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Die Schule des Lebens

Die Schule des Lebens

Was wirklich wichtig ist, das lernen wir außerhalb der Institutionen.

Ich bin gerne in die Schule gegangen. So gerne, dass ich Lehrerin wurde. Was habe ich alles gelernt: Gummitwist, Murmeln, Himmel und Hölle, Pausenbrote teilen, mit Freundinnen quatschen, Jungs anschwärmen, ... Vieles ist mir in Erinnerung geblieben. Mit den Inhalten des Unterrichts hingegen sieht es anders aus. Rechtschreibung, ein bisschen Dreisatz, die Erinnerung an Anne Frank und Homo Faber und Fremdsprachen. Dreizehn Jahre habe ich dafür gebraucht. Mein Abitur brauchte ich, um sieben Jahre lang an einer Universität zu studieren. Meine zwei Staatsexamen brauchte ich in meiner beruflichen Laufbahn eigentlich nur ein Mal, um die vor mir liegende Urkunde zur Verbeamtung nicht zu unterschreiben.

Zwanzig Jahre lang habe ich Noten bekommen. Doch ich habe nicht gelernt, was eigentlich meine Qualitäten sind.

Niemand hat sich für meine Kreativität interessiert oder für meine ganz eigenen Talente, niemand hat meine Fähigkeiten außerhalb der vorgegebenen Bahnen erkannt und freigelegt. Ich habe gelernt, zu gehorchen und den Arm zu heben und nicht, meine Gefühle besser wahrzunehmen, meine Ängste zu überwinden, meine Bedürfnisse klarer zu formulieren und besser mit anderen Menschen umzugehen. Ich habe so gut wie nichts über das mich betreffende Leben gelernt und den größten Teil meiner Schul- und Studienzeit damit verbracht, mich auf die Pausen und die Ferien zu freuen.

Trotz der systematischen Abfertigung in den viel zu großen Klassen habe ich mich für den Lehrberuf entschieden — wenn ich ehrlich bin, nicht aus pädagogischem Eifer, sondern weil mir nichts Besseres einfiel und wegen der vielen Ferien. Mein Glück war es, dass ich nach Frankreich auswanderte und nicht in das staatliche Schulsystem einstieg. Ich arbeite an privaten Hochschulen und in der Erwachsenenbildung in überschaubaren Gruppen. Meine Hauptaufgabe besteht darin, Frust von Menschen abzubauen, die in langen Schuljahren nicht das gelernt haben, wozu Sprachen eigentlich da sind: zum Kommunizieren.

Verlorene Zeit

Seit gut einhundert Jahren sind es nicht mehr die Hausväter, die für die Bildung ihrer Nachkommen zuständig sind, sondern Vater Staat. Im Grundschulgesetz der Weimarer Verfassung wurden Vorgaben formuliert, die bis heute unverändert sind. Im Artikel 145 heißt es: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre.“ Wer wollte daran zweifeln, dass das zu unserem Besten geschieht!

Die allgemeine Schulpflicht dient der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dank ihr werden wir zu verantwortlichen Staatsbürgern herangezogen und zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten in einer pluralistischen Gesellschaft ausgebildet. Wir lernen den Kontakt mit der Gesellschaft und üben uns in der Konfrontation und im Dialog mit den Wertvorstellungen und Auffassungen Andersdenkender. Das klingt gut, so wie das Motto der Europäischen Union „In Vielfalt vereint“ und der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Kaum hatten die ersten Generationen begonnen, sich in Toleranz zu üben, marschierten die Nationalsozialisten auf und schufen eine der abscheulichsten Vereinheitlichungs- und Vernichtungsmaschinerien der Menschheitsgeschichte. Nach dem Krieg hat sich an den Prinzipien der Allgemeinen Schulpflicht nicht viel geändert. Nun wurden wir nicht mehr zu Kanonenfutter ausgebildet, sondern zu willigen Fabrikarbeitern und später zu guten Konsumenten. Im eigenständigen Denken und selbstverantwortlichen Handeln sind wir nach wie vor nicht wirklich geschult und auch die Toleranz lässt zu wünschen übrig. Corona macht deutlich, dass wir uns auch heute vor allem durch Folgsamkeit und Zurückweisung Andersdenkender auszeichnen.

