Zum 75. Todestag Karl Mays war einst eine Abbildung Winnetous auf einer deutschen Briefmarke erschienen. Wenn nun 35 Jahre später plötzlich Vorwürfe laut wurden, die mit dieser Kunstfigur verbundenen Geschichten bedienten sich rassistischer Klischees und verklärten die historische Wirklichkeit, dann gilt es zunächst, zurückzufragen: Waren gewisse Klischees nicht tatsächlich damals allgemein gängig? Und müssen denn Romane als literarische Werke die historische Wirklichkeit abbilden? Wäre es nicht vielmehr notwendig, dass eventuelle Kritik selbst die historische Wirklichkeit ernst nimmt? Die aber sieht nun einmal so aus, wie es der bayerische Ministerpräsident Markus Söder angesichts dieser Debatte mahnend in Erinnerung gerufen hat:
„Winnetou und Old Shatterhand waren Idole ganzer Generationen.“
Nannte nicht der große deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer seine Tochter „Winnetou“? Und ein anderer hervorragender Schriftsteller deutscher Zunge, nämlich Martin Walser, bekannte schon vor längerer Zeit:
„Es kommt mir selber komisch vor, wie sehr ich diesem Autor wieder verfallen bin (…). Winnetou und Scharlih, die, um einander genau zu verstehen, oft keines einzigen Wortes bedürfen, erinnern mich in ihrer vor keiner Niedertracht kapitulierenden Menschlichkeit manchmal an Goethes Iphigenie-Dialoge (…). Man könnte trübsinnig und traurig werden, wenn man erlebt, was Karl May alles wollte und wie wenig das in der handelnden Welt genützt hat.“
Zu seiner besten Zeit, nämlich im Jahr 1896, veröffentlichte der „May-ster“ den Roman „Old Surehand III“, in dem die Blutsbrüder Winnetou und Old Shatterhand erneut auftreten. Darin lässt der in der Ich-Form erzählende Autor sich als besagter Old Shatterhand explizit zur Rassismus-Frage Stellung nehmen. Das Beste, was man gegen Rassismus tun könne, sei, „in eigener Person und durch den eigenen Lebenswandel den Beweis zu führen, dass derartige Anschuldigungen wenigstens mich nicht treffen“ (Zitat im Original von 1896, Seite 110).
Tatsächlich hat er diesen Beweis in eigener Person insofern erbracht, als er sich in seinen erfolgreichen Romanen immer wieder im Sinne einer ausgeprägten, vorbildlichen, aus christlichem Geist gespeisten Humanität verhält.
Und just in dem genannten Roman erklärt er als Old Shatterhand unzweideutig, dass „ich keine Rasse für besser als die andere halte; es gibt bei allen Völkern und in allen Ländern gute und auch böse Menschen“ (S. 109; ähnlich 289). Gemäß dieser Maxime handelt der Held als Old Shatterhand und Kara ben Nemsi stets.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass ein in diesem Roman auftretender Schwarzer zu seinen geschätzten Freunden zählt; er befreit ihn mit einem riskanten Manöver aus der Gefangenschaft. Gewiss lassen sich hier und da Stellen finden, die man heute als typisierende Klischees kritisch betrachten würde; der Schwarze wird mit dem „Nichtwort“ beschrieben. Doch dazu hat die Karl-May-Gesellschaft klarstellend verlauten lassen:
„Die zeitbedingte Weltsicht teilt Karl May mit praktisch allen Autorinnen und Autoren der Vergangenheit.“
Die Besonderheit Mays bestehe indessen darin, dass in seiner Darstellung des „Wilden Westens“ von Anfang an die Sympathie des Erzählers der leidenden indigenen Bevölkerung gegolten habe: Deren Würde und menschlichen Qualitäten verkörperten sich in Idealfiguren wie Winnetou, und die tragische Vernichtung ihrer materiellen und kulturellen Existenz liege allen Nordamerika-Erzählungen Mays zu Grunde. In der Tat beweisen das die Originalromane weit deutlicher noch als die Kinoverfilmungen des 20. und 21. Jahrhunderts.
In der relativ frühen Erzählung „Im ‚Wilden Westen’ Nordamerikas“ (1883) bekannte May sich zu der Überzeugung:
„Ein jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, der die Liebe ist; alle Gesetze menschlicher Entwicklung sollen sich auf das eine, große Gesetz der Liebe gründen, damit das Ebenbild des großen göttlichen Meisters nicht beleidigt, beschimpft oder entweiht werde.“
Demgemäß liest man in dem südamerikanischen Reiseroman „El Sendador“ (1894 in Buchform unter den Titeln „Am Rio de la Plata“ und „In den Kordilleren“ erschienen), dem Roten sei zu zeigen, dass seine Menschenrechte geachtet werden. Sich selbst bringt May in dieser spannenden Erzählung an nur zwei Stellen mit seinem nordamerikanischen Kunstnamen „Old Shatterhand“ ins Gespräch; prompt muss er sich diese beiden Male seine humane Einstellung vorwerfen lassen: „Wieder die berühmte Menschlichkeit Old Shatterhands!“
Wenn May den Häuptling Winnetou im Sterben vor seinem Blutsbruder ein christliches Bekenntnis ablegen lässt, so hat das freilich nichts mit „Historie“ zu tun, sondern mit seinem durchaus sensiblen, insgesamt eher unaufdringlichen Bemühen, Menschen zum Gottesglauben zu verhelfen. Er hat sich noch in seinem letzten, umjubelten Vortrag — wenige Tage vor seinem Tod Ende März 1912 — erneut und ganz ausdrücklich als Christ bezeichnet.
