Wer sich heute in ärztliche Behandlung begibt, findet sich in der Regel in seine Einzelteile zerlegt. An unserer Medizin wird die Zersplitterung der Welt besonders deutlich. Behandelt wird allein das Detail. Das Ganze wird außer Acht gelassen. Unsere Wissenschaft kennt die Zusammenhänge nicht mehr, das, was das Lebendige zusammenhält. Sie beschränkt sich darauf, auseinanderzunehmen, was zusammengehört, und vor allem für Verwirrung und Angst zu sorgen. So konnte sich eine Welt entwickeln, in der der Mensch Angst vorm Leben selbst hat.
Der Schweizer Arzt, Naturphilosoph und Alchemist Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 bis 1541), praktizierte eine ganzheitliche Medizin. Zu seiner Zeit geschah es, dass die Alchemie aus der Wissenschaft verbannt wurde. Das von Fürsten und Klerus unterhaltene Wirtschaftssystem hatte kein Interesse an Menschen, die selbst denken konnten und womöglich das System in Frage stellten. Um wenigstens den medizinischen Teil der Alchemie zu retten, verwendete Paracelsus den Namen Spagyrik: eine Herstellungskunde und Therapieform, die einen aus dem Gleichgewicht geratenen Organismus mit Pflanzenheilkraft wieder in geordnete Bahnen bringen kann.
Natürliche Heilverfahren und Pflanzenkunde werden heute nicht nur nicht mehr gefördert, sondern regelrecht bekämpft. Die Homöopathie gilt als Scharlatanerie, und Heilpraktiker werden als gefährliche Quacksalber bezeichnet.
An unseren Universitäten wird kein ganzheitliches Bild der Welt mehr vermittelt. Natur- und Geisteswissenschaften gehen nicht Hand in Hand, wie sie es einmal taten. Auch sie werden nach dem Prinzip des Teilens und Herrschens gespalten. Der Blick verliert sich im Detail, während das Ganze immer mehr in Vergessenheit gerät.
Anders als ihr Ruf
Die Alchemie gilt als die älteste Wissenschaft der Welt. Seit dem Beginn unserer Zeitrechnung wird sie als die Lehre von den Eigenschaften der Stoffe und ihren Reaktionen bezeichnet. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde sie von der modernen Chemie und Pharmakologie begrifflich abgegrenzt und im 19. Jahrhundert schließlich durch diese Fächer ersetzt. Heute hat die Alchemie keinen guten Ruf. Viele siedeln sie im Dunstkreis von Hexerei an. Die Politologin Claudia von Werlhof sieht in der Alchemie das Grundproblem patriarchaler Gesellschaften, die das Lebendige mit Gewalt zerlegen, um es sich dann anzueignen (1).
Für den Apotheker und Alchemisten Carsten Pötter ist die Alchemie eine jahrtausendealte, universalwissenschaftliche Tradition, deren verborgene Reichtümer gerade für den Menschen der Gegenwart von unermesslichem Wert sein können. Die Alchemie erklärt die Entstehung von allem, was ist, wie es sich wandelt und wandeln lässt. Ihr Kernelement ist der Stein der Weisen: eine Substanz, die unedle in edle Metalle und vor allem in Gold und Silber verwandeln könne (2).
Hier gilt es, zwei Aspekte zu unterscheiden: die innere und die äußere Alchemie. Während die äußere Alchemie nach der Herstellung des materiellen Edelmetalls strebt, geht es bei der inneren Alchemie um das „geistige Gold“.
Um die Alchemie zu diskreditieren, reduzierte man sie auf die Legende vom Goldmachen und ignorierte die ursprünglich freie, nicht korrumpierte und ganzheitliche Wissenschaft, die nicht nur Kenntnisse über natürliche Prozesse und göttliche Prinzipien vermittelt, sondern darüber hinaus eine tiefe spirituelle Erfahrung erlaubt.
Der innere Weg
In Wahrheit, so Carsten Pötter, ist der Stein der Weisen der göttliche Wesenskern des Menschen, der durch Wandlungsprozesse freigelegt werden soll. Dieser Prozess ist die allegorische Beschreibung für einen Weg nach innen, denn nur hier kann der Mensch das finden, was er für sein Leben benötigt. Um das innere Gold freizulegen, das den Menschen befähigt, sein Leben aus sich heraus zu gestalten, sind verschiedene Etappen zu überwinden.
Zunächst geht es um das Bewusstwerden und Auflösen negativer Muster. Symbolisch gesehen hält uns das innere Blei in Denkmustern gefangen, wonach die Probleme von außen kommen und auch dort gelöst werden sollen.
Der innere Reinigungsprozess beginnt mit der Erkenntnis der eigenen Opferrolle, in der wir uns hilflos und ohnmächtig fühlen und auf den Retter warten. Wir lernen, diese Muster zu sehen und zu akzeptieren, sie also nicht mehr zu fliehen, zu bekämpfen oder zu verstecken.
