich sind wir angehalten, die Normalität abzulegen oder uns eine neue zuzulegen, die sich nicht mit Fragen wie Einkommen, Rente, Bildung, Energieversorgung, Ökonomie, Armut oder Infrastruktur beschäftigt. Die Vorstellung eines queeren Jesus belastet den Bundeshaushalt nicht, das schlechte Gewissen, wenn man verwundert eine von oben bis unten tätowierte Frau anschaut, erfordert keine sozialpolitischen Maßnahmen. Warum nach Berlin schauen, wenn ein Blick nach Kidderminster es auch tut?
Die gehisste Regenbogenfahne mag für mächtig viel Diskussionsstoff sorgen — ob sie im Wind weht oder im Dreck liegt, ist für reale Politik aber unerheblich. Es ist eine Meisterleistung des Ablenkens von der eigenen desaströsen und die Menschen verachtenden Politik, Themen zu setzen, die gesellschaftlich bedeutungslos sind, die Köpfe der Menschen aber trotzdem beschäftigen.
Das Problem des Problems: Es scheint keinen Weg zurück mehr zu geben. Oder spielt die Tatsache, dass in Deutschland die Ungleichheit zunimmt, im politischen Alltag eine Rolle? Ändert sich etwas, weil das Land sehenden Auges auf Kinder-, Alters- und Mittelstandsarmut zuläuft, die im Vergleich zu heute in Zukunft massiv zunehmen wird? Werden Konsequenzen aus eingestürzten Brücken gezogen, aus einem gegen die Wand fahrenden Gesundheitssystem, aus wirtschaftlichen Fehlleistungen, die ihresgleichen suchen? Die Liste ließe sich fortsetzen.
Es ist wohl so: Wir brauchen Tattoos! Wir alle sollten uns in ausgedachte Geschlechterrollen hineinsteigern, Jesus Zöpfe wachsen lassen und dreimal die Woche neue Bilder auf unseren Körper malen lassen. Wir sollten uns freuen über ein Maximum an Toleranz, die adoleszente Menschen ermutigt, sich als junge Füchse zu fühlen und von non-binären Freunden zum Gassigang an der Hundeleine durch die Stadt führen zu lassen. Es ist unsere Pflicht, eine Regenbogenfahne zu hissen, und sei es nur am Spiegelschrank im Badezimmer, weil wir uns keine Gärten mehr leisten können.
Das ist unsere Perspektive, das sind die Aussichten für die Zukunft: Sie wird tolerant sein, queer und bunt angemalt. Es wird uns an nichts fehlen, außer am Nötigsten.
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