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Die zweite Wiedervereinigung

Die zweite Wiedervereinigung

Wir können die Spaltung des Landes in der Coronafrage überwinden, wenn wir unseren Gegnern zuhören anstatt sie überrennen zu wollen.

„Ich will nicht missioniert werden!“ So wurde ich kürzlich von einer Freundin zurechtgewiesen. Ein ungewohnt barscher Ton von ihr. Wir kennen uns schon recht lange, haben viele Gemeinsamkeiten und schätzen uns gegenseitig sehr. Was war passiert?

Ich hatte, im Überschwang meines Entsetzens, ihr eine Grafik zur aktuellen Sterblichkeit in Deutschland zugesandt, aus der sich meines Erachtens massive Zweifel an den Darstellungen der Leitmedien zu selbigem Thema im Corona-Kontext ergeben mussten. Statt einer kontroversen inhaltlichen Diskussion oder einem erstaunten „Oh, wie interessant!“ oder Ähnlichem kam mir geballte Emotion in Form von Angst um die Gesundheit der Familie und Eltern entgegen, die in sich hermetisch war und keine Fragen, Zweifel, einstellungskonträre Informationen durchdringen ließ. Wir begaben uns beiderseitig leicht verstimmt auf unvermintes Gebiet und sprachen über Kochrezepte, geeint wohl nur von dem leisen Zweifel an der geistigen Unversehrtheit der jeweils anderen.

Szenenwechsel:

Ein Telefonat mit einem gestandenen Handwerker, Mitte 60, ein energiegeladener, lebenserfahrener „Macher“-Typ, dessen kraftvolle Stimme plötzlich sehr belegt wurde, als wir auf Familie zu sprechen kamen: „Zwei meiner drei Kinder sprechen nicht mehr mit mir.“ Er war, wie sich herausstellte, seit seiner Teilnahme an einer Demonstration als Vater nicht mehr erwünscht. Ein tiefer Bruch in einer bis dahin intakten Familie, mitten durchs Herz.

Drittes und letztes Beispiel: Ein Ehepaar aus meiner Nachbarschaft, eigentlich ein eingespieltes Dream-Team mit langem gemeinsamem Weg, kampferprobt und fest verbunden in Freud und Leid — bisher. Doch seit einigen Monaten folgt sie Querdenkern, er folgt den Leitmedien. Seit Monaten ringen sie um Verständigung und ihre alte Normalität, mit schwindendem Erfolg. Sie vertraute mir an, dass sie an Scheidung denke.

Corona – Ein Sozial-Sprengkörper

Sicherlich kennen Sie ähnliche Beispiele: Risse, die durch lange gute Freundschaften gehen, durch kollegiale Verhältnisse, durch Beziehungen, sogar die engsten, die wir haben, zwischen Partnern, Eltern, Kindern, Geschwistern.

Gräben, die sich auftun und für die wir keine Brücken finden. In ihnen verschwinden Verständigung, Empathie, Vertrauen und auch das, was Psychologen Bindungssicherheit nennen — das Empfinden, mit jemandem unverbrüchlich tief verbunden zu sein in guten wie in schlechten Tagen, ein Stück Urvertrauen.

Ohne Übertreibung können wir inzwischen von einer gespaltenen Gesellschaft sprechen. Doch wer von uns will das? Ich denke, niemand. Was geschieht hier mit uns?

Lassen Sie uns nach historischen Erfahrungen mit Momenten der Spaltung suchen. Mir drängt sich hier der Vergleich mit den Schismen der Kirche auf, derer es viele gab, meist auch von schrecklichen Exzessen begleitet: Die frühen Gnostiker, Gegenpäpste mit unterschiedlichen Auffassungen und schließlich die Reformation — alle Gruppierungen wollten nach den eigenen Erkenntnisse leben und selig werden. Und hätten es alle beim Leben und Lebenlassen belassen, so wäre die Spur von Feuer und Blut in der Kirchengeschichte sicher geringer ausgefallen. Doch immer wieder ging es darum, einen Sieg im Kampf gegen den Andersdenkenden zu erringen, ihn zu bekehren oder andernfalls zu vernichten.

Was sehen wir heute? Vernichtung des Andersdenkenden auf digitalen Scheiterhaufen, wirtschaftliche Vernichtung von Existenzen, öffentliche Brandreden mit vernichtenden Schmähungen, Zeitungsberichte, in denen Demonstranten, Forscher, Intellektuelle beleidigt und diskreditiert oder aus Gemeinschaften ausgeschlossen und totgeschwiegen werden. Wollen wir wieder so miteinander umgehen?!

