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Die Rettung unserer psychischen Gesundheit

Die Rettung unserer psychischen Gesundheit

Die Professorin für Sozialpsychologie Annemarie Jost beschreibt in ihrem neuen Buch, wie Heilung von den Coronamaßnahmen gelingen kann.

Es ist noch nicht vorbei. Während die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auch in diesem Sommer vor dem nächsten heißen Herbst wieder zurückgefahren werden, zeichnen sich die psychosozialen Folgen für alle Teile der Bevölkerung immer deutlicher ab. Die Ungleichheiten bei den Macht- und Einkommensverhältnissen spitzen sich immer weiter zu, Bildungs- und Ausbildungsrückstände machen sich zunehmend bemerkbar, mangelnde Möglichkeiten von Gemeinschaftsaktionen haben zu einer unheilvollen digitalen Blasenbildung und massiven Verfestigung von (Vor-)Urteilen geführt.

Kollektiv und individuell leiden wir an einer fortschreitenden Zersplitterung der Gesellschaft und den daraus sich ergebenden Konsequenzen. Stressbelastung, Schlafmangel, Angstzustände, Schuldgefühle, Verluste, Zunahme von Partnerschaftskonflikten, Ausdünnung von Unterstützungsnetzwerken und fundamentale materielle Existenzsorgen sind nur einige der Auswirkungen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen.

Annemarie Jost, Professorin für Sozialpsychiatrie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, Psychotherapeutin und Fachärztin für Psychiatrie beschäftigt sich mit der Frage, wie wir uns vor diesem Hintergrund schützen können. In ihrem Buch Die Rettung unserer psychischen Gesundheit (1) benennt sie mutig, während viele ihrer Kollegen schweigen, die gravierenden Auswirkungen der zum Schutz der Bevölkerung ausgerufenen Maßnahmen: psychische Belastungen, chronische Erkrankungen, Mangelerscheinungen, Vereinsamung, Vermüllung, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, Essstörungen, Adipositas, Depressionen, Angstzustände, Suizid. Viele Patienten konnten, wenn überhaupt, oft nur unzureichend behandelt werden — absurd angesichts der Tatsache, dass es doch vorgeblich um unsere Gesundheit gehen soll.

Neue Richtlinien

Wie sich die Zeiten geändert haben! In der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 1986 geht es noch darum, allen Menschen ein hohes Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen: „Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern beziehungsweise verändern können.“ In den 1990er-Jahren fügte der sogenannte Settingansatz hinzu, dass die Sozialzusammenhänge, in denen die Menschen stehen, als gesundheitsfördernd angesehen wird.

Um die Jahrtausendwende wurde alles anders. Die im Zusammenhang mit biologischen Gefahren entwickelten Health-Security-Konzepte nahmen einen immer größeren Raum ein. Diese Strategien folgen nicht nur zivilen, sondern auch militärischen Logiken — und damit auch den Einflüssen der Geheimdienste, die mit einer partizipativen Gesundheitsförderung von unten unvereinbar sind. Eine weitere strategische Neuausrichtung der WHO in diese Richtung betrifft die Public-Private-Partnerships, bei denen große privatwirtschaftliche Organisationen und Stiftungen einen entscheidenden Einfluss auf die Maßnahmen zur Weltgesundheit ausüben.

Im Manipulationsdschungel

Annemarie Jost scheut sich nicht, die Machtkonzentration und Verflechtungen zwischen internationalen Organisationen, Regierungen, Geheimdiensten, Militär, Wissenschaft, Bildungseinrichtungen, Nachrichtenagenturen, Medien, Zentralbanken, Fondsgesellschaften, globalen Konzernen, Datenaggregationen und Werbeagenturen zu benennen. Nudging verhindert, dass die Allgemeinheit sie erkennt. Regelmäßige „Anstupser“ sorgen dafür, dass wir uns nicht dorthin wenden, wo die Musik wirklich spielt.

Debatten darüber, inwiefern eine gezielte Einflussnahme auf Emotionen wie Angst oder Schuldgefühle ethisch vertretbar ist oder wie weit eine Regierung psychologische Manipulationsstrategien einsetzen darf, ohne dabei die Demokratie paternalistisch zu unterwandern, gibt es so gut wie nicht.

Techniken wie Aufmerksamkeitsfokussierung, Worst-Case-Szenarien, reißerische Schlagzeilen, häufig wiederholte angsteinflößende Bilder und medienwirksame Inszenierungen populärer Multiplikatoren werden ebenso unbedenklich eingesetzt wie die Erzeugung von Scham- und Schuldgefühlen, Kriegsrhetorik, eingängige Slogans, Framing, Kontaktschuld-Denken, Geldstrafen und Isolation. Maßnahmenkritiker gelten als antisozial, egoistisch und unempathisch, Befürworter der Maßnahmen hingegen als fürsorglich, verantwortungs- und rücksichtsvoll.

