Zur Vorgeschichte muss man den Fokus auch mal auf Informationen legen, die bei uns eher weniger verbreitet werden, und wenn sie denn doch mal auftauchen, von vornherein als russische Propaganda identifiziert werden. Um auch hier gleich möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich gibt es russische Propaganda. Wie naiv wäre es, das nicht zu sehen! Aber nicht jeder russische Blickwinkel ist Propaganda. Wer das behauptet, ist vielleicht nur zu bequem, sich inhaltlich auseinanderzusetzen.
Und was man auf keinen Fall vergessen darf: In Kriegszeiten hat Propaganda seit jeher auf allen Seiten Hochkonjunktur. Das ist Teil der Kriegsführung.
In den östlichen Gebieten der Ukraine herrscht seit mehr als acht Jahren Krieg. 2014 hatten sich die Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk im Donbass für unabhängig erklärt, weil sie den Umsturz in Kiew nicht mitmachen wollten, der für sie nichts Gutes verhieß. Näheres dazu im vorliegenden Buch. Dass Russland diesen Vorgang später für seine Zwecke instrumentalisiert hat, will ich gar nicht bestreiten, aber der Ausgangspunkt war ein innerukrainischer. Jedenfalls versucht die ukrainische Regierung seitdem, diese Gebiete mit militärischer Gewalt zurückzuerobern. Ukrainische Streitkräfte und Milizen, die der russischen Wagner-Truppe in puncto Brutalität in nichts nachstehen, führen seit über acht Jahren Krieg dort. Kiew nennt das allerdings auch nicht Krieg, sondern „Anti-Terror-Operation“.
Als Anmerkung: Für Anti-Terror-Operationen (ATO) war in der Ukraine der Geheimdienst SBU zuständig. Seit dem 30.4.2018 heißt ATO nun OOC Операция объединённых сил, also Operation der vereinigten Kräfte, und die Zuständigkeit wechselte vom Geheimdienst (SBU) zum Operativstab der ukrainischen Streitkräfte, also vom Sicherheitsdienst zum Militär, das auch den Kriegszustand in bestimmten Regionen erklären durfte und dann teilweise auch erklärte.
Aber diese semantischen Feinheiten sind längst bei uns in Deutschland angekommen, wenn Bundeskanzler Scholz in der Sendung von Sandra Maischberger vom „Afghanistan-Engagement der USA“ spricht und natürlich den Krieg meint. „Engagement“ hört sich ja noch besser an als „Spezialoperation“.
Im Osten der Ukraine tobt also seit 2014 ein Krieg mit all dem Elend, das wir jetzt in anderen Teilen der Ukraine gezeigt bekommen. Zerstörte Wohnhäuser, kaputte Infrastruktur, kein Wasser, keine Heizung, tote und verletzte Menschen, weinende Kinder. Krieg eben. In Donezk gibt es seit dem 1. Juni 2017 ein Denkmal für Kinder, die Opfer von Bombardements geworden sind, auf dem fast 200 Namen stehen.
Dieser Kampf im Osten der Ukraine hat nach unterschiedlichen Angaben zwischen 10.000 und 14.000 Zivilisten das Leben gekostet. Reportagen aus der Ostukraine fanden im Wesentlichen auf der westlichen Seite der Front statt, die den euphemistischen Namen „Kontaktlinie“ trug, und nicht in den sogenannten Separatistengebieten auf der östlichen Seite. Das heißt, es kamen eben auch nur die Menschen zu Wort, die auf der westlichen, also der von Kiew kontrollierten Seite lebten. Angemessen und fair wäre es gewesen, sich auf beiden Seiten zu bewegen und die hier und dort Lebenden zu befragen.
Beobachter der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben nahezu täglich Artilleriedetonationen registriert, unmittelbar vor dem russischen Angriff Hunderte Explosionen pro Tag.