Und woher kommt diese wachsende Gewaltbereitschaft in Worten und in Taten?
Ich denke, auch dort existiert eine Parallele zu den historischen Vorgängen: Wie es damals um das ewige Leben ging, das unter Umständen auf dem Spiel stand, geht es heute um das ganz reale irdische Leben, dessen Bedrohung uns dargestellt wird in Bildern, die als moderne Varianten von Hieronymus Boschs Szenarien geballt auf uns niedergehen. Wird mein Leben oder das meiner Familie bedroht, muss ich da nicht zum Schwert greifen? Muss die Gefahr, die der Andersdenkende verkörpert, nicht schnellstmöglich eliminiert werden, gegebenenfalls auch mit Wasserwerfern und Schlagstöcken? Oder von der anderen Seite betrachtet: Wird meine Freiheit im Denken und Handeln, meine Existenz, meine gesundheitliche Selbstbestimmung in Leben und Sterben bedroht, muss ich da nicht zum heiligen Krieg rufen?

Das sind momentan die Fronten; Sicherheit und Gesundheit skandiert die eine Seite, Freiheit, Aufklärung und Selbstbestimmtheit die andere ... was ja überhaupt nicht schlimm wäre, wenn es nicht um einen Endsieg, sondern einen fairen, kontroversen Diskurs mit Bereitschaft zu gemeinsamen Lösungen ginge! Das Schisma durchzieht inzwischen Wissenschaft, Medien, Kunst und Kultur: Erwünschte Gedanken und Aussagen werden von unerwünschten getrennt und letztere diskreditiert und eliminiert, wo es eben geht. Mal am Rande betrachtet:

Was unterscheidet Bücherverbrennung eigentlich von Löschung wissenschaftlicher Beiträge bei YouTube?

Es lebe der Zweifel

Erinnern Sie sich? Spinat enthält besonders viel Eisen, die Kontinentalplatten sind unbeweglich, die Erde ist eine Scheibe, Eternit die optimale Lösung für Ihre Dachbedeckung, Contergan ein sehr gut verträgliches Schlafmittel. Wo kann es hinführen, wenn Aussagen nicht mehr hinterfragt werden dürfen? Gewissheiten und Alternativlosigkeit mögen uns Sicherheit suggerieren, aber das kann täuschen! Wollen wir wirklich wieder der öffentlichen Hinrichtung von gegen den Strom Denkenden zusehen? Wollen wir es uns leisten, erfahrene, seriöse Wissenschaftler an der Arbeit zu hindern?

Vielleicht mögen Sie nun einwenden, dass wir es ja beim Casus Corona nicht mit einer Glaubensangelegenheit zu tun haben, sondern es vielmehr um Wissen und Fakten geht.

Dazu ein salomonisches Ja und Nein: Bitte besteigen Sie kurz meine Zeitreisemaschine und beobachten Sie die Wissenschaftler von 2040 bei ihrem schallenden Gelächter über die unfassbaren Irrtümer von 2020; reisen Sie danach kurz in die 1950er-Jahre und lachen Sie herzhaft mit mir über das „Wissen“ von damals.

Wir erlangen immer mehr Wissen — und en passant auch kollektive Gesundheit! — durch permanenten, konstruktiven Zweifel, fairen, ergebnisoffenen Diskurs und die Nutzung unser aller Potenziale, niemals durch Denkverbote!

„Mit dem Wissen wächst der Zweifel“, konstatierte Goethe. „Und durch den Zweifel wächst das Wissen!“, rief er mir gerade noch hinterher, als ich ihn auf meiner Zeitreise kurz besuchte und ihm unsere heutige Misere schilderte; ich solle dies bitte unseren Fürsten höflichst von ihm ausrichten, trug er mir dringlich auf.

Eine friedliche Ko-Existenz Unterschiedlich-Denkender ist möglich!

Als Hoffnungsfunken in Zeiten des Corona-Schismas — gnadenloses Killer-Virus versus normale Grippewelle, Freiheit versus Sicherheit, restriktiver versus liberaler Staat et cetera — kann vielleicht die Ökumene als Gedanke nützlich sein: Menschen können trotz unterschiedlichen Glaubens einen gemeinsamen Nenner finden, Verbundenheit herstellen, Zwist beilegen.

Es soll sogar Verbrüderung von HSV- und St.-Pauli-Fans gegeben haben — sofern zum Beispiel ein Bayer sein Glaubensbekenntnis offenbarte. Hunde und Katzen können Freundschaft schließen, wenn man ihnen geduldig das Prinzip „Vertragen, nicht schlagen“ erklärt!

Sehen Sie sich einmal um, wieviel Porzellan wir bereits zerschlagen haben: die menschlichen Tragödien durch die Spaltung, die immensen wirtschaftlichen Schäden, die Eskalation, die sich auf den Straßen und in den polemischen Diskussionen hochschaukelt, Drohungen, Anfeindungen, Kontaktabbrüche.

Mögen wir von Glück reden, dass Steinigungen bei uns aus der Mode gekommen sind, so ist ein Shitstorm doch noch lange keine kulturelle Errungenschaft, derer wir uns rühmen könnten.

