Der Ukrainekrieg hat in Deutschland von Anfang an klare Fronten geschaffen darüber, wer wie einzuordnen ist: Von Beginn an wurde das klargemacht. Auch indem man die Vorgeschichte tilgte. Russland bekommt in diesem Krieg die Rolle als absoluter Bösewicht und Aggressor zugeteilt. Die Ukrainer wurden überrannt — ohne irgendetwas verbrochen zu haben. Hier die Täter, dort die Opfer. Ein klares Schema, nach dem die offizielle Berichterstattung seither Sprache und Denken in Deutschland ausrichtete.
Der Krieg im Gazastreifen hat sich anders ausgewirkt auf die deutsche Öffentlichkeit. Auch wenn es in dem, was man heute so Debatte nennt, eine Begünstigung israelischer Positionen gibt, so werden die Palästinenser nicht vollumfänglich als Tätervolk eingestuft wie „der böse Russe“. Die Diskussionen werden medial durchaus offener geführt, sehr zum Leidwesen von Politik und Interessenverbänden. Selbst die woke Gemeinde, die vorher noch klar Stellung für die Ukraine bezog, ist in Sachen Nahost weitaus gespaltener. Denn dem Krieg in Gaza fehlt eine klare Opferhierarchie.
Beide sind Opfer …
Ohne eine solche Hierarchisierung fällt es nicht nur den woken Schreihälsen schwer, klar Partei zu ergreifen. Es liegt auch für weniger ideologische Beobachter auf der Hand, dass in Israel klare Zuweisungen des Ursprungsvergehens schwer ausfindig zu machen sind. Wer warf den ersten Stein?
Wem kann man die erste Opferrolle zuweisen? Ja, wer ist das Uropfer dieses Konfliktes? Für die Jünger der Wokeness ist das aber eine grundlegend wichtige Frage, denn ihr Konzept ist es, Opfer ausfindig zu machen und sie mit ihrer Solidarität „zu bereichern“. Gleich dazu mehr.
Wo also anfangen? Die Palästinenser beklagen sich seit Langem, dass sie eingepfercht, aus ihren angestammten Gebieten vertrieben werden. Dort, wo sie noch bleiben dürfen, leben sie eingeengt und in Armut. Selbst die Vereinten Nationen bestätigen diese Klagen. Die Israelis hingegen sagen, sie benötigen Abschottung und teilweise sogar hohe Mauern, weil sie Terrorerfahrungen in großem Umfang gemacht hätten. Das kann niemand ernsthaft leugnen, denn terroristische Anschläge sind Teil der israelischen Lebenswirklichkeit — und das seit vielen Jahrzehnten.
Palästinenser wären in diesem Staat Menschen zweiter, vielleicht sogar dritter Klasse, heißt es immer wieder. Und ja, dieses Israel definiert sich seit Anbeginn als „Judenstaat“, was die ursprüngliche Staatsidee schon mal zu einem Auftrag mit Sendungsbewusstsein ausstattete und Millionen von Menschen, die dort angesiedelt waren, grundsätzlich ausschloss. Womit die nächste Klage schon angesprochen ist: Es sei ihr Land gewesen, die Israelis kamen als Besatzer. Die Israelis erwidern, sie seien nach den bitteren Erfahrungen mit der Vernichtung des jüdischen Volkes in Deutschland und Europa dort angesiedelt worden. Ihr Grund: Ihnen gehörte das Land schon vorher.
Welcher Position will man da die Kraft verleihen, über denen der Gegenseite zu stehen? Beide Seiten viktimisieren sich, ihre Narrative sind voller Opfer. Natürlich sind beide auch reale Opfer, gerade aktuell ganz besonders. In Gaza sind in den letzten Wochen weit über 20.000 Menschen gestorben. Vorher starben Israelis durch die Hamas, schätzungweise 1.200. Die zu Tode Gekommenen und deren Angehörige: Das sind wirkliche Opfer. Aber darüber hinaus gibt es einen Opfermythos, der sich in die Denkweise beider Völker eingeschlichen hat — und den man von den realen Opfern der Gewalt unterscheiden sollte.
… und Täter
Völker haben Narrative. Laut israelischem Narrativ sind sie das Opfer — und zwar seit Anbeginn der Staatsgründung. Der frühere Knesset-Sprecher Avraham Burg machte schon vor vielen Jahren in seinem Buch „Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“ darauf aufmerksam. Seine Theorie: Der Gründungsmythos der israelischen Staatsdoktrin war der Holocaust — dieses brutale Opfer hat bewirkt, dass sich Israel stets in Dauernotwehr befand. Das Land sei daher nie verhandlungsfähig gewesen und habe sich in einen Fundamentalismus begeben. Der Umgang mit den Palästinensern lässt sich mit Burgs These durchaus nachvollziehbar erklären.