Angesichts des Schürens der allgemeinen Verunsicherung und Verwirrung bleibt den meisten Menschen nur der Rückzug in die Folgsamkeit. Von dem daraus sich ergebenden unkritischen Gruppendenken sind auch Entscheidungsträger betroffen. Hier verweist Annemarie Jost auf die von Gary Klein entwickelte sogenannte Pre-Mortem-Methode, die aus der Blindheit heraushelfen kann. Die Teilnehmenden stellen sich vor, sich in der Zukunft zu befinden und festzustellen, dass der Plan in seiner jetzigen Fassung in einer Katastrophe geendet hat. So können blinde Flecken sichtbar gemacht und Irrtümer und Schwachstellen ausgeräumt werden.

Nur indem wir die eigenen Fehler, Schwächen und Begrenzungen erkennen, können wir uns von unserer Neigung befreien, Feindbilder und Sündenböcke zu erfinden. Anstatt die eigenen seelischen Defizite und Verstörungen auf andere zu projizieren, kümmern wir uns um die Wurzeln des Übels. So können wir uns darüber bewusst werden, wie Vereinzelung, Entwurzelung, entfremdete Lebensbedingungen, Mangel an persönlicher Sinngebung und schwache soziale Bindungen uns empfänglich für Verführungen und Verdrehungen machen.

Auswege

Trotz ihrer kritischen Beobachtungen nimmt Annemarie Jost Abstand davon, von Zügen eines totalitären Systems zu sprechen. Ihre Befürchtung ist vor allem, „dass durch technische Innovationen, radikal veränderte Kommunikationsmöglichkeiten und globale Strukturwandelprozesse in ihrer Zugehörigkeit verunsicherte Menschen anfällig werden, Heilsversprechen zu glauben, wenn aus dieser Verunsicherung nicht eine neue Kultur der Verbindung, Beziehungsgestaltung und Identitätsentwicklung hervorgeht.“

Ihr besonderes Augenmerk liegt hierbei auf den aktuellen biotechnologischen Entwicklungen und mRNA-Impfstoffen, die es ermöglichen, sich in die Genetik psychotischer Störungen „einzuhacken“ und unser Leben zu regulieren. Auch die Künstliche Intelligenz in Kombination mit der systematischen Sammlung und Verarbeitung großer Datenmengen schafft Abhängigkeiten, aus denen wir riskieren, nicht wieder herauszukommen. Sie hält es jedoch für möglich, die Selbstverantwortung auf persönlicher, kommunaler und globaler Ebene zu stärken.

Überraschenderweise erscheint es ihr wenig bedenklich, die Eigenständigkeit in Krisen kurzfristig durch Ver- und Gebote gepaart mit psychologischer Einflussnahme zu begrenzen. Die Krise dürfe nur nicht zum normalen Manipulationszustand werden. Demnach wäre „ein bisschen Manipulation“ schon in Ordnung, wenn sie denn einem guten Zweck diene? So erfüllt sich vor allem in den letzten beiden Kapiteln des Buches, was der Autorin wohl bewusst ist: Einige ihrer Bemerkungen werden sicherlich Widersprüche auslösen.

In kleinen Schritten

Annemarie Jost warnt davor, dass es auch bei Graswurzelbewegungen eine besondere Wachsamkeit braucht. Bewegungen von unten sind nicht unbedingt frei von der Lenkung von oben. Eine gängige Technik ist hier das Astroturfing, der von Unternehmen geförderte gezielte Aufbau zivilgesellschaftlicher, bürgernaher Initiativen, die in Wirklichkeit den Interessen der Sponsoren entsprechen.

Um das alles zu entwirren, brauche die Befreiung aus dem Netz der manipulativen Verflechtungen viel Zeit und sei daher nur in kleinen Schritten möglich.

„Es braucht eine freie und tiefe Auseinandersetzung in allen Bereichen, insbesondere in Schulen und Hochschulen, um sich aus dem Zugriff einer übermächtig gewordenen Beeinflussung Schritt für Schritt zu befreien, es braucht historische Analysen, um Parallelen zu vergangenen Fehlentwicklungen zu identifizieren, es braucht VordenkerInnen, die es wagen, mit Tabus zu brechen, und es braucht die echte Beteiligung sehr unterschiedlicher Menschen und die Fähigkeit, einander zuzuhören und gewaltfrei zu kommunizieren.“

Vor allem jedoch braucht es die Erkenntnis, dass es nicht im Interesse der verwaltenden Organismen liegt, dies zu fördern.

Von einem auf Manipulation und Überwachung ausgerichteten System zu erhoffen, es würde zulassen, dass man es auseinandernimmt, erfasst die Problematik nicht in ihrer Grundsätzlichkeit.

Die freie und tiefe Auseinandersetzung wird ja eben gezielt verhindert, ebenso wie historische Analysen und jedes Bestreben, Fehlentwicklungen zu identifizieren. Die Vordenker, Pioniere und Tabubrechenden, die es ja durchaus gibt, werden diffamiert, ausgegrenzt, bedroht und verfolgt. Man lässt sie nicht zu Wort kommen, um die alte Ordnung nicht zu gefährden, bevor die neue Ordnung nicht greift.