Fünf Jahre zuvor hatte er betont, er selbst sei kein religiöser Heuchler, sondern „ein ernster, gläubiger Mensch“. Das war keine Verkaufsmasche mit Blick auf fromme Leserschaft oder Verlage: Wer sein Gesamtwerk kennt, weiß, dass dieses Bekenntnis aus seinem Innersten kam.
Schon seine Großmutter hatte die Glaubenskräfte in ihm wecken helfen. Im ersten Band der Gesammelten Werke, dem Reiseroman „Durch Wüste und Harem“, spricht er von „dem tief im Herzen wurzelnden Gottesglauben“, der sich dessen zu erinnern weiß, „der in dem Schwachen mächtig ist“.
Das hier zitierte Bibelwort aus 2. Korinther 12,9 dürfte für den Schriftsteller und Dichter persönlich von Bedeutung gewesen sein. War er nicht in seiner ganzen, von früher Armut, Schicksalsschlägen und Gefängnisaufenthalten belasteten Existenz ein Schwacher, dem der Gottesglaube — namentlich dank des damaligen Gefängnisseelsorgers — wieder aufgeholfen hatte? „Ich bin dem Heilande nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden“, bekennt der Romancier später als Old Shatterhand.
In den vergangenen Jahren haben sich mehrere Sachbücher mit Mays Religiosität und speziell mit seinem Einsatz für den christlichen Glauben befasst. Tatsächlich zeigt sich in dem fast hundert Bände umfassenden Gesamtwerk als ein sich durchhaltendes und nachwirkendes Element ein geradezu missionarischer Zug — teils unterschwellig, teils deutlich hervortretend.
Schon als ganz junger Schriftsteller hatte er „Geographische Predigten“ (1875/76) veröffentlicht, in denen es heißt:
„Die Heimat, die da droben unsrer wartet, zieht unser bestes und schärfstes Denken himmelwärts und nimmt unser Fühlen und Wollen gefangen in einer Sehnsucht, die — den meisten unbewußt — sich wie ein Faden durch unser ganzes Leben zieht.“
Mit alledem dürfte der Beweis erbracht sein, dass Karl Mays „Fühlen und Wollen“ auch nicht ansatzweise als rassistisch bezeichnet werden kann. Stets leitete ihn vielmehr die Überzeugung:
„Das Menschenherz ist ruhende Knospe, bis die Liebe es für den Himmel schwellt und öffnet.“
Dieser Aphorismus stammt aus dem spirituellen Band „Himmelsgedanken“ (1900), in dem auch in Gedichtform zu lesen ist:
„Hilf mir, o Gott, stets deiner zu gedenken, / Und was ich thu, auf dich nur zu beziehn. / Woll dich in mich, lass mich in dich versenken, / Und Alles, was mich von dir scheidet, fliehn. / Ich will nur dich allein im Aug behalten / Und geistig mich durch dich für dich gestalten.“
In einem Brief an Baronin Sophie von Boyneburg heißt es 1902:
„Ja, es ist wahr: Ich lebe in einer eigenen Welt. Sie ist so licht, so sonnig, und Engelsflügel schweben auf und nieder. Aber ich wohne da in großer Einsamkeit (…). Aus dieser meiner Welt heraus sind meine Bücher geschrieben worden. Darum ist es nicht so leicht, ihren Inhalt zu begreifen.“
Bereits mehrere Jahre zuvor hatte May in dem genannten Roman „Old Surehand III“ mit Blick auf die Wirklichkeit von Engeln sinniert:
„Wer überzeugt ist, daß unsichtbare Wesen ihn umgeben, welche jeden Gedanken kennen, jedes seiner Worte hören und alle seine Werke sehen, der wird sich gewiß hüten, so viel er kann, das Mißfallen dieser Gesandten des Richters aller Welt auf sich zu ziehen.“
Ein in diesem Sinne höchst gewissenhafter Mensch wird garantiert kein Rassist sein! Er ist vielmehr nicht weit weg davon, als Mystiker gelten zu können — weshalb ich Karl May mit etlichen Zitaten als eines von über 30 Beispielen in mein Buch „Lust auf Gott. Einführung in die christliche Mystik“ (2019) aufgenommen habe.
In einem Brief an Prinzessin Wiltrud von Bayern betonte er etwa, dass sich der Gewaltmensch in den Edelmenschen zu verwandeln habe und „dies nur auf dem Wege, den uns Christus zeigt, geschehen könne.“ 1909 schrieb er an sie: „Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen — — — Gott!“
Gewiss war Karl May kein „Heiliger“ und ein Kind seiner Zeit, aber gleichwohl maßgeblich gelenkt von einem inneren Emporstreben, das ihn zunehmend demütig werden ließ. „Ich bin nur ein bescheiden Gras, / doch eine Ähre trag auch ich“, dichtete er auf seiner Orientreise — unter Tränen, wie auf der Rückseite des Manuskripts vermerkt ist. In dem Wort „Ähre“ klingt dabei unüberhörbar das Wort „Ehre“ mit. Man sollte ihm seine Ehre endlich lassen!
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