Auf den weiteren Etappen lernt der Forschende, gewissermaßen aus dem Autopiloten auszusteigen und durch die Verbindung mit seiner Intuition ins eigene Handeln zu kommen. Bei diesem Prozess wird das Leiden als Entwicklungsstufe und nicht als Identität verstanden. Hierzu gehört es, das Bedürfnis, alles zu kontrollieren, loszulassen und zu lernen, im Fluss zu sein. Der Forschende ist nicht mehr in seinen Reaktionen gefangen, sondern macht sich daran, selbstbewusst zu agieren. Bewusst, ohne zu urteilen, ohne zu fliehen, zu kämpfen oder zu leugnen, erreicht er einen Zustand, in dem er sich darauf ausrichtet, wer er wirklich ist.
Stein der Weisen
So ist das große Werk getan. Von einem Zustand, in dem wir zwischen Opfer-, Täter- und Retterrolle hin- und hergerissen waren, gelangen wir in einen Zustand der ausgeglichenen Präsenz. Den Stein der Weisen zu erreichen bedeutet, das Verständnis des eigenen Bewusstseins zu erlangen, ohne zu versuchen, dessen Wesen zu verändern.
Der Stein der Weisen, das sind wir, die wir in der Lage sind, alles zu sehen, alles zu empfangen, alles zu akzeptieren und alles zu lieben.
Wir sind der Athanor, der selbstnährende Ofen, in dem das reine Gold des Philosophen reift, die Erkenntnis der Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos. Was hier verbrennt, hat es in sich. Uns wird die Bereitschaft angeboten, Fragen zu stellen: Verhält es sich wirklich so? War es schon immer so? Was wurde uns erzählt, um uns, wie zu Paracelsus‘ Zeiten, davon abzuhalten, unbequeme Fragen zu stellen oder zu Erkenntnissen zu gelangen, die das vorherrschende System unterwandern könnten?
Es braucht den Mut eines Narren, um den Königsweg zu gehen. Im Kartenspiel des Tarots „Der Weg des Königs“, dessen Ursprung bis in das alte Ägypten zurückgeht, ist der Narr gleichzeitig die erste und die letzte Karte — und dem Weisen verbunden. Voller Neugierde und Vertrauen betritt er unbekanntes Land (3). Das tut Carsten Pötter gemeinsam mit der Künstlerin und Therapeutin Catherine Thurner. In geradezu magisch ineinanderfließenden Gesprächen entwickeln beide zusammen einen Blick auf die Welt, bei dem die Spreu vom Weizen getrennt wird, beziehungsweise nach und nach die alten Schlacken aufgelöst werden (4).
Zu Grabe
Realität, so der deutsche Physiker Werner Heisenberg, entsteht erst durch Anschauung, sozusagen im Auge des Betrachters. Doch der eigentliche Prozess geschieht im Gehirn. Das Licht wird auf der Hornhaut gebündelt, das Bild über den Sehnerv weitergeleitet und im Gehirn zu dem verarbeitet, was wir „Sehen“ nennen. Es ist wie ein Film, der auf eine Leinwand projiziert wird. Wir halten den Film, den wir sehen, für die Realität. Tatsächlich ist es das, was die Filmemacher wollen: dass wir das Gezeigte für die Realität halten.
Über Jahrtausende wurden bestimmte Ideen auf die Leinwände in unseren Köpfen projiziert. In unseren Geschichtsbüchern ist von Eroberungen und Siegeszügen die Rede, von Entdeckungen und Fortschritt. Gefördert wurden jeweils die Wissenschaftler, Philosophen und Künstler, die das Bild eines kampfbereiten und zur Unterordnung bereiten Menschen unterstützten. Während Einzelne die Leiter des Ruhms erklommen, blieben die Massen stets im Dunkeln.
Ein Vorbote der heutigen Bildwelt war der spanische Maler Francisco Goya. In den gierigen, lüsternen, dümmlichen Gesichtern zeichnet sich die Verrohung einer vor Bildschirmen dahinsiechenden Gesellschaft bereits ab. Charles Darwin, Louis Pasteur und Robert Koch prägten das Weltbild eines nicht endenden Kampfes, Albert Einstein entfernte den Äther, das Medium für die Ausbreitung von Licht, aus dem Periodensystem, und Sigmund Freud setzte dem Liebestrieb den Todestrieb entgegen.
Heute erleben wir einen regelrechten Totenkult. Anstatt einer Sterbekultur, die das Zyklische ehrt und auf den Tod stets eine Wiedergeburt folgen lässt, steht die heutige Menschheit vor einem schwarzen Loch, einem Nichts, aus dem sie gekommen ist und in dem sie wieder verschwinden wird.
Nach Frankenstein, Dracula und Zombies sind wir bei Künstlicher Intelligenz und Designerkreaturen angelangt und suchen unser Heil im Ersetzen des Natürlichen durch das Künstliche: des Lebendigen durch das Tote.
