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Die Natur in uns

Die Natur in uns

Natürliche Phänomene sind ein Spiegel unserer Seelenbefindlichkeit und können in der Traumatherapie eingesetzt werden — letztlich deshalb, weil wir Teil dieser Natur sind.

Aus dem Orkus handgeschöpfter Angstmacherei wird als bedrohlicher Unterton zum Takt der Kriegstrommeln der letzten Jahre seit einiger Zeit eine neue Sau durch die Seele getrieben: Die Natur übt vernichtende Rache an uns! Wir sind dem Untergang geweiht! Natürlich muss das mal gesagt werden und geschrieben und ausgestrahlt. Und man kann sie nicht drastisch genug zum Ausdruck bringen, die „Apocalypse Now“, die Vorboten einer wahlweise verbrennenden oder erstarrenden, überfluteten oder vertrocknenden Welt, multimedial übersteigert, damit die unfrohe Botschaft auch die letzten inneren Schutzräume erreicht. Aus dem Potpourri — oder Pott Püree, respektive Einheitsbrei – des alltäglichen Nachrichten-Dienstes:

  • „Extreme Kälte am Alpenrand“, so Weather.com am 30. November 2023, in Realität war es -1 Grad Celsius,
  • „Die Erde verbrennt“, so UN-Generalsekretär António Guterres am 1. Dezember 2023,
  • „Äußerste Lawinengefahr“ berichtete ein Reporter der BR Abendschau live aus Murnau am 1. Dezember 2023, es herrschte Gefahrenstufe 4 also groß, „äußerst“ gibt es nicht,
  • „Gefangen in Schnee und Eis“, schrieb der Münchner Merkur am 2. Dezember 2023 zum Ausharren von Fahrgästen in S-Bahn und Intercity,
  • „Schnee begräbt Teile Süddeutschlands unter sich“, laut ZDF heute am 2. Dezember 2023,
  • „Der radikale Winteranfang“, laut BR Abendschau am 2. Dezember 2023,
  • „Heftiger Orkan trifft bald Norwegen: Bomben-Zyklon entsteht“, so Wetter online am 30. Januar 2024.

Verbrennen, gefangen, begraben, Radikalität, Bomben – Wer dies erlebt und überlebt hat, ist psychisch traumatisiert. Wem Angst gemacht wird, der kann innerlich nicht heilen. Bei wem sich das Kriegstrommelfell entzündet, der hört nicht den Flügelschlag der Friedenstaube. Und in Summe? Erleben wir eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft, bei deren Angehörigen viel zu viel zusammenkommt: das familiäre Erbe der Kriegsvergangenheit, die kollektive Generalschuld an Allen und Allem und als Topping nun also die albtraumhaften Heimsuchungen der Natur. Biblische Archetypen aus Heuschreckenplage und Sintflut werden exklusiv eingenetzt in unsere postmodernen Gehirne.

Der Begriff Naturkatastrophe wirkt da fast schon altbacken, dabei ist er lediglich ein Konstrukt unserer Bewertung. Als Schadensgröße in Bezug auf das vom Menschen Erschaffene, bei Vernichtung seines Hab und Guts und seiner selbst. Ohne die Schadwirkung auf uns und unser Eigentum bagatellisieren zu wollen:

Erst als der Mensch begann, sich die Erde untertan, für seine Bedürfnisse urbar zu machen und dabei immer wieder die Rechnung ohne die Wirkkräfte der Umwelt machte, wurden aus reinen Naturereignissen Katastrophen.

Diese Wirkkräfte in ihrer Komplexität und Unberechenbarkeit jedoch eignen sich hervorragend zu vielfältiger Instrumentalisierung: zur Schuldzuweisung bei eigenem Versagen, zur Übertragung von Verantwortung und als Werkzeug der Willensbildung und Gleichschaltung der Menschen wie jüngst erfahren beim Umgang mit dem unsichtbaren Coronavirus.

Die Natur wird zum nächsten Kriegsgegner erklärt. Deren „Gewaltakte“ triggern die ohnehin in Alarmbereitschaft versetzten Traumagefühle ihrer „Opfer“. Doch ist man im Zustand einer gerade erlebten oder reaktivierten Traumaerfahrung nicht adäquat handlungsfähig, denn Traumatisierung ist ein Moment seelischer und körperlicher Erstarrung. Anstatt innerer Klarheit und einer gesunden Mischung aus Beobachten, Erkennen und Entscheiden wächst dann die allgemeine Verunsicherung, verselbstständigen sich Abwehrmechanismen, wird den medialen Verlautbarungen unreflektiert geglaubt und Folge geleistet. Wäre es bei aller üblen Nachrede aus naturidentischer Quelle nicht endlich an der Zeit, innezuhalten und sich bewusst zu machen, woher wir eigentlich kommen? Genau: Aus der Natur! Und wohin wir alle dereinst gehen? Richtig: Zurück zur Natur!

Im mehr oder minder langen Dazwischen, Menschenleben genannt, egal ob gottgeschöpft oder evolutionsbedingt, kann die Natur uns was lehren: Sie braucht uns Menschen nicht, wir sie schon.

Zum Atmen und Bewegen, Essen und Trinken. Ganz elementar also, ganz einfach. Geht man hinaus, spürt man sie unmittelbar mit allen Sinnen, traut man seinen Augen und den sich einstellenden Gefühlen, findet man sich darin wieder und schnell zurecht, dann wird die Natur zum Parabolspiegel unseres individuellen Universums.