Die Verträge Minsk I und II bekommen im Lichte der aktuellen Ereignisse eine besondere Bedeutung. Die Verdienste von Minsk I (September 2014) und Minsk II (Februar 2015) liegen darin, dass damals weitere militärische Auseinandersetzungen um die Ukraine verhindert werden konnten und dass — jedenfalls theoretisch — eine Perspektive geschaffen wurde für eine friedliche Koexistenz zwischen Kiew und den eher nach Russland tendierenden östlichen Teilen der Ukraine. So war eine lokale Selbstverwaltung im Donezker und Luhansker Gebiet vorgesehen und Kiew sollte innerhalb von dreißig Tagen nach der Unterzeichnung darüber im Parlament einen Beschluss herbeiführen. Das wäre also im März 2015 fällig gewesen.
Ein weiterer Punkt legte fest, dass sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen Regionen und Kiew wiederhergestellt werden sollten. Dazu muss man wissen, dass zum Beispiel Rentenzahlungen eingestellt worden waren und es keinen Bankverkehr mehr gab. Kiew sollte im gesamten Konfliktgebiet die vollständige Kontrolle über die Staatsgrenze wiederbekommen, allerdings sollte bis dahin die Verfassung reformiert und bis Ende 2015 in Kraft gesetzt worden sein.
Nichts davon ist passiert und beide Seiten machten die jeweils andere Seite dafür verantwortlich. Russland wurde mit Sanktionen belegt, die Ukraine nicht. Im November 2022 erklärt Angela Merkel, die zu diesem Zeitpunkt seit etwa einem Jahr keine Bundeskanzlerin mehr ist, dass die Minsker Abkommen ein Versuch gewesen seien, der Ukraine Zeit zu geben. Die Ukraine stand damals militärisch sehr schlecht da und hätte gegen Russland keine Chance gehabt.
Minsk II wurde am 17. Februar 2015 ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag durch die Verabschiedung der Resolution 2202 (2015) im UN-Sicherheitsrat. Man hätte also annehmen können, dass dieser Vertrag von allen Beteiligten ernst genommen wird.
Wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass Minsk II lediglich eine taktische Variante war, um die Ukraine wehrhafter machen zu können und auf westlicher und ukrainischer Seite niemand die Absicht hatte, die Bedingungen des Vertrages zu erfüllen, so scheint mir das ein verheerendes Signal zu sein. Worauf soll man sich dann bei Vereinbarungen und Verträgen noch verlassen können?
Zurück zur unmittelbaren Vergangenheit vor dem russischen Angriff im Februar 2022. Ein Jahr vor Kriegsbeginn hat der ukrainische Präsident Selenskyj ein Dekret erlassen, in dem die Rückeroberung der Krim quasi angeordnet wurde. Einige Zeit später begann man damit, ukrainische Streitkräfte im Osten und Süden des Landes zusammenzuziehen, was Russland natürlich nicht verborgen geblieben ist. Nach unterschiedlichen Quellen handelte es sich dabei um 60.000 bis 80.000 Soldaten. Parallel dazu fanden zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee diverse NATO-Manöver statt und die Zahl der Aufklärungsflüge der USA an der ukrainisch-russischen Grenze stieg signifikant.
Im November 2021 haben die USA und die Ukraine ein Abkommen über strategische Partnerschaft geschlossen, in dem sowohl die NATO-Perspektive der Ukraine als auch die Rückeroberung der Krim als Ziele genannt wurden.
Im Januar 2022, also einen Monat vor dem russischen Angriff, hat die NATO die Ukraine eingeladen, an der NATO-Agenda 2030 mitzuarbeiten, das heißt dem Strategiepapier der NATO. Und das, obwohl die Ukraine gar kein NATO-Mitglied ist.
