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Die Rassismusleugner

Die Rassismusleugner

Nur Isolation kann die Ausbreitung eines gefährlichen Gedankenvirus stoppen — eine satirische Geschichte über den Wahnsinn der Coronahysterie.

Alles begann in einem kleinen Land, irgendwo in Europa. Eines Abends kam es unter nach wie vor ungeklärten Umständen zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen einigen weißen und schwarzen Menschen. Aufgrund der ethnischen Durchmischung dieses Landes ist das soweit nichts Ungewöhnliches. Solche Zwischenfälle kommen vor. Leider, und das war das Tragische an diesem Ereignis, kam es dabei zum Tod eines Schwarzen. Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll von Berichten über diesen Vorfall. Im Blätterwald wurden die Geschehnisse der ganzen Nacht bis ins kleinste Detail aufgearbeitet, Polizeiberichte verfasst und in Teilen veröffentlicht. Wortreich meldeten sich gebildete Kommentatoren zu Wort und verkündeten laut: „Wir haben ein Rassismusproblem!“

Von diesem Augenblick an entwickelten die Ereignisse eine Eigendynamik, die im Nachhinein kaum noch nachzuvollziehen ist. Beinahe alle Medien sprangen auf den Zug auf und verkündeten: „Wir haben ein Rassismusproblem.“ Sie suchten nach Beispielen, die ihre Behauptung stützten, und natürlich fanden sie die in einem Land, das Weiße und Schwarze zu gleichen Teilen bewohnten.

Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Schwarzen, ungeachtet der Hintergründe, galten von nun an als Rassismus. Jeder Verkehrsunfall, in dem ein Weißer und ein Schwarzer verwickelt waren, wurde zu einem rassistischen Akt erklärt, jede unfreundliche Äußerung eines Weißen einem Schwarzen gegenüber ebenso. Auch die Polizeibehörden erklärten gewichtig: Ihre Kriminalstatistiken wiesen ganz eindeutig auf ein Rassismusproblem hin. Nach dem Täter, der Auslöser dieser Debatte gewesen ist, hat übrigens niemand gesucht und so wurde er auch nie verurteilt.

Plötzlich fand man ihn überall im Alltag, den Rassismus. Ungleiche Bezahlung von Weißen und Schwarzen, ganz eindeutig Rassismus. Dabei mussten die Vergleichsgruppen nicht einmal denselben Beruf ausüben. Ein weißer Arzt verdient mehr als eine schwarze Krankenschwester? Rassismus.

Es genügt doch, dass sie beide im Gesundheitssektor tätig sind. Ein Vorfall wurde besonders breit in den Medien diskutiert: Eines Tages erwischte ein weißer Mann seine Frau mit einem Schwarzen im Bett. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, in dessen Verlauf der Weiße dem Schwarzen Schimpfwörter an den Kopf und diesen anschließend aus seiner Wohnung warf. Dies war, so die einhellige Expertenmeinung, ein klarer Fall von Rassismus gegenüber dem Schwarzen. Denn nur weil der Mann schwarz gewesen sei, habe sich der Ehemann so verhalten und dem Schwarzen den Verkehr mit seiner Frau missgönnt.

So stand nach wenigen Wochen fest: Der Rassismus in diesem Land ist gravierender als bisher angenommen. Beschwichtigende Stimmen, die vor Panikmache und Hysterie warnten, wurden dabei schnell nieder geschrien und diskriminiert. „Rassismusleugner“ hieß es überall, „Rassismusverharmloser“ oder gar schlicht „Rassismus“.

Wie könne man angesichts der beiden gut dokumentierten Fälle so eine Aussage machen? Auf diese Weise gefährde man das Gemeinwohl, ja den sozialen Frieden. Jeder wisse doch, dass Rassismus in diesem Land ein drängendes Problem sei. Es handele sich um eine wahre Epidemie des Rassismus, das müsse doch jedem klar sein. So wurde der Ruf nach Maßnahmen laut. Die Regierung solle endlich etwas unternehmen, um den Rassismus einzudämmen, denn, so waren sich vor allem selbsternannte Antirassisten einig, „Rassismus tötet!“

Der Notstand

So kam es, dass nur wenige Tage später der Präsident des Landes vor die Mikrofone trat und eine lange, emotionale Rede hielt. „Es ist nun mit aller Deutlichkeit zutage getreten, was diese Gesellschaft schwer belastet. Ganz eindeutig haben wir ein schwerwiegendes Rassismusproblem.“ So verkündete er: „Ich rufe daher die ethnische Notlage nationaler Tragweite aus. Diese ermöglicht es uns, nach dem Rassismusbekämpfungsgesetz weitgehende Maßnahmen zu erlassen, um den epidemischen Rassismus einzudämmen. Wir werden dazu in den kommenden Tagen einen Maßnahmenkatalog entwickeln.“

Zeitgleich verkündete der Sozialminister, sein Institut habe einen Test entwickelt, mit dem Rassismus identifiziert werden könne. Auf diese Weise sei es möglich, Rassisten zu isolieren und mit strikten Erziehungsmaßnahmen zu heilen.