Fataler Kult
In der Natur gibt es keine Todessehnsucht. Der Tod ist starr. Leben fließt. So kommen wir auch nur wieder aus dem Totenkult heraus, wenn wir uns in Bewegung setzen und an die verkrusteten Denkmodelle und alten Vor-Stellungen herantreten. Dann erkennen wir, dass die Geschichte der vergangenen Jahrtausende sich vor allem durch eines auszeichnet: den unaufhörlichen Versuch, den Menschen davon abzuhalten, in sein Innerstes zu gehen und hier bei sich zu entdecken, dass er nicht nur Leinwand ist, sondern Projektor, Regisseur und Hauptdarsteller in einem.
Die Hoheit über unser Leben wurde uns regelrecht entrissen. Wir sollten schlau genug sein, um zu arbeiten, und dumm genug, um keine Fragen zu stellen. Aus der ursprünglichen Verbundenheit wurden wir herausgelöst und hilfsbedürftig gemacht. In alle Lebensbereiche drängte sich die tote Maschine. Das Haben bestimmt das Sein. Ein seelenloser Utilitarismus heiligt alle Mittel, die das Leben bequemer machen, unbeweglicher, sicherer. Tot.
Nur die wenigsten haben noch Zugang zum ursprünglichen Wissen und zu ihren eigenen Wurzeln. Viele leiden an Depressionen und versinken im schwarzen Loch der Langeweile. Leer, ohne Begeisterung und ohne Kreativität absolvieren sie ein Schattenleben ohne Anbindung, ohne Freude, ohne eigenen Lebensausdruck; eine leblose Hülle, die nur dann funktioniert, wenn sie Aufgaben von außen aufgedrückt bekommt.
Wer die Verbindung zur Quelle verloren hat, der fällt in sich zusammen wie ein Ballon, dem das Feuer fehlt.
Erst wenn wir uns aus den alten Anhaftungen und Vorstellungen lösen, wenn wir die Schleier von der Leinwand entfernen, bekommen wir wieder Zugang zum ursprünglichen Schöpfungsfeuer.
Durch die Lappen gehen
Die Stirnlappen, das sogenannte „Organ der Zivilisation“, das als Sitz der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens gilt und als menschlichster Teil des Gehirns betrachtet wird, sind — so Catherine Thurner — kein Ausdruck höchster Entwicklung, sondern größter Verschleierung. Von dem, was an diesen Lappen klebt, gilt es, sich zu befreien, um wieder in die eigene Hoheit zu finden.
Die Erkenntnis dieses „Ich bin“, also die Kontaktaufnahme mit dem eigenen Ich-Bewusstsein, hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern verlangt uns ab, einen Sterbeprozess zuzulassen und auszuhalten. Dieser Sterben ist notwendig, damit etwas Neues geboren werden kann. Das Alte zerfällt, wenn wir die Vor-Stellungen loslassen. So können sich die Dinge in uns neu ordnen und richtig zusammengesetzt an ihren Platz kommen. Damit eine neue Tür sich öffnen kann, muss die alte geschlossen werden.
Was falsch, fremd und nicht uns zugehörig ist, wird Schicht für Schicht abgetragen, damit sich uns offenbaren kann, was wirklich ist. Die Schleier heben sich. Das bedeutet Apokalypse. Von diesem Prozess sind alle betroffen, alle Menschen auf der ganzen Welt.
Jeder Einzelne ist aufgefordert zu tun, wozu er berufen ist: an seinem Platz, im Sinne seines individuellen Seelenauftrages. Wenn wir das realisieren, löst sich die alte Welt von alleine auf und die Menschheit erlebt eine neue Renaissance.
Wir werden dann zu Schöpfern, wenn wir ein Bewusstsein vom Schöpfertum entwickeln. Hierbei gilt es nicht, die Welt umzumodeln, sondern sich um das zu kümmern, womit wir jetzt in Resonanz gehen. Alles andere, so Carsten Pötter, können wir sein lassen. Was hat dieses Ereignis mit mir zu tun? Das ist die leitende Frage. An dieser Stelle können wir den Stein ins Wasser werfen und ihn seine Kreise bilden lassen. So kann aus dem „K.O.“, aus dem Chaos, ein „O.K.“ werden, ein „Ja, so ist es“, die Basis für einen neuen Anfang.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) Claudia von Werlhof: Der unerkannte Kern der Krise: Die Moderne als Er-Schöpfung der Welt, Arun-Verlag 2012
(2) Kerstin Chavent: Der Königsweg, Scorpio 2024
(3) https://www.resonalogic.de
(4) Catherine Thurner und Carsten Pötter: Die Geburt des Lichts in uns: https://odysee.com/@AP24NEWS:6/4_5965061974680147203:c; Totenkult statt Sterbekultur: https://www.youtube.com/watch?v=FsNhLfa4lR0