Unmittelbar vor dem russischen Angriff sind hektische diplomatische Aktivitäten zu registrieren, zwischen Russland einerseits und europäischen Staaten und den USA andererseits, teilweise mit Ultimaten versehen. Die westliche Seite verkündet, von Anfang an belogen worden zu sein, die russische Seite stellt fest, dass es manche Punkte der russischen Agenda gar nicht erst auf die Tagesordnung geschafft haben. Jedenfalls schickt Russland Ende 2021 einen Vertragsentwurf für künftige Abkommen mit den USA und der NATO nach Washington mit der deutlichen Nachricht, russische Sicherheitsinteressen endlich zur Kenntnis zu nehmen. USA und NATO weisen das Papier brüsk zurück.
Auch wenn der Begriff „NATO-Osterweiterung“ in westlichen politischen Kreisen eher eine Abwehrhaltung erzeugt als die Bereitschaft, sich auf russische Perspektiven einzulassen, ist es nötig, deren Kern beim Namen zu nennen. Das immer weitere Heranrücken von NATO-Infrastruktur inklusive Bewaffnung und Personal an die Grenzen Russlands stellt aus russischer Sicht nicht weniger als eine existenzielle Bedrohung dar. Genauso wie sich westliche Nachbarn Russlands ihrerseits in ihrer Existenz von Russland bedroht sehen.
Die einen glauben den jeweils anderen kein Wort, wenn diese beteuern, nichts Böses im Schilde zu führen. Da geht es nicht um tatsächlich vorliegende Angriffspläne, sondern darum, von den Voraussetzungen her zu erfolgreichen Angriffen in der Lage zu sein. Es liegt auf der Hand, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika, die die NATO dominieren, aufgrund ihrer geografischen Lage in puncto Sicherheit von ihrem eigenen Blickwinkel verabschieden und zu einem Perspektivwechsel entschließen müssten, um russische Sicherheitsbedürfnisse überhaupt zu erkennen.
Die USA haben westlich und östlich große Ozeane vor der Tür. Im Norden ist ihr direkter Nachbar Kanada selbst NATO-Mitglied, und im Süden liegt Mexiko, von dem mit Blick auf militärische Auseinandersetzungen nun wahrlich keine ernsthafte Gefahr ausgehen kann. Zudem: Russland hat nur elf Stützpunkte außerhalb des eigenen Landes, davon sind neun in unmittelbarer Nähe Russlands; die USA unterhalten knapp 800 Stützpunkte in etwa 70 Ländern dieser Welt. Und — aus russischer Sicht tragen die völkerrechtswidrigen Angriffe von USA und NATO, wie etwa auf Serbien 1999 und den Irak 2003, nicht dazu bei, in der NATO ein Verteidigungsbündnis zu sehen.
Für den künftigen Umgang mit Russland sind Antworten auf folgende Fragen entscheidend:
Welche Rolle spielt das von Russland immer wieder angesprochene Sicherheitsbedürfnis? Ist Russlands Verhalten eine Reaktion auf westliche Politik — die unzweifelhaft diverse Provokationen enthalten hat, davon eine der substanziellsten durch den Krieg in Jugoslawien? Oder ist Russlands Verhalten Ausdruck seines imperialen Anspruchs, dem mit allen Mitteln Einhalt geboten werden muss?
Wenn es von Anfang an die Absicht Putins gewesen wäre, die Ukraine zu überfallen, dann stellt sich die Frage, warum er diesen Angriff nicht vor acht oder zehn Jahren gestartet hat. Die Chancen damals, schnell ein für Russland erfolgreiches Ergebnis zu erzielen, wären auf jeden Fall erheblich besser gewesen, da die Ukraine zu dem Zeitpunkt wesentlich verwundbarer war. Die Ausstattung mit westlichem Militärgerät in nennenswertem Umfang hatte da gerade erst begonnen.