Der Test funktionierte so, dass er die Hautfarbe der Getesteten Menschen ganz genau bestimmen konnte. Je weißer jemand auf der Albinoskala war, als desto rassistischer wurde er eingestuft. Großer Applaus schallte durch den Blätterwald und sofort wurde eine flächendeckende Nutzung des Testes angekündigt. Dies sei notwendig, um ein Überlaufen der Gefängnisse zu verhindern.

Denn wenn man den Rassismus nicht bald eindämme, dann käme es zu massenhaften Straftaten von Weißen gegenüber Schwarzen. Die leisen, beschwichtigenden Stimmen, die zu bedenken gaben, dass es auch in der Vergangenheit immer mal wieder zu solchen Straftaten gekommen war, ohne dass die Gefängnisse überliefen, ja, dass Straftaten zu einem gesellschaftlichen Leben, so traurig es sei, dazu gehören und sich nicht verhindern lassen, wurden ignoriert. Man bezeichnete die solchermaßen hetzenden Medien und Personen als Rassisten, Leugner, ja gar Verschwörungstheoretiker.

Noch am selben Tag wurden die Maßnahmen beschlossen und umgesetzt. Von nun an musste sich jeder Mensch, sollte er Symptome von Rassismus zeigen, umgehend testen lassen, und wurde, bei positivem Testnachweis, isoliert und zur zweiwöchigen Umerziehung gezwungen. Zu den Symptomen von Rassismus zählten unter anderem: weiße Hautfarbe, Vorstrafen, Wohnung oder Haus in mehrheitlich von Weißen bewohnten Gebieten, Wohnung oder Haus in mehrheitlich von Schwarzen bewohntem Gebiet, mehrmalige Begegnung mit Schwarzen, Kontaktvermeidung zu Schwarzen.

Auch ein Streit mit einem Schwarzen, ebenso wie ein „falscher“ Blick galten als Symptome. So kam es zu massenhaftem Einsatz des Testes, der viele Fälle von Rassismus bestätigte. Plötzlich zählten auch jene Menschen zu Rassisten, die ihr Leben in Nachbarschaft zu Schwarzen gelebt, friedlich, offen und freundlich mit ihnen zusammengelebt und sich nie Gedanken über Hautfarbe gemacht hatten. Sie galten plötzlich als rassistisch. Sogar unter der schwarzen Bevölkerung gab es Fälle von Rassismus.

Die Regierung forderte die Menschen dazu auf, zuhause zu bleiben, sich von anderen Menschen zu distanzieren und bloß mit niemandem zu sprechen. Denn, so erklärte der Sozialminister, „die Krankheit des Rassismus verbreitet sich von Geist zu Geist über das Mittel der Kommunikation. Vermeiden Sie daher jede unnötige Kommunikation, bleiben Sie zuhause. Schützen Sie sich und andere. Seien Sie solidarisch mit der schwarzen Bevölkerung, und sprechen Sie nicht mehr mit ihr. Gemeinsam können wir diese Krise überwinden.“

Viele Menschen befolgten die Anweisung der Regierung. Doch einige renitente Hasardeure weigerten sich, diesen Aufforderungen nachzukommen. Sie schienen offenbar zu glauben, dass sie nicht anfällig für Rassismus seien, oder sie leugneten ganz offen die Epidemie des Rassismus. Dazu nutzten sie Argumente wie: „Der Rassismustest misst letztendlich nur die Hautfarbe, die keinen Rückschluss auf die Gesinnung zulässt.“ Ein Argument, das offenkundig jeder wissenschaftlichen Erkenntnis widersprach. Zum Beweis führten sie unter anderem an, dass auch Schwarze positiv auf Rassismus getestet wurden. Auch die Gerüchte, der Sozialminister verdiene an dem Test, wurden als „Verschwörungstheorie“ abgetan.

Das eskalierende Problem

Jeden Tag verkündeten die Medien die aktuelle Zahl der Fälle und verdeutlichten die Dramatik der Situation. Es zeigte sich, dass das Rassismusproblem trotz der Aufforderung der Regierung nicht aus der Welt zu schaffen war, sondern die Zahl der positiven Fälle stetig weiter anstieg. Dafür wurden die Maßnahmengegnern verantwortlich gemacht, die sich den Empfehlungen nicht beugten. Und so sah sich der Präsident gezwungen zu verkünden: „Wir haben an Ihre Vernunft appelliert, haben auf Freiwilligkeit gesetzt, doch einige von Ihnen weigern sich, an der Bekämpfung des Rassismus teilzunehmen. Sie sind nicht bereit, notwendige Opfer zu bringen, und so sehen wir uns zu drastischeren Schritten gezwungen. Wir werden die gesamte Gesellschaft stilllegen.

Kulturveranstaltungen werden gestrichen, die Gastronomie geschlossen, auch die Schulen, ein Hauptansteckungsort für Rassismus, werden geschlossen. Arbeit wird von Zuhause aus stattfinden. Alle Geschäfte, bis auf die der Grundversorgung, sollen für zwei kurze Wochen geschlossen werden, um die Zahl der Gefängniseinweisungen zu reduzieren. Zusätzlich werden die persönlichen Kontakte auf den Familienkreis beschränkt.