Und für die Christen unter uns: Wie wäre Jesus wohl einem Corona-Infizierten gegenübergetreten? Sogar gegenüber Aussätzigen soll er ja nicht unbedingt zum Social Distancing tendiert haben. Gut, die Fragestellung ist etwas provokant, aber dass er zum Beispiel Ungläubige attackierte und beleidigte, ist meines Wissens nach nicht kolportiert. Nicht nur christlichen Parteien könnte eine Rekalibrierung an dieser Stelle sehr von Nutzen sein. Auch würde ich gerne mal wieder ein „Fürchtet Euch nicht!“ zugerufen bekommen, es wäre zur Versöhnung ein wunderbarer Impuls!

Brücken-Bauen ist die neue Zivilcourage

Aber wieder zur Gegenwart und zur besseren Greifbarkeit der Folgen von Spaltungen noch zwei Beispiele aus unserem heutigen Alltag:

Vielleicht kennen Sie Familien, in denen es ein „braves“ und ein „unartiges“ Kind gibt. Wie wirkt sich dies auf die Geschwisterbeziehung aus? 

Vielleicht haben Sie aus dem beruflichen Kontext eine Erfahrung. Wie wirkt es sich auf ein Team aus, wenn es die „guten“ Kollegen gibt und die Fraktion „Störenfriede“?
Eltern und Vorgesetzte stehen hier in großer Verantwortung, Kooperation, Versöhnung und Miteinander zu fördern. Politik trägt eine ebensolche Verantwortung in unserer Gesellschaft, deren Umsetzung jedoch zum allgemeinen Leidwesen momentan einige Luft nach oben lässt.

Streitkultur, offene, kontroverse Auseinandersetzungen im Parlament — nicht in Ministerkonferenzen! —, wissenschaftlicher Diskurs inklusive Peer-Review-Verfahren von unabhängigen Wissenschaftlern, Meinungsvielfalt in pluralistisch aufgestellten Medien — wir haben darin Erfahrung, die wir reanimieren könnten.

Wenn aus der Politik momentan dahingehend kaum Engagement erfolgt, ist jeder einzelne von uns umso stärker gefordert, Dialog, Kontakt und Verständigung wieder aufzunehmen und vielleicht dabei auch manchmal den missionarischen Eifer zurückzunehmen, sofern dies den anderen überfordert oder seine Ängste zusätzlich triggert.

Für meinen Teil muss ich eingestehen: „Alternativlosigkeit“ und ein Verbot des Zweifelns vor dem oben beschriebenen Hintergrund — denk ich an solche Worte in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht und halte die Morgenröte für den Widerschein bücherverschlingenden Feuers.

Wo sind die besonnen und integrativ wirkenden Köpfe, die wieder Möglichkeitsräume und angstfreies Denken und Handeln voranbringen? Wo ist das Volk, dem eine Wiedervereinigung gelungen ist? Ja, auch die Wiedervereinigung von Ost und West ist ein Beispiel für unseren kulturellen Erfahrungsschatz, wie die Überwindung einer Spaltung gelingen kann: durch die Überwindung der Angst und starken Zusammenhalt.

Und wir könnten daraus zusätzlich lernen, dass kein Segen darauf ruht, wenn der Größere den Kleineren überrollt, sondern es der respektvollen Begegnung im Bewusstsein der Kompetenzen, Befindlichkeiten und Bedürfnisse des anderen bedarf, um eine neue gemeinsame Vision und Grundlage zu erschaffen. Dialogbereiter Verständigung und Würdigung Andersdenkender haben wir in großen Teilen unseren Frieden und Fortschritt zu verdanken, die Geschichte lehrt es.

Sind wir gewillt, ihre Schüler zu sein?


Des Adlers Flug

Darf denn das Singen uns verboten sein?
Darf in den schönsten und den schwersten Stunden
Der Mensch nur noch für sich allein
In seiner stillen Kammer festgebunden
In Sorge, Ängsten und in Schweigen
Das Haupt in Gram gehorsam neigen?

Darf denn das Denken uns verboten sein?
Das klare Denken und sogar das Fragen?
Ist der Verstand bei alledem so klein,
Verzagt sogar der Mut in diesen Tagen,
Dass plötzlich Freiheit für uns ohne Wert
Und niemand gegen Dummheit aufbegehrt?

Wir wollen wieder lachen, tanzen, singen,
Die Kinder zu den Alten bringen!
Wir wollen frei die Schritte lenken,
Das Leben leben, selber denken!

In wessen Wappen stolz der Adler seine Schwingen spannt,
Der soll von nichts und auch nicht durch die Furcht gebannt
Sich jemals von Gewalt zum Boden zwingen lassen,
Noch seinen freien Geist in Ketten fassen.
Der will die Flügel nutzen und die Krallen,
Der fürchtet sich nicht vor dem Fallen.
Sein scharfer Blick durchdringt den Trug,
Weil klar und hell sein Aug und klug.
Des Adlers Flug braucht starken, wilden Mut,
Und Mut zur Freiheit trägt man tief im Blut!

— Susanne Begerow


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