Lernen, um zu vergessen

Kritik am bestehenden Schulsystem gibt es seit Langem. Schulunlust, schlechte Leistungen und Drill statt Bildung führen zu dem Wunsch vieler Eltern, Schule anders zu machen. Die Zeit, in der die Schulen wegen angeblicher Infektionsgefahr ständig geschlossen sind und Homeschooling nicht mehr verboten, sondern notwendig geworden ist, können wir zum Anlass nehmen, grundsätzlich darüber nachzudenken, was und wie Kinder überhaupt lernen sollten (1).

Was ist wirklich wichtig im Leben? Brauchen wir dafür die Institution Schule? Brauchen wir enge Räume, in denen wir uns einpferchen lassen, um nachzuplappern, was uns jemand vorsagt?

Ist es nützlich für mich zu wissen, dass jemand anderes „besser“ oder „schlechter“ ist als ich und dass ich mich auf einer Messlatte einordnen kann? Was macht es mit mir, wenn ich mich ständig mit anderen vergleiche und mich entweder über- oder unterlegen fühle? Was nützen mir die vielen Informationen, Tabellen und Daten, wenn ich doch das Allermeiste davon sowieso vergesse und niemals mehr brauchen werde? Ist es dazu da, um mein Gedächtnis zu trainieren, oder vielmehr, um mich von anderen Dingen abzulenken? Wie auch immer: Das Wichtigste habe ich bereits an der Grundschule gelernt: Lesen, Schreiben, Grundrechnen und Bäume und Getreidesorten unterscheiden. Den Rest habe ich in meinem Leben nicht viel gebraucht.

Geschäftsmodell Enteignung

Ich frage mich, wer überhaupt auf die Idee gekommen ist, dass Kinder irgendwie unfertig auf die Welt kommen und erst von den Erwachsenen zurechtgebogen werden müssen. Was rechtfertigt, dass wir von klein auf die Fortschrittsleiter hochgejagt werden? Auch wenn der Mensch ein paar Jahre braucht, um sicher auf zwei Beinen zu stehen und zu sprechen, so ist er doch keine Mangelware, kein defektes Gerät, das erst einmal richtig programmiert werden muss, bevor es zu etwas nütze ist. Wir sind wunderbare, perfekte Geschöpfe, wenn wir auf die Welt kommen. Das spürt jeder, der einen Säugling im Arm hält.

Das meiste, was wir zum Leben brauchen, lernen wir von ganz allein durch Nachahmung, Neugierde und Begeisterung. Schule tut vor allem eines: Sie zerstört die natürliche Freude am Lernen und zwingt uns das auf, was der jeweiligen Gesellschaftsform dienlich ist. Es verhält sich hier wie mit allem: Uns wird durch die Hintertür etwas genommen, was wir hatten, um es uns dann durch die Haustür gewinnbringend zu verkaufen. Die Nahrungsmittel zum Beispiel, die wir anbauten, wurden uns von sicher gut ausgebildeten Geschäftsleuten genommen, die die Früchte patentierten und die Saat gentechnisch so modifizierten, dass sie in jedem Jahr neu gekauft werden muss.

Globale Unternehmen und Institutionen haben es übernommen, mit entsprechenden Gewinnen für die Erziehung unserer Kinder, die Behandlung unserer Kranken und die Aufbewahrung unserer Alten zu sorgen. Wir machen heute praktisch nichts mehr selbst. Bis vor Kurzem konnten wir noch unsere Häuser bauen, unser Essen selbst zubereiten, unsere Kleidung herstellen und Musik machen. Heute gibt es für alles einen Industriezweig. Man nimmt uns das Wasser und verkauft es uns in Flaschen. Heute geht das Geschäftsmodell so weit, dass man uns die Luft zum Atmen nimmt. Einseitig formatierte Köpfe haben sich ausgedacht, dass im Leben nichts mehr umsonst ist — auch nicht die zehn Prozent in der Zahnpastatube.

Den Wettkampf beenden

Dieses Ausnutzen unserer Bequemlichkeit nennen wir Fortschritt. Entsprechend sehen wir es auch als Fortschritt an, wenn Säuglinge ab drei Monaten „gefördert“ werden und Mütter nicht mehr stillen, um sich möglichst schnell wieder an ihrem Arbeitsplatz ausbeuten zu lassen. So hoffen sie, im beruflichen Wettlauf nicht abgehängt zu werden, und verdienen dabei im Schnitt doch immer noch bedeutend weniger als ihre männlichen Kollegen. Unsere Gesellschaft ist und bleibt am Patriarchat ausgerichtet und orientiert sich an Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Berechnung, Härte und Unnachgiebigkeit.