So lesen sich die Handlungsempfehlungen für die Praxis ein wenig wie eine fromme Wunschliste: die Wiederbelebung von Teilhabe, die Stärkung von Care-Arbeit, die sozialpsychiatrische Weiterentwicklung von Therapien, die Förderung von Bewegung im Freien, die Weiterentwicklung der Sterbekultur. Ja, das alles ist wichtig. Es ist gut zu wissen, dass es hierfür Interesse und lebendige Ansätze gibt. Doch es fehlt ein wichtiger Zwischenschritt: Was machen wir mit dem System, das genau das zu verhindern sucht?

In die Heilung kommen

So einfach ist es nicht. Ideen und Vorschläge alleine reichen nicht. Wir müssen tief in uns hinein, um einen Ausweg zu finden. Gegen das System ankämpfen funktioniert nicht, denn jede Art von Gewalt würde es nur stärken. Wegschauen geht nicht, da es das Problem ebenfalls verschlimmert. Fliehen können wir auch nicht, denn das System ist überall. Alles, was also Tiere tun, um einer Gefahr zu entkommen — angreifen, fliehen, totstellen — bringt uns hier nicht weiter. Wir sind als Menschen gefragt. Was haben wir, was steht uns zur Verfügung, das uns von den anderen Lebewesen auf diesem Planeten unterschiedet?

Wir haben — noch — einen freien Willen und mit ihm die Möglichkeit, uns zu entscheiden. Anstatt uns von dem, was in uns krank, schwach und abhängig ist, gänzlich einwickeln zu lassen, können wir unsere gesunden Anteile stärken. Recovery, so zitiert Annemarie Jost, ist das Einleiten eines Veränderungsprozesses der eigenen Überzeugungen, Werte, Gefühle, Ziele, Fertigkeiten und Rollen. Es dient der Stärkung der Entfaltungsmöglichkeiten und Unterstützung der wesentlichen persönlichen Ziele.

Dies bedeutet nicht, dass wir frei von Symptomen sind. Symptome sind lebenswichtig. Sie machen uns darauf aufmerksam, was in uns noch geheilt werden möchte. Ihre Existenz muss uns jedoch nicht daran hindern, „ein persönlich sinnvolles, hoffnungsvolles Leben mit Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftlicher Teilhabe und der Verwirklichung der tiefsten inneren Ziele“ zu verwirklichen. Wir sind also nicht dazu verdammt, Opfer der Ereignisse zu werden. Denn als Menschen verfügen wir über eine großartige Gabe, die uns dabei hilft, wieder ganz zu werden: Resilienz.

Resilienz ist die Fähigkeit, auch schwere Krisen zu bewältigen und als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Große Vorbilder in der Psychologie, die selber die schlimmsten Traumatisierungen überstanden haben, sind etwa der amerikanische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der österreichische Psychiater Viktor Frankl und der französische Psychiater Boris Cyrulnik. Mit unserem Resilienzvermögen, unserer Widerstandsfähigkeit, unserem Selbsterhaltungstrieb, den Selbstheilungskräften unseres Körpers und verschiedenen psychischen Bewältigungsstrategien stehen uns hierbei mächtige Hilfen zur Verfügung.

Damit sie wirken können, ist es notwendig, die zerstörerische Struktur zu erkennen und den Willen zu entwickeln, uns aus ihr zu befreien.

Nur, was wir sehen, können wir verändern.

Was wählen wir: Kontrolle oder Erfahrung? Mediale Bombardierung oder inneren Frieden? Expertentum oder Selbstwirksamkeit? Hygienewahn oder ganzheitliche Gesundheit? Schuld oder Freiheit? Ein technokratisch-administratives Narrativ, das uns verzwergt und zu Objekten macht, oder wertschätzende Begegnungen und den Austausch darüber, was uns wirklich wichtig ist?

Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Steigen wir nun zu ihm hinab und unterhalten uns mit ihm. Tun wir es nach allen Regeln der gewaltfreien Kommunikation: Was hast du erlebt? Wie fühlst du dich? Was brauchst du jetzt? Was wünschst du dir? (2). Hören wir ihm zu. Reichen wir ihm die Hand. Und wenn es so weit ist, führen wir es aus dem Brunnen heraus ins Licht, wo alles klar ist und wo sich keine Manipulation, keine Propaganda und keine Lüge mehr halten kann.


Annemarie Jost „Die Rettung unserer psychischen Gesundheit. Wie wir jetzt die Kurve kriegen


Quellen und Anmerkungen:

(1) Annemarie Jost: Die Rettung unserer psychischen Gesundheit. Wie wir jetzt die Kurve kriegen, Frank und Timme 2022.
(2) https://www.rubikon.news/artikel/frieden-beginnt-im-gesprach


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