Da von der Beantwortung dieser Fragen — Sicherheitsbedürfnis oder Imperialismus — so viel abhängt, muss darüber angstfrei debattiert werden dürfen. Die Lage ist extrem verfahren. Nicht zuletzt dadurch, dass es mittlerweile auch um solche Dinge geht, wie Gesichtsverlust und Stärke oder Schwäche zeigen. Das heißt, parteiübergreifend sind alle klugen Köpfe gefordert, sich gegenseitig zuzuhören, Argumente auszutauschen und alles nur Denkbare intelligent abzuwägen. Die einzig richtige und dann tatsächlich auch mögliche Lösung scheint es meines Erachtens nicht zu geben, sondern es geht jetzt tragischerweise nur noch darum, die am wenigsten schlechte zu finden und die dann auch umzusetzen.
Ohne allzu sehr ins Spekulieren zu geraten, spricht aus meiner Sicht einiges dafür, dass sich der Krieg durch ein einfaches Signal des Westens an Russland hätte verhindern lassen. Nämlich so: Die Ukraine hat zwar das Recht, sich um die NATO-Mitgliedschaft zu bewerben, aber angesichts der globalen Auswirkungen sollten Verhandlungen über eine umgreifende Sicherheitsarchitektur möglich sein ohne die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.
Was in den aufgeregten Diskussionen um dieses Thema oft in Vergessenheit zu geraten droht: Die NATO ist kein Verein, bei dem man sich bewerben kann. In die NATO muss man eingeladen werden, und zwar einstimmig. Darüber hinaus ist im NATO-Statut festgelegt, dass ein neues Mitglied die Sicherheit der Gemeinschaft erhöhen muss. Schließlich bekommt das potenzielle neue Mitglied im Umkehrschluss eine Beistandsgarantie der Gemeinschaft.
Klaus von Dohnanyi, dieser besonnene SPD-Politiker, der in den achtziger Jahren Erster Bürgermeister von Hamburg war, hat die Situation bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung im Mai 2023 auf den Punkt gebracht. Er gab zu bedenken, dass Russland zwar den Krieg begonnen, aber dass der Westen die Voraussetzungen dafür mitgeschaffen habe — eine Sünde, wie er sagte.
Von ihm stammt auch der bemerkenswerte Satz: „Wir hatten in Deutschland immer schon eine schmale Debattenkultur.“
Wenn aber Andersdenkende kein selbstverständlicher Bestandteil unserer grundsätzlich lebendigen offenen Gesellschaft mehr sind, sondern Störfaktoren, die man besser gar nicht erst zu Wort kommen lässt, oder sogar Feinde, die es mit aller Konsequenz auszugrenzen gilt, dann widerspricht das nicht nur in eklatanter Weise dem Geist unseres Systems, sondern es gefährdet dessen Fundamente. Diesen Gedanken kann man gar nicht oft genug wiederholen. Ausführlicher dazu in meinem Buch „Respekt geht anders“, das 2020 im Beck-Verlag erschienen ist.
Zurück zum Thema NATO, Ukraine und Russland. Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die Fragezeichen aufwerfen: Der Krieg war erst ein paar Tage alt, als sich der ukrainische Präsident öffentlich äußerte, man könne sich einen neutralen Status der Ukraine vorstellen. Warum erst nach Kriegsbeginn? Weil russische Truppen kurz vor Kiew standen?
Der Krieg war gerade einmal einen Monat alt, als es zu einer vielversprechenden Vereinbarung zwischen Kiew und Moskau kam und dann besuchte der britische Premier Boris Johnson Kiew und machte klar, dass eine Beendigung des Krieges zu diesem Zeitpunkt nicht im Interesse der westlichen Staatengemeinschaft liege. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei nicht um einen Alleingang handelte, sondern um eine vor allem mit den USA abgestimmte Aktion.
Von Egon Bahr, neben Willy Brandt einer der Architekten der neuen deutschen Ostpolitik Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, stammt der Satz: „Wir können politisch alles Mögliche ändern, nur nicht die Geografie.“
Mit anderen Worten: Russland ist und bleibt in unserer Nachbarschaft, wir haben keinen Atlantik zwischen uns. Sicherheit ohne Russland wird es auf unserem Kontinent nicht geben und Sicherheit gegen Russland schon gar nicht.