Darauf bereitet uns Schule vor. In einem erbarmungslosen Wettkampf können nur ganz wenige gewinnen. Die meisten gehen als Verlierer aus ihm hervor. Sie dienen als Zuchtvieh, das frisst, was ihnen vorgeworfen wird, und dafür teuer bezahlt. Dennoch wird so getan, als hätten alle die gleichen Chancen. Anstatt uns nun weiter abzurackern für sinnlose Jobs, für die wir unsere Seele verkaufen und unsere Gesundheit lassen, können wir es ab heute anders machen: Raus aus den muffigen Räumen, in denen darüber gestritten wird, wie oft gelüftet wird, und rein in die Natur! Hier findet die Schule des Lebens statt! So wie Gott nicht in den Kirchen sitzt, so finden wir auch das Wissen vor allem unter dem freien Himmel.

Vom Vater Staat zur Mutter Natur

Gehen wir hinein in den Wald, der uns noch bleibt. Setzen wir uns an einen Bach und beobachten das Wasser. Gehen wir auf die Suche nach Stellen, an denen es noch sauber ist, dort, wo die Natur noch nicht vergiftet wurde. Hören wir den Vögeln und Insekten zu und sehen wir zu, wie das Gras wächst. Nehmen wir uns Zeit. Vergessen wir die Stunden und die Minuten, das, was unser Leben künstlich durchtaktet, und geben wir uns dem Pulsieren der Natur hin. Machen wir uns wieder mit ihren Zyklen und Rhythmen vertraut, und lernen wir, sie erneut zu respektieren.

Beobachten wir das Lebendige nicht, um es zu kategorisieren und auszubeuten, sondern um dabei zu sein als ein Teil des Wundervollen. Hierzu brauchen wir keine Lehrer und Schulmeister, sondern Wesen, mit denen wir die Natur zusammen erleben, voller Freude, Erstaunen und Achtsamkeit. Lernen wir gemeinsam, wie man respektvoll Nahrung anbaut und zubereitet, Häuser baut und manuell Dinge herstellt. Benutzen wir unsere Hände wieder. Setzen wir unseren Körper in Bewegung. Worauf warten wir? Jetzt ist die Zeit dazu, der alten Schule den Rücken zu kehren. Der Lehrberuf macht sowieso kaum noch jemandem Spaß. Wie in allen anderen Berufen geht es auch hier vor allem darum, Verwaltungsberge abzutragen. Also raus aus der Tretmühle und rein ins Leben!

Legen wir unsere Rollen, Titel und Funktionen ab und werden wir Mensch. Der sich anbahnende weltweite Finanzcrash wird sowieso all das aushebeln, was uns bisher die Illusion materieller Sicherheit gab. Machen wir uns in kleinen Gruppen gemeinsam auf Entdeckungsreise und lernen wir zusammen mit den Kindern. Sie können uns so viel beibringen! Sie haben noch offene Sinne und einen Bezug zu ihren Gefühlen. Sind sie noch nicht allzu sehr von den Erwachsenen verdorben, haben sie einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und eine angeborene Lust, mit anderen zu teilen. Sie wissen noch, dass das Leben Abenteuer ist und dass es Wunder gibt. Sie haben noch einen Draht zu Feen und Riesen, Drachen und Prinzessinnen.

Lassen wir uns von den Kindern an die Hand nehmen und durch Wald und Wiesen führen. Lernen wir mit ihnen, wieder das zu machen, was wir seit Menschengedenken können: für uns selbst sorgen.

Niemand braucht Institutionen und Apparate, die uns vorgeben, was wir zu tun und zu lassen haben. Wir brauchen die vielen Zahlen, Kurven und Kalküle nicht, die tote Mathematik, die uns Gefahren hochrechnet, die gar keine sind, und die Hirngespinste zu Realitäten aufbläst. Wir brauchen keine Schubladen für unsere Ideen und keine Reihen, in denen wir uns aufstellen müssen. Was wir brauchen, ist ein Feld, auf dem unsere guten Ideen und hohen Werte endlich Wirklichkeit werden.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Hierzu auch die Beiträge von Bertrand Stern: https://www.rubikon.news/autoren/bertrand-stern


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