Auch die Grenzen werden wir schließen, um den Rassismus nicht ins Ausland zu exportieren, aber auch keine rassistischen Ideologien aus dem Ausland zu importieren. Jeder Verstoß gegen diese Verordnungen wird mit empfindlichen Bußgeldern bestraft.“

Gleichzeitig wurde, jedoch ohne größere Information der Öffentlichkeit, eine Reform des Rassismusbekämpfungsgesetzes im Eilverfahren durch das Parlament gejagt. Dieses beinhaltete nun weitreichende Maßnahmenkataloge sowie Straftatbestände, die den Rassismus wirksam bekämpfen sollten. Zudem ermächtigte es den Sozialminister, ohne Zustimmung des Parlaments Maßnahmen zu beschließen. Rassismusleugner sprachen hier von einem „Ende der Demokratie“, während die Regierung selbst das Gesetz als eine „Sternstunde der Demokratie“ bezeichneten.

Diese Änderungen trieben die „asozialen“ Maßnahmenkritiker in Massen auf die Straßen. Sie trugen ihren Rassismus und ihre Demokratieverachtung offen zur Schau, indem sie verkündeten: „Wir lassen uns unsere Freiheiten nicht wegnehmen. Demokratie statt Diktatur.“ Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, welche das Gewaltpotenzial in diesen extremistischen Kreisen nur bestätigte. Es soll sogar, so hieß es aus gut informierten Kreisen, ein echter Nazi auf diesen Demonstrationen gesichtet worden sein.

Wenig später tauchten im Internet Videos auf, aus denen eindeutig hervorging, dass die Gewalt eher von der Polizei als von den Demonstranten ausging. Auch Gegendemonstranten, die sich mit Parolen wie „Kampf dem Faschismus“ den antidemokratischen Rassismusleugnern entgegenstellten, wurden bei gewalttätigen Akten gefilmt. Diese Videos wurden von der Videoplattform kommentarlos gelöscht und so keiner breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Zudem wurden Medienschaffende im Internet massiv an ihrer Arbeit behindert, wenn sie die Verschwörungstheorie verbreiteten, die Epidemie des Rassismus sei eine starke Übertreibung. Wie es sich für einen demokratischen Rechtsstaat gehört, wurden ihre Videos und Beiträge gelöscht, ihre Bankkonten geschlossen und sie von Geheimdiensten überwacht. Denn, so der Präsident: „Die Meinungsfreiheit ist in diesem Land ein hohes Gut. Wir werden nicht zulassen, dass sie durch Verbreitung falscher Meinungen sabotiert wird.“ Die Zustimmung zu den Maßnahmen in der Bevölkerung lag bei ungefähr 80 Prozent. „Da sehen wir, dass es sich bei den Demokratiefeinden um eine kleine, radikalisierte Minderheit handelt, die unseren schönen Rechtsstaat abschaffen will.“ Verkündeten die Leitmedien, sowie der Präsident.

Das Herunterfahren der Gesellschaft des kleinen Landes war der Moment, da auch andere Länder auf der Welt aufmerksam wurden. Schon länger hatten sie die Situation in dem kleinen Land beobachtet. Doch nun war die Welt alarmiert. Sollte das Problem wirklich so dramatisch sein? Und konnte man daraus nicht folgern, dass diese Epidemie des Rassismus nicht auch in anderen Ländern wütete, ohne dass es bemerkt worden war? Nun schauten auch die anderen Länder genauer hin. Massenhaft kauften sie den hochgelobten Rassismustest und begannen ebenfalls, ihre Bevölkerungen zu testen.

Wenig später schlug die Weltrassismusorganisation Alarm: Es handele sich um eine Pandemie des Rassismus, die einzudämmen sei, so deren Vorsitzender. Diese Erklärung hatte weitreichende Konsequenzen, denn sie verpflichtete alle Länder, Maßnahmen zu ergreifen.

Auf eilig einberufenen Konferenzen wurde das Handeln der Staaten koordiniert. Einige Staaten weigerten sich. „Bei uns leben ja überhaupt nur Schwarze“, erklärte der Präsident eines afrikanischen Landes, „der Test ist vollkommen überflüssig und außerdem sehr fehleranfällig“. Zum Beweis präsentierte er positive Testergebnisse von Ziegen, Affen, Löwen, Mangos und Motoröl.

Die internationale Reaktion war Kopfschütteln. Wie konnte der Präsident eines noch dazu so vom Rassismus benachteiligten Landes so etwas behaupten? Er musste spinnen. Zugleich nahm man seine Testergebnisse als Beweis, dass auch Tiere und Früchte Rassismus übertragen konnten. Als der Präsident des afrikanischen Landes wenig später unter ungeklärten Umständen starb, da war jedem klar: Er, der die Pandemie des Rassismus geleugnet hatte, war am Rassismus gestorben. Genauere Untersuchungen dazu, die auf einen Herzinfarkt hinwiesen, wurden international ignoriert.

