Ich studiere an einer Berliner Universität – und an den hiesigen Universitäten wird gerade die Gestaltung des kommenden Wintersemesters (2020/2021) mit Blick auf die Maßnahmen zur Pandemieabwehr besprochen. Aufgrund der derzeitigen Situation gibt es Überlegungen, die rein digitale Lehre, wie sie jetzt gerade im Sommersemester präsentiert wird, für das Wintersemester auf eine Mischung aus Präsenzlehre und digitaler Lehre auszuweiten.
Die Corona-Krise und die seither an den Hochschulen eingesetzte „digitale Lehre“ stellen die Studentinnen und Studenten vor besondere Herausforderungen. Die für das Wintersemester angedachte Lösung – eine Mischung aus Präsenzlehre und digitaler Lehre – wird die bestehenden Probleme, die ich nachfolgend erläutere, jedoch kaum oder gar nicht beseitigen können.
Meiner Ansicht nach sorgt eine Mischung aus Präsenzlehre und digitaler Lehre nur für mehr Ungleichheit. Das liegt sowohl an den Problemen, die durch die Corona-Krise hervorgerufen wurden, als auch an den Bedingungen, die die Uni selbst für das folgende Wintersemester stellt. Ich möchte die aktuelle Lage nicht verharmlosen, aber auch nicht überinterpretieren. Eine sogenannte zweite Welle wird laut Wissenschaftlern immer unwahrscheinlicher (1, 2). Europaweit gibt es immer mehr Lockerungen und mittlerweile sind auch wieder die ersten Urlauber auf Mallorca eingetroffen (3).
Forderung
Die (Exzellenz-)Universitäten sollen im kommenden Wintersemester zur reinen Präsenzlehre zurückkehren, ohne Abstandsregel, ohne Maskenpflicht und ohne Bildung von kleineren Gruppen, also so, wie es bereits in den Kindertagesstätten (Kitas) und Schulen gehandhabt wird (4, 5).
Was die Berliner Unis betrifft, fordert die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität, den Präsenzbetrieb zum Wintersemester 2020/2021 wieder aufzunehmen (6). Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) hat beschlossen, die Abstandsregel im nächsten Schuljahr wegfallen zu lassen (7). Und warum sollte eine vollumfängliche Präsenzlehre an den Unis nicht wieder möglich sein, während die Maßnahmen an Kitas und Schulen bereits aufgehoben sind?
Nur eine reine Präsenzlehre kann – unter Berücksichtigung der benötigten Ausgestaltung der Seminarräume für Personen mit physischen und/oder psychischen Beeinträchtigungen – für eine gleichberechtigte und auch alle Personen würdigende Lehre sorgen.
Genau wie Kitas und Schulen sind auch die Universitäten ein Ort der Begegnung. Davon leben diese Einrichtungen. Dort können die Menschen wieder ihr Recht auf Bildung wahrnehmen.
Die Unis sind zuallererst ein Ort, an dem die Persönlichkeit gestaltet und der Austausch gefördert wird. Im Umgang mit anderen Personen werden Resilienz und Kompetenz gestärkt. Ein solcher Ort darf nicht aus einer Überinterpretation von Vorsichtsmaßnahmen heraus stillgelegt werden.
Begründung
• Die rein digitale Lehre hat bereits jetzt allen Beteiligten gezeigt, dass sie nicht die Hoffnung erfüllen kann, die in sie gesetzt wurde. Die digitale Lehre lässt vor allem den intensiven Austausch vermissen. Diese ernüchternde Tatsache wurde laut Umfragen von allen Beteiligten wahrgenommen. Nicht umsonst haben bereits 2.000 Dozentinnen und Dozenten verschiedener Hochschulen ein Schreiben veröffentlicht, in dem sie eine Rückkehr zur Präsenzlehre fordern. Mittlerweile hat dieses Schreiben 5.827 Unterzeichner, Stand: 22. Juli 2020 (8).
• Da aufgrund der aktuellen Auflagen immer noch einige Uni-Bibliotheken geschlossen sind und die Ausleihe in den bereits geöffneten Bibliotheken nur stark eingegrenzt vonstattengeht, ist es kaum bis gar nicht möglich, die gewünschten Bücher auszuleihen und umfassend wissenschaftlich zu arbeiten. Und auch hier zeigt sich, dass die digitale Lehre klar ihre Grenzen hat: Denn da nicht jedes Buch digital verfügbar ist, muss man wohl so lange auf das gewünschte Exemplar warten, bis die Corona-Krise vollends vorbei ist. Ein sinnvolles und flüssiges Arbeiten beispielsweise an Seminararbeiten ist so leider undenkbar.