Charles de Gaulle, von 1959 bis 1969 französischer Präsident, wird der Ausspruch zugeschrieben: „Staaten haben keine Freunde. Staaten haben Interessen.“ Wer hat welches Interesse? Was ist russisches Interesse? Unabhängig von der Antwort auf die bereits gestellte Frage, ob es Russland um eine stabile Sicherheitsarchitektur geht, die Russland miteinbezieht, oder doch eher um imperiale Ambitionen, lassen sich die grundsätzlichen Interessen Russlands holzschnittartig folgendermaßen zusammenfassen: Ruhe im Inneren und an den Grenzen, um den komplizierten Umgestaltungsprozess, der längst nicht abgeschlossen ist, weiterzuführen; Austausch und Zusammenarbeit mit dem Ausland, um sich weiterzuentwickeln; Akzeptanz und Sicherheitsgarantien des Westens, um sich auf die inneren Aufgaben konzentrieren zu können. Ein Krieg ist da eher ein ruinöser Störfaktor.
Insofern bin ich immer noch auf der Suche nach dem letzten Auslöser für diesen Überfall. Die hin und wieder verbreiteten Ansichten, Putin sei nicht mehr Herr seiner Sinne und trage psychopathische Züge oder erweise sich jetzt als das Monster, das er immer schon war, überzeugen mich nicht. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Angriff auf die Ukraine widerspricht ungeachtet unterstellter imperialer Ambitionen russischen Interessen, sowohl politisch als auch wirtschaftlich und mit Blick auf die überaus engen, nicht zuletzt familiären Bindungen zwischen Russen und Ukrainern schon gar.
Eine gewisse Plausibilität liegt für mich in folgendem Gedanken: Da die Aufrüstung der Ukraine in vollem Gange war, die programmatischen Äußerungen aus Kiew keine Zweifel an der Rückeroberungsabsicht gelassen haben und es keinerlei Signale für eine Verständigung mit der NATO beziehungsweise den USA über die weitere militärische Einbindung der Ukraine gab, könnte die russische Strategie darauf aus gewesen sein, einem Angriff auf die östlichen Gebiete und die Krim zuvorzukommen — zur Erinnerung: da standen zwischen 60.000 und 80.000 ukrainische Soldaten —, untermauert durch offenbar fehlerhafte Geheimdienstanalysen, die einen schnellen Sieg in Form eines Regierungswechsels in Kiew erwarten ließen. Das ändert alles trotzdem nichts daran, dass dieser Angriff — aus welchen Motiven auch immer — letztlich russischen Interessen mit Blick auf das eigene Land schadet.
Was ist mit US-amerikanischen und europäischen Interessen?
Glaubt man ihren diversen Strategiepapieren, dann haben die USA auf dem europäischen Kontinent jetzt all das erreicht, was sie seit Jahrzehnten als Ziel ausgegeben haben: das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland nachhaltig zu ruinieren, eine gedeihliche Zusammenarbeit auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern und, insbesondere in jüngster Vergangenheit, ihr teures und umweltschädliches Fracking-Gas auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu platzieren.
Natürlich stellen sich dann Fragen, über die stets auf Augenhöhe debattiert werden muss: Warum verhängt Deutschland Sanktionen, die ihm selbst mehr schaden als demjenigen, den sie schädigen sollen?
Die Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF) von Juli 2023 sprechen eine deutliche Sprache: Deutschland ist Schlusslicht. Unter den stärksten Volkswirtschaften der Welt geht die Prognose einzig für Deutschland von einem negativen Wachstum aus. Und es ist die einzige unter diesen Volkswirtschaften, für die sich die Prognose vom Frühjahr nicht verbessert hat. Man muss nicht irgendwelchen extremen politischen Rändern zugehörig sein, um festzustellen, dass Deutschland dabei ist, seinen Industriestandort aufs Spiel zu setzen. Dafür reicht wirtschaftspolitische Expertise. Expertise, die auf ideologisierende oder moralisierende Aspekte verzichtet.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch mal daran erinnern, dass es schon 2014 die USA waren, die die Europäer zu Sanktionen gegen Russland gedrängt haben.