„Die Lage ist ernst“, verkündete der Präsident des kleinen, europäischen Landes derweil daheim, „bitte nehmen Sie sie ernst. Die Situation ist noch immer kritisch. Die Gefängnisse stehen kurz vor der Belastungsgrenze.“ Zum Beweis präsentierten die Medien der Bevölkerung Bilder von überquellenden Gefängniszellen. Der Schock über diese schrecklichen Zustände erschütterte die Bevölkerung des Landes sehr. Wie hatte es dazu kommen können? Nun mussten die Regierungen doch noch viel mehr tun! Zarte Verweise darauf, dass die Bilder inszeniert worden waren, wurden mitsamt aller Beweise und Zeugenaussagen weggefegt. „Rassisten“, hieß es allenthalben.

Weite Teile der Bevölkerung akzeptierten die drastischen Maßnahmen der Regierungen aller Länder. Nur eine Minderheit protestierte laut gegen den Freiheitsentzug. Sie gingen weiterhin auf die Straßen, behaupteten, die Maßnahmen verstießen gegen geltendes Recht und erschütterten die Grundlage des Rechtsstaates. Daraufhin wurden Demonstrationen verboten und mit großem Polizeiaufgebot niedergeschlagen, wie es sich für einen demokratischen Rechtsstaat gehört. Dass an diesen Demonstrationen auch Schwarze teilnahmen, ignorierten Medien wie Politik vollkommen, sprachen von „einer kleinen, rassistischen Minderheit“ und forderten härteres Vorgehen. Weite Teile der Bevölkerung stimmten zu.

Die endgültige Lösung

Die Lage spitzte sich so zu, dass der Präsident nach wenigen Wochen erklären musste: „ Die Feinde der Freiheit zwingen uns dazu, die Maßnahmen zu verlängern. Wenn weiterhin Leugner und Rassisten herumlaufen und sich den Maßnahmen widersetzen, ist es unmöglich, die Infektionsketten zu unterbrechen. Wir sehen nur einen Ausweg aus der Pandemie des Rassismus, und das ist die Pigmentisierung.“ Diese Lösung war international viel diskutiert und beschlossen worden. Viele Milliarden wurden bereitgestellt, um einigen Konzernen die Entwicklung eines Pigmentisierungsmittels zu ermöglichen.

Dabei fokussierte man sich auf einen Stoff, der die menschliche DNA so veränderte, dass die Hautfarbe hellhäutiger Menschen nach und nach dunkler wurde. „Ich bin optimistisch, dass dieses Mittel Ende des Jahres zur Verfügung stehen wird“, verkündete der Präsident des Landes im späten Frühling. „Bis dahin müssen die Maßnahmen aufrechterhalten, dürfen nie hinterfragt werden.“ Zugleich kündigte er an: „Wir werden einen Nachweis für die durchgeführte Pigmentisierung einführen. Dieser wird in Form eines digitalen Zertifikates dem Inhaber die Freiheiten und Grundrechte zurückgeben.“

Es gab einige Einwände, dass ein solches Mittel nicht erprobt war und auch in so kurzer Zeit nicht erprobt werden könne. Zudem stellte sich die Frage, wie sinnvoll es tatsächlich war, die Menschen zu pigmentisieren. Konnte man die Hautfarbe eines Menschen dauerhaft ändern? Wäre ein solcher Eingriff in die DNA nicht mit schwerwiegenden ethischen Bedenken verbunden? Und wie sieht es mit unerwünschten Wirkungen dieses Genexperiments aus? Auch diese wichtige Frage wurde gestellt. Empörung rief vor allem die Äußerung hervor, individuelle Freiheiten an den Nachweis zu koppeln. Dies verstoße gegen das herrschende Recht, gegen die Verfassung des Staates und könne daher unmöglich umgesetzt werden. Doch da diese Bedenken nur von den „Leugnern“ vorgetragen wurden, nahm niemand sie ernst. Immerhin handelte es sich um „Hetze“ der altbekannten Demokratiefeinde. Man erwog, dieses Verhalten unter Strafe zu stellen.

Der Sommer kam, und die Regierung erlaubte geringfügige Lockerungen. Die Gastronomie durfte öffnen, unter der Bedingung, dass sie zwischenmenschlichen Kontakt unterband. Kulturveranstaltungen durften stattfinden, wenn die Besucher weit genug voneinander entfernt waren. Auch war es wieder erlaubt, sich mit mehreren Personen zu treffen. Wahrgenommen wurde all das von den wenigsten. Denn allen war inzwischen klar: Überall konnten sie sich mit rassistischem Gedankengut infizieren. Jeder war ein potenzieller Rassist!