Gleichwohl bekamen es die Israelis mit Feinden ringsherum zu tun. Sie befanden sich von Beginn des Staates Israel an in Umzingelung und dauerndem Kriegszustand. Später verlagerten sich die Palästinenser auf den Terrorismus. Sie töten Tausende von Zivilisten. Sie rechtfertigen es mit Notwehr, so wie die Israelis ihre Staatsdoktrin als Notwehr auslegen.
Diese fortwährende Notwehr gleicht dem Krieg. Und der hat bekanntlich eine dramatische Logik: Er neigt zur Eskalation. Bis hin zum absoluten Verlust des Anstandes und der Würde.
Wer sich ziert, läuft Gefahr vernichtet zu werden. Der verliert am Ende vielleicht sogar Haus, Hof und Kinder. Und noch sein eigenes Leben. Es heißt daher, dieser Entwicklung zuvorkommen zu müssen. Die Kriegslogik ist demnach also: Brutalität anwenden — am besten als erster. Sie besagt im Grunde: Du bist Opfer der Umstände, bevor du dich noch mehr opferst, werde tätig — ja, werde Täter. Und diese Logik hat die Kraft, die Untaten nicht zu verurteilen, sondern als Notwehr einzustufen. Ein Opfer, das zum Täter wird, ist demnach noch immer Opfer.
Kurz und gut: Beide Seiten, Israelis wie Palästinenser, begreifen sich als Opfer. Mit einiger Berechtigung. Aber auch mit einiger Übertreibung — und ja, mit einer gewissen Lust an der Viktimisierung. Nochmal: Natürlich werden wirkliche Opfer erbracht. Da die Palästinenser ein armes Volk sind, könnte es zynisch wirken, in diesem Zusammenhang von Viktimisierung zu sprechen. Gemeint ist hier aber die Narrativebene beider Völker, die Erzählung ihres Standes in der Welt. Diese Haltung erzeugt ein Problem: Wo nur Opfer sind, gibt es keine Perspektiven für eine Änderung des momentanen Status‘.
Opfer zu sein lähmt
Der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli legte 2015 eine Schrift vor, die sich genau mit dieser Form der Haltung auseinandersetzte. Titel des Werkes: „Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt“. Seine These: Es ist eine heute häufig befriedigte Lust, sich als Opfer zu sehen — und zwar nur als Opfer. Als solches bewegt man sich durch eine Welt, die feindlich gesonnen ist und die einem nach Leben und Glück trachtet. Wer so handle, der habe nicht die Zukunft im Blick, kritisiert Giglioli. Die Viktimisierung sei quasi ein Spiel mit der Ohnmacht — das Handeln wird dabei unterlassen, man degradiert sich zum Spielball äußerer Umstände.
Was der Autor da bereits 2015 ansprach, würden wir knapp ein Jahrzehnt später, als Wokeness bezeichnen. Als Ideologie aus den Haltungsschmieden der Vereinigten Staaten: Aus deren akademischem Betrieb nämlich. An amerikanischen Universitäten nahm diese Vorgehensweise einiger radikaler Gemüter seinen Lauf — rund um die Welt, könnte man sagen. Für die Jünger der Lehre gibt es klare Opferhierarchien. Und nach denen organisiert man Bevormundung und Maulkörbe für Andersdenkende.
In Sachen Nahostkonflikt gibt es diese klare Opferhierarchie nicht, deshalb gelingt keine klare Positionierung in der Öffentlichkeit. Man weiß nicht, wer wirklich das erste Opfer in dieser Auseinandersetzung war. Und das verwirrt die mittlerweile stramm woke „Veröffentlichkeit“ — also die Öffentlichkeit, die überhaupt noch medial hergestellt wird — ungemein.
Im Ukrainekrieg war die Lage aus deren Sicht klar. In Nahost zeigt sich die Komplexität der Realität. Dass selbst die Woken nun nicht wissen, wem sie die Daumen drücken sollen, wo sie sonst immer gerne parteiisch sind, sagt viel über die Mentalität in Nahost aus.
Der Landstrich ist in die Opferfalle gegangen. Und das befördert eine gewisse Passivität. Das heißt nicht, dass es nicht hier und da Bemühungen gibt, dass nicht dann und wann Bürger aufeinander zugehen, die ein Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern verwirklichen wollen. Aber das gesellschaftliche Klima ist so in der eigenen Viktimisierung verfangen, dass ein Friedensprozess fast unmöglich wird. Die eigene Opfermentalität abzustreifen, ist freilich ein schwieriger Schritt. Er ist jedoch unumgänglich, denn nur er lässt zu, dass man sich nicht als an den Ereignissen unverantwortlich betrachtet, sondern als Verantwortlicher sieht — und damit als Herr der Geschicke.
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