Eine beispielhafte Schilderung und was daraus entstand.

Ich wurde als kleiner Junge durch meinen Vater schwer traumatisiert. Es geschah im winterlichen Gebirge, wir waren mit Skiern unterwegs, ich konnte mit der Kraft und Ausdauer eines ehemaligen Zehnkämpfers nicht mithalten und verlor den Anschluss. Einmal musste ich, verzweifelt nach meinem Vater rufend, ihm im dichten Nebel einen steilen Hang hinterherfahren. Der Sturm, der zusätzlich blies und meine dünne Stimme mit sich nahm, hatte bereits die Spuren meines Vaters verweht. Als ich ein weiteres Mal zurückblieb, brach ich erschöpft im Schnee zusammen und spürte schon die wohlige Wärme des nahenden Todes.

Während einer Weiterbildung nach der Traumatherapie-Methode von Franz Ruppert gelang es mir, das Erlebte aufzuarbeiten: das Zurückgelassenwerden als real anzuerkennen, mit der Todesangst des kleinen Thilo in gefühlvollen Kontakt zu kommen. Nach einer solchen Schlüssel-Arbeit wurde ich von anderen Teilnehmern gefragt, wieso ich nach diesem Martyrium noch immer in die Berge ginge. Heute weiß ich: Die Natur war damals Schauplatz meines Elends, nicht aber Richtstatt für eine Verurteilung. Sie selbst traf keine Schuld.

Eines Winters stieg in wieder einmal hinauf und machte eine Selbstbegegnung mit der Anliegenmethode nach Franz Ruppert, ganz ohne therapeutische Begleitung. Ich klärte anhand von Bodenankern mein Verhältnis zur Natur im Allgemeinen und zu den Bergen im Besonderen. Wieder spürte ich den Schrecken, zurückgelassen worden zu sein. Mir wurde klar: Damals war es nicht die Angst vor Kälte und Schnee, es war die pure Panik des Kindes vor dem Alleinsein. Im Hier und Jetzt war ich einsam, aber nicht allein. Ich war Gast in diesem Naturraum und konnte gehen, wann immer ich wollte. Diese Handlungsoption, die ich als Kind nicht hatte, empfand ich als tröstlich und wärmend.

Diese Begebenheit schrieb ich nieder, Franz Ruppert veröffentlichte sie in seinem aktuellen Buch. Sie wurde Keimzelle meiner eigenen Arbeit mit der Anliegenmethode. Seit Anfang 2023 gehe ich mit Klienten hinaus in die Natur. Zu allen Jahreszeiten und bei fast jedem Wetter. Längst hat das Schreibpapier als Bodenanker ausgedient. Die Klienten wählen Naturstoffe als Elemente, mit denen sie oder ich in Resonanz gehen. Dieses Material, die umgebende Landschaft, das vorherrschende Klima unterstreichen auf frappierende Weise das Anliegen, verdeutlichen die Zusammenhänge, fokussieren den therapeutischen Prozess. Die Natur hilft mir, die Arbeiten, die ich begleite, besser zu lesen. Ein verschneiter Stamm symbolisiert das Kinderbett, der nahe Fluss trägt das Fruchtwasser. Eine kleine Blume steht für einen früh gestorbenen Zwilling im Mutterleib, der Baum entschleunigt berufliche Wachstumszwänge.

Von einer schmelzenden Eisscholle tropft die ungestillte Sehnsucht nach Mutterliebe, der entwurzelte Stumpf verkörpert das eigene Ich auf der Suche nach Anschluss im Leben. Wird Trauer über das Nicht-gewollt-sein deutlich, geht ein Regenschauer nieder. Suchen Klienten nach Orientierung, bricht die Sonne durch die Wolken.

Beginnen sie, innerlich weich zu werden, knackt das Eis am winterlichen Ufersaum. Beenden wir einen Selbstbegegnungsprozess, verlassen die Klienten und ich den Arbeitsort oft schweigend. Das zuvor empfundene Weite und Unbegrenzte, der fehlende Schutz der gewohnten vier Wände, die Unsicherheit „Platz zu nehmen“, die gedämpfte Stimme im therapeutischen Austausch — all das wirkt nach. Die Integration des Erlebten dauert nach meiner Erfahrung länger als im geschlossenen Raum, manchmal braucht es eine spätere Zusammenfügung durch mich.

Doch weichen die traumatypischen Vorbehalte im Umgang mit dem Ungeschützten und Unberechenbaren meist der Neugierde auf einen nächsten Schritt in die Natur und zum eigenen Ich. Darauf bauend, dass beides eine Einheit bildet, die es wiederzuentdecken gilt. Dann geht es wieder hinaus zu Berg und Tal, auf Wiesen, in Wälder, zu neuen Ufern. Dann geht es zurück zur Natur.

Es berührt mich, Menschen auf diesem besonderen Weg zu begleiten und zu erleben, wie sie sich mit ihren Anliegen als Teil der Natur erleben. Wenn spürbar der Druck weicht angesichts einer Umgebung, die einfach da ist. Wenn die Wahl der Elemente hilft, den inneren Zustand der Klienten in Bezug auf ihr Anliegen zu klären, der natürliche Rahmen die Traumaintegration unterstützt und sich so ein nächster Schritt formen kann. Ich erweitere ständig mein Portfolio an Selbstbegegnungsstätten, an die ich die Menschen führen kann, die sich