Es zeigte sich, dass mit Beginn des Herbstes die Rassismusfälle wieder zunahmen. Böse Zungen behaupteten, das habe damit zu tun, dass – im Unterschied zum Sommer – mehr Tests durchgeführt wurden. Bei einem so fehlerhaften Test stieg dadurch natürlich die Zahl der positiven Ergebnisse. Wie nicht anders zu erwarten, waren es hauptsächlich „Rassisten“, die meinten, ein positives Ergebnis ließe keine Rückschlüsse auf die Gesinnung zu. So wurde für den November ein „Lockdown light“ angekündigt. Vier kurze Wochen, um die Anzahl der Fälle zu reduzieren, „damit wir alle ein rassismusfreies Weihnachten feiern können“.

Die vier kurzen Wochen dauerten dann allerdings fünf lange Monate. Erneut wurden zudem härtere Maßnahmen ergriffen, um die Pandemie einzudämmen. So wurde der Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen, Geschäften und Verkehrsmitteln an die Bedingung eines negativen Rassismustests geknüpft. Währenddessen wurde in der ersten Januarwoche des Folgejahres die Fertigstellung der Pigmentisierung verkündet. Nun konnte sich jeder pigmentisieren lassen. Die Freiheit war in greifbare Nähe gerückt.

Doch da die Mittel global verteilt wurden, war eine Priorisierung der besonders Gefährdeten erforderlich.

Zunächst wurden „alte weiße Männer“ pigmentisiert, die das Angebot auch dankbar annahmen. „Für die Gesellschaft tue ich das gern“, erklärten viele der interviewten Erstpigmentisierten ebenso wie: „Ich warte schon so lange auf meine Freiheit.“

Einige stellten ihre Dankbarkeit auf angemessene Weise dadurch zur Schau, dass sie ihre Pigmentisierungspflaster einrahmten und an die Wand hängten. „Damit wir unseren Enkeln einst von unserer Heldentat berichten können“, lautete eine häufige Erklärung.

Die Präsidenten vieler Länder verkündeten, der einzige Weg aus dieser Pandemie des Rassismus sei die Pigmentisierung. Erst wenn alle Menschen schwarz seien, gäbe es keinen Rassismus mehr. Dann wäre die Krise überwunden und das Leben könne ganz normal weitergehen. Bis dahin jedoch müssten alle die strikten Maßnahmen einhalten. Jede Kritik wies die Regierung strikt von sich. Zwar sei die Entwicklung der Pigmentisierung in einem sehr kurzen Zeitraum erfolgt, aber man habe ja dafür sehr viel Geld in die Forschung investiert. Das sei, so der Präsident des kleinen Landes, „faktisch ebenso gut“. Dass es keine Langzeitstudien zu Nebenwirkungen und Langzeitfolgen gegeben habe, sei zwar auch richtig, aber es gebe „nichts zu befürchten“. Denn er habe „hohes Vertrauen in die Konzerne, die diese Pigmentisierung entwickelt haben“.

Rassismusleugner verwiesen auf die hohe Summe, die der Präsident von eben diesen Konzernen erhalten hatte, um solch eine Aussage zu tätigen. Doch natürlich schenkte niemand solchen Verschwörungstheorien Beachtung. Denn wo sollte hier der Zusammenhang sein? Der Präsident war doch für die Menschen da. Wenn er nebenbei ein bisschen Geld von Konzernen bekam, so war das doch schön für ihn. Er verdient ja auch so wenig, in seinem Amt.

Der Sozialminister des kleinen europäischen Landes beschwichtigte zugleich wachsende Bedenken, dass eine Ungleichbehandlung von Pigmentisierten und Unpigmentisierten ausgeschlossen sei. Auch Gerüchte von einer Pigmentisierungspflicht verwies er ins Reich der Verschwörungstheorien. „In diesem Land wird niemand zu einer Pigmentisierung gezwungen.“ Gleichzeitig müsse aber klar sein, dass die Pigmentisierung eine moralische, gesellschaftliche Pflicht sei. Jeder, der sich ihr verweigere, verhalte sich unsolidarisch mit der schwarzen Bevölkerung, sei ein potenzieller Rassist. Eine Initiative von mehreren hundert schwarzen Menschen, die dieser Aussage scharf widersprach, fand in der Öffentlichkeit keine Erwähnung.

Gleichzeitig notierten die führenden Konzerne, welche die Pigmentisierung entwickelt hatten, hohe Gewinne. Die Aktienkurse legten einen steilen Anstieg hin und an den Börsen brach ein regelrechter Rausch aus.

Die Heilung

Der Frühling kam, und wie schon im Jahr zuvor nahmen die Fälle von Rassismus ab. Dieses Jahr jedoch wurde betont, daran zeige sich, wie gut die Pigmentisierung wirke. Andere Länder hatten mit der Pigmentisierung bereits früher begonnen. Dort wären jedoch, wie die üblichen Leugner und Verschwörungstheoretiker schwurbelten, die Zahl der Rassismusfälle nach kurzer Zeit rasant in die Höhe geschnellt. Doch natürlich kämen solche Informationen aus dem Lager der Leugner und wurden daher von Regierenden und Medien auch ganz offen als Desinformation bezeichnet.