Mittlerweile sorgt eine Allianz zwischen USA und osteuropäischen EU-Mitgliedern dafür, dass der Druck aufrechterhalten bleibt.
Insofern fällt es schwer, die Interessen der EU zu benennen. Nicht nur, weil ich es trotz aller beschworenen Gemeinsamkeit für vermessen halte, von einer europäischen Außenpolitik zu sprechen. Dafür sind die Interessen einzelner Mitglieder viel zu unterschiedlich, obwohl vom Grundsatz her gute Beziehungen zu sämtlichen europäischen Nachbarn, inklusive Russland, den Kern des EU-Interesses bilden müssten.
Die konkrete Politik definiert sich allerdings etwas anders, vor allem seit dem Beitritt osteuropäischer Länder in die EU. Es sind neben den USA genau diese Länder, die in der Vergangenheit, auch lange vor Beginn des Krieges von 2022, am heftigsten nach Sanktionen verlangt und einer Konfrontationspolitik mit Russland immer den Vorzug gegeben haben.
Im Herbst 2021 haben die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron gemeinsam vorgeschlagen, sich auf EU-Ebene mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu treffen. Merkel und Macron — immerhin die Chefs der beiden mächtigsten Länder in der EU. Es hätte eine Menge zu besprechen und zu klären gegeben, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigt.
Das Timing war perfekt. Denn kurz zuvor hatten sich der US-amerikanische Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin in Genf zu Gesprächen getroffen. Es roch also nicht nach europäischem Alleingang, vor dem Transatlantiker gerne warnen. Die USA hätten bei dieser Reihenfolge nichts dagegen haben können. Das Treffen von EU und Russland ist trotzdem nicht zustande gekommen. Es ist letztlich daran gescheitert, dass eine kleine Minderheit in der EU diesen Plan ablehnte und die gesamte Idee blockierte.
Mit der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sitzen zudem extreme Scharfmacher auf Spitzenpositionen in der EU. Das spielt eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem politischen Fahrplan.
Ohne das Thema Europa allzu weit auszudehnen: Der wunderbare Gedanke von einem vereinten Europa findet sich schon eine ganze Weile in der konkreten Gestaltung der EU nicht wieder. Europa ist in der Regel in der Bevölkerung ein positiv besetzter Begriff, was man von der EU so ohne Weiteres nicht behaupten kann. Da die EU aber maßgeblich das Leben jedes Einzelnen bestimmt, ist Politikverdrossenheit auch in Richtung Brüssel vorprogrammiert. Das ist keine Marginalie. An Politikverdrossenheit können demokratische Systeme sterben. Das klingt vielleicht pathetisch, lässt sich aber nicht wegwischen.
Wenn man über Interessen spricht, dann darf man den militär-industriellen Komplex nicht aussparen. Eine ganze Reihe US-amerikanischer Präsidenten haben immer mal wieder auf deren Macht hingewiesen. Der zurzeit stattfindende Abnutzungskrieg — ein menschenverachtender Begriff, der abgehoben und synthetisch klingt und nichts von dem menschlichen Leid sichtbar macht, für das er steht — ist ein gigantisch gutes Geschäft nach den Dürrejahren, die das Ende der Ost-West-Konfrontation in den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bedeutete.
Was ist das Interesse der Ukraine? Natürlich die von Russland gehaltenen Gebiete zurückzubekommen, sowohl die besetzten als auch die einverleibten, was die Krim miteinschließt. Das politisch formulierte Interesse zielt auf eine möglichst baldige NATO- und EU-Mitgliedschaft, um die eigene Sicherheit besser zu gewährleisten und um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen.
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