• Möglicherweise wird auch die technische Ausstattung der Studentinnen und Studenten von einigen Lehrkräften schlichtweg überschätzt (siehe hierzu zum Beispiel Quelle Nr. (9) unter Textabschnitt „Viele Studierende sind schlecht ausgestattet fürs Online-Semester“). Nicht jeder hat einen geeigneten Laptop oder PC zu Hause; oftmals teilt man sich diese Geräte, was nicht immer effektiv ist. Dagegen werden die PC-Pools, die sich in den Unis befinden, seit Mitte März nicht mehr genutzt.
• Wer aufgrund der Corona-Krise keinen Job mehr hat, für den ist bereits der Kauf von Druckerpatronen oder anderen wichtigen Utensilien, die für das Studium gebraucht werden, finanziell kaum noch zu bewerkstelligen (10).
• Abgesehen vom Geldmangel durch Jobverlust, steigen auch viele Ausgaben. Das Mittagessen ist außerhalb der Uni zumeist teurer als in der Kantine, ebenso liegen die Kosten für Fotokopien und Ähnliches höher. Hinzu kommt, dass man sich die Bücher, die man für die Seminararbeit benötigt, kaufen muss, da man sie sich momentan nicht ausleihen kann. Und wer sich seit über zwei Monaten vorrangig um seine finanzielle Situation kümmern muss, hat keine Zeit mehr für die Uni. Das heißt, dass die Jobangebote der Universitäten auch hier bei einigen Studierenden zur Entspannung beitragen könnten, wenn sie wieder öffnen würden.
• Ein Grund, der von den Unis angegeben wird, warum sie auch im Wintersemester nicht zum Regelbetrieb zurückkehren wollen, ist der, dass eine Reihe von Studierenden zurzeit Betreuungsaufgaben leisten müssen. Dieses Argument zieht aber nicht, weil die Kitas bereits seit Juni zum Regelbetrieb zurückgekehrt sind und die Schulen ab August folgen werden (4, 5). Für Betreuung ist also gesorgt, da das Wintersemester erst im Oktober oder November beginnt.
• Unterschwellig wird angedeutet, dass Kinder – beziehungsweise „Betreuungsaufgaben“ – ein Problem seien. Das Problem sind aber nicht die Kinder, sondern es ist die digitale Lehre selbst: Es ist schlichtweg unmöglich, die digitale Lehre – und da spreche ich aus eigener Erfahrung – parallel zu den Betreuungsaufgaben zufriedenstellend zu meistern (11). Ein Achtstundentag im Homeoffice, sei es als Student oder als Angestellte/r der Firma X, und eine ganztägige Betreuung der Kinder und/oder anderer Bedürftiger sind gleichzeitig kaum möglich. Es ist offensichtlich, dass hier einiges auf der Strecke bleibt.
• Der Senat der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) fasste für das Wintersemester folgenden Beschluss: Präsenzveranstaltungen sollen vorrangig für StudienanfängerInnen und für die, die ihr Studium demnächst abschließen wollen, stattfinden (12). Das heißt aber, dass der Großteil der Studenten außen vor bleiben wird. Gleichberechtigung ist das nicht!
Aus all dem ergibt sich, dass der Ansatz der digitalen Lehre wie auch eine Mischung aus Präsenzlehre und digitaler Lehre in Zeiten der Corona-Krise einfach nicht überzeugen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) www.rnd.de/gesundheit/christian-drosten-zweite-corona-infektionswelle-konnte-ausbleiben-EKCS7AC5UFJUFCJX2D45FJBHVQ.html
(2) www.n-tv.de/panorama/Streeck-erwartet-keine-zweite-Corona-Welle-article21803064.html
(3) www.tagesschau.de/ausland/mallorca-corona-touristenankunft-101.html
(4) www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/06/berlin-senat-regelbetrieb-kitas-schulen-gastronomie-kollatz.html
(5) www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/06/brandenburg-lockerungen-corona-eindaemmung-schulen-kitas.html
(6) www.tagesspiegel.de/berlin/coronavirus-in-berlin-71-neuinfektionen-alle-corona-ampeln-weiterhin-auf-gruen/25655678.html (Meldung vom 19. Juni 2020, 12:14 Uhr)
(7) www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/kmk-regulaerer-schulbetrieb-spaetestens-nach-den-sommerferien.html
(8) www.praesenzlehre.com/
(9) www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-studis-in-finanzieller-not-wenn-profs-fuer-ihre-studierenden-spenden/25909234.html
(10) www.rnd.de/politik/studenten-in-corona-krise-40-prozent-haben-ihren-job-verloren-R6IJD2ROBQVQEB6FH5KFJ3EHKM.html
(11) www.tagesschau.de/investigativ/swr/homeschooling-111.html
(12) https://www.hrk.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/meldung/hrk-senat-prioritaet-fuer-gesundheitsschutz-so-viel-praesenzlehre-wie-moeglich-4742/
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