Stiegen die Pigmentisierungsraten anfangs schnell an, so begannen sie nach geraumer Weile zu stagnieren. Nicht jeder wollte seine Hautfarbe ändern lassen. Dies jedoch nur, so der Präsident des kleinen Landes, weil die Menschen noch „Sorgen“ und „Ängste“ hätten. Die „Bedenken bezüglich der Sicherheit“ der Pigmentisierung ließen die Menschen zögern. Man müsse ihnen diese Sorgen und Ängste nehmen, gleichzeitig aber klarstellen, dass Nichtpigmentisierte langfristig mit Einschränkungen rechnen müssten. „Es sind nur zwei kleine Pikse. Nehmen Sie dieses geringe Opfer auf sich. Gerade Menschen, die im Strafvollzug arbeiten, sind potenzielle Überträger des Rassismus. Sie sind daher in besonderem Maße aufgefordert, sich pigmentisieren zu lassen. Wer das nicht tut, dem können wir seine Anstellung in dem Bereich nicht garantieren.“ Zugleich betonte er den freiwilligen Charakter der Pigmentisierung.

Trotz zahlreicher Verbote gingen weiterhin Rassisten und Rassismusleugner auf die Straßen, um gegen einen Pigmentisierungszwang zu protestieren. Dem stellten sich tapfere Antirassisten mit Slogans wie „Rassistische Hetze raus aus diesem Land“ oder „Weiß muss sterben“ mutig entgegen. Die Medien verkündeten lautstark, wie auf diesen Demonstrationen Rassismus verbreitet wurde. Mittlerweile stellte sich auch heraus, dass die Gefängnisse nie von Überlastung bedroht waren, dass der Rassismustest keine zureichende Differenzierung treffen könne, sondern viele falsch-positive Ergebnisse erbrächte. Damit sei aber auch eine erhöhte Zahl von Rassismusfällen nicht gegeben.

Hatten die Gerichte lange gezögert, sich mit den Verordnungen und Maßnahmen der Regierungen auseinanderzusetzen, so ergingen nun erste Urteile, die beiden eine Rechts- und Verfassungswidrigkeit attestierten. Über all dies wurde jedoch nur spärlich berichtet, mit der Begründung, diese Fakten seien „Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker und Rassisten.“

Gleichzeitig häuften sich plötzliche und unerwartete Todesfälle. Menschen, die in einem Augenblick noch gesund gewesen waren, wie zum Beispiel Spitzensportler, fielen auf einmal tot um. Auch chronische Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen nahmen in der Bevölkerung zu. Das Leben vieler Betroffener änderte sich dramatisch. Sie wurden dauerhaft krank, mussten mit Behinderungen leben und schwere Einschränkungen in ihrer Lebensführung hinnehmen. Auffällig war dabei, dass all dies nur Menschen betraf, die pigmentisiert worden waren. Einen Zusammenhang zur Pigmentisierung wiesen Präsident und Sozialminister jedoch strikt von sich. „Es gibt keinen Nachweis dafür, dass die Pigmentisierung Ursache dieser Todesfälle ist. Dies muss eingehend untersucht werden.“ Untersuchungen leitete die Regierung indes nicht in die Wege.

Andere Länder veröffentlichten nach und nach Studien, die der Sozialminister als „interessant“ kommentierte, ohne auf deren Inhalt einzugehen. Ihnen zufolge griff die Pigmentisierung vielfach in die natürlichen Abläufe des menschlichen Körpers ein, führte zu Nervenschäden, Blutgerinnung, Organversagen und sogar zum Tod. Zugleich sei nicht auszuschließen, dass sich all diese Schäden bei den meisten Pigmentisierten erst in Jahren bemerkbar machten. Trotzdem verkündeten alle Regierungen weiterhin: „Die Pigmentisierung ist sicher. Sie ist der einzige Weg aus dieser Krise.“

Mancher Beobachter fragte unterdessen, welche Krise hier eigentlich gemeint sei. Doch da es sich bei solcherlei Kommentatoren um rassistische Verschwörungsschwurbler handelte, wurden sie medial niedergebrüllt, von selbsternannten Antirassisten bedroht, aus ihren Berufen entfernt und von Polizeibehörden verfolgt und drangsaliert, ganz so, wie es sich für eine Demokratie gehört.

„Von solchen antidemokratischen Rassisten lasse ich mir meine schöne Demokratie nicht kaputt machen“, soll der Präsident auf einer privaten Feier mit mehreren Dutzend Menschen gesagt haben, zu der auch hochrangige Richter und Polizeibeamte eingeladen waren. Er wies an, „solche schädlichen Subjekte“ mit der vollen Härte der Gewalt zu bestrafen.

So wurden in der Folgezeit aus fadenscheinigen Gründen Ermittlungen gegen besonders prominente Rassismusleugner aufgenommen, während alle weiteren Verfahren, die sich gegen die Regierungspolitik richteten, auf Anordnung des Justizministers eingestellt wurden.

Da die Anzahl der Pigmentisierungen nach wie vor stagnierte, wurden die Maßnahmen auch über den Sommer hinaus verlängert. Jeder, der nicht pigmentisiert war, wurde aus öffentlichen Einrichtungen, Gastronomie, Kulturveranstaltungen, ja sogar dem Arbeitsplatz und dem Einzelhandel verbannt. „Nehmen Sie diese freiwillige Pigmentisierung wahr, dann können Sie in die Gesellschaft zurückkehren. Anderenfalls sind Sie ein Rassist“, erklärte der Präsident. Manchen gingen diese Maßnahmen nicht weit genug. „Wir leben in einer Tyrannei der Unpigmentisierten“, erklärte beispielsweise der Vorsitzende des Weltantirassistenverbandes. „Nur weil eine kleine, rassistische Minderheit sich an ihre weiße Hautfarbe klammert, müssen wir weiterhin diese Maßnahmen erdulden.“ Er forderte eine Zwangspigmentisierung aller Menschen. „Nur wenn Weiße ausgerottet sind, ist der Rassismus besiegt.“

Auffrischung

Zugleich stiegen die Rassismusfälle im Herbst wieder an. Obwohl ein großer Teil der Menschen die Pigmentisierung bereits durchgeführt hatte, stieg die Anzahl positiver Rassimustests. Auch auf den Straßen sah man immer mehr Menschen, deren Hautfarbe wieder verblasste, nicht wenige davon waren seltsam gefleckt. Ihre Haut schuppte sich und war vielfach von Ekzemen, Pickeln und Ausschlägen bedeckt. Schnell wurde vor einem „erneuten“ drohenden Überlaufen der Gefängnisse gewarnt. Der Vorsitzende des führenden Pigmentisierungsmittelherstellers verkündete: „Die Wirksamkeit der Pigmentisierung beträgt nicht hundert Prozent. Daher werden regelmäßige Auffrischungspigmentisierungen notwendig sein.“ Nach dieser Ansage stieg der Börsenkurs des Unternehmens ins Unermessliche, und der Vorsitzende erhöhte sein Monatsgehalt auf 2 Milliarden.

Nur wenig später kündigte die Regierung die Notwendigkeit einer Auffrischungspigmentisierung an.

„Auch die Unpigmentisierten sollten sich nun pigmentisieren lassen“, erklärte der Sozialminister. „Ansonsten wird der kommende Winter für sie sehr ungemütlich. Wir wollen natürlich niemanden in seine Wohnung sperren, aber die Unpigmentisierten zwingen uns dazu.“ Gleichzeitig betonte er weiterhin die Freiwilligkeit der Pigmentisierung. Eine Neuerung ergab sich dadurch allerdings nicht. Denn schon seit Längerem musste man ein digitales Pigmentisierungszertifikat vorweisen, um vielerlei Läden, die Gastronomie, Hotels, Krankenhäuser und Pflegeheime betreten zu dürfen. Auch öffentliche Verkehrsmittel durften ohne nicht mehr benutzt werden. „Dieses Zertifikat wird dazu beitragen, diese Pandemie des Rassismus einzudämmen. Es bringt uns unsere Freiheit zurück“, hatte der Sozialminister bei seiner Einführung gesagt.

Nichtsdestotrotz stieg die Zahl der positiven Tests beständig weiter an. Daraufhin verordnete die Regierung, dass nun auch Schwarze sich pigmentisieren lassen sollten. „Schwarz zu sein bietet einen gewissen Schutz vor Rassismus“, erklärte der Sozialminister, „aber vollständiger Schutz ist nur durch eine Pigmentisierung gegeben. Zusammen mit der schwarzen Hautfarbe bietet es den super-duper-mega Schutz.“ Die Frage, ob es sich dabei um die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung handelte, beantwortete er nicht. Trotz der Umsetzung auch dieser Maßnahme stiegen die Zahlen positiver Tests weiter rasant in die Höhe, böse Zungen raunten sogar, gerade diese Maßnahmen würden zu mehr positiven Tests führen.

So kam es, dass in den Herbstmonaten desselben Jahres die Regierung eine Pigmentisierungspflicht am Arbeitsplatz beschloss. „Die Pigmentisierung bleibt weiter freiwillig“, erklärte der Präsident, „nur wer sie nicht vornimmt, darf dann eben nicht erwarten, arbeiten und damit essen zu dürfen.“ Die Umsetzung dieser Maßnahme zwang viele Branchen nun endgültig in die Knie, nachdem sie zuvor schon lange gelitten hatten. Es kam zu massenhaften Ausfällen in allen Sektoren, da die Unpigmentisierten lieber ihre Arbeit aufgaben, anstatt eine Änderung ihrer Hautfarbe vornehmen zu lassen. Für das daraus entstehende Chaos machte die Regierung die Unpigmentisierten verantwortlich. „Ihr habt unserem Land das angetan“, sagte der Präsident in einer Rede auf einem Galadinner mit den Vorsitzenden der Konzerne, die das Pigmentisierungsmittel erfunden hatten. „Nun seid ihr selbst schuld, wenn ihr hungern müsst.“

Zugleich kamen selbst in den öffentlichen Medien die ersten zaghaften Fragen auf, warum die Regierung eigentlich Maßnahmen weitgehend am Parlament vorbei beschließen könnte? Das habe ja mit Demokratie nicht so richtig etwas zu tun. Solche Einwände wurden schnell als „Schwurbelei“ abgetan. „Jeder, der solche Behauptungen tätigt, ist ein Rassist“, kommentierte der Sozialminister, „wir sind eine lupenreine Demokratie, jeder, der etwas anderes behauptet gehört ins Lager.“ Durch den Zusammenbruch vieler Branchen spitzte sich die Versorgungskrise zu. Supermärkte wurden nicht mehr beliefert, die Industrie verzeichnete erhebliche Einbußen, Armut breitete sich in dem eigentlich sehr reichen Land aus. „Da seht ihr, was die Unpigmentisierten angerichtet haben“, schrie der Präsident geradezu in jedes Mikrofon, das man ihm vor die Nase hielt. „Sie haben unser schönes Land zerstört.“

Er kündigte an, weitgehende Maßnahmen gegen diese „Schädlinge und Sozialschmarotzer“ zu ergreifen. Nur einen Tag später verkündete er, man werde die Gesellschaft nun vor den Unpigmentisierten schützen und diese in spezielle Lagern unterbringen.

„Hier können sie der Gesellschaft keinen Schaden mehr zufügen.“ Die pigmentisierte Masse jubelte ihm zu. Es kam zu großen Märschen der Pigmentisierten, in denen sie die Unpigmentisierten aus ihren Wohnungen zerrten und selbst zu diesen Lagern brachten. Es dauerte nur wenige Tage, bis alle Unpigmentisierten aus den Städten verbannt und in die Lager gesperrt worden waren. Laut Umfragen lag die Zustimmung zur Regierungspolitik zu diesem Zeitpunkt bei 99 Prozent.

Seit dem Anfang dieser Geschichte sind nun einige Jahre vergangen. Die Bevölkerung des kleinen Landes ist zu einhundert Prozent pigmentisiert. Gerade hat der Präsident eine weitere Schließung der Gesellschaft angekündigt, die siebzehnte seit Beginn dieser Krise. Wie schon die letzten zwölf Male darf für 3 Monate niemand seine Wohnung verlassen. In den Straßen patrouillieren Soldaten, um die Einhaltung aller Maßnahmen zu kontrollieren. Bei einer Mehrheit der Bevölkerung stößt all das auf breite Zustimmung. Nur eine Minderheit stellt sich langsam die Fragen: Hatten die Verschwörungstheoretiker nicht doch recht? War diese Pandemie nicht doch erfunden worden?

Hunger und Not haben sich in diesem kleinen Land ausgebreitet, während das Militär die Bürger alle drei Monate zu einer Auffrischungspigmentisierung zwingt. Die Rate der jährlichen Todesfälle ist seit Beginn der Pigmentisierung in nie gekannte Höhen geschnellt. Die Nachbarländer schauen mit Verwunderung auf das kleine europäische Land, viele lachen über die Einfalt der Bevölkerung. Hatten sie am Anfang noch vieles von dem ernst genommen und teilweise selbst umgesetzt, so waren den Präsidenten und Premierministern doch nach einiger Zeit Bedenken gekommen. Zugegeben, einige dieser Bedenken kamen erst auf, als die Menschen mit Fackeln und Mistgabeln in ihren Büros standen oder sie selbst sich in einer kalten, nassen Gefängniszelle wiederfanden, aber dann wurden die Maßnahmen doch aufgehoben.

Viele Länder arbeiteten den Hergang dieses Geschehens intensiv auf und stellten fest: Eine Pandemie des Rassismus hatte es in dieser Form nie gegeben. Vielmehr waren die Menschen einer kollektiven Massenpsychose erlegen, die eine eigenwillige Dynamik entwickelt hatte. Das bedeutete natürlich nicht, dass es keinen Rassismus gab, aber den hatte es wohl vorher auch immer schon gegeben. Man kam zu dem Schluss, dass man diesem Phänomen mit anderen, gezielteren Ansätzen begegnen musste. So wurden Begegnungstreffen organisiert, Nachbarschaften mehr durchmischt und endlich viel dafür getan, dass Schwarze und Weiße gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen konnten.

Nur das kleine europäische Land befindet sich noch immer in einem flächendeckenden Kampf gegen ein Phantom, das es in dieser Form nicht gibt. Was mit den Unpigmentisierten in den Lagern geschehen ist, darüber hüllt sich die Regierung in Schweigen. Einige Vertreter sagen, sie lebten dort ein freies und glückliches Leben, während andere leugnen, dass es diese Lager je gegeben habe. Die militärisch abgesperrten Gebiete, in denen sie wahrscheinlich liegen, darf niemand betreten.

Die Geschichte des kleinen europäischen Landes ist also in erster Linie eine Geschichte darüber, wie gezielte Angst eine Gesellschaft in Geiselhaft nimmt und eine kollektive Psychose auslöst, in der die Menschen sich ihrer Regierung vollkommen unterwerfen. Sie lehrt uns, Narrative stets zu hinterfragen und Propaganda zu durchschauen. Hoffen wir, dass die Lektion diesmal bei den Menschen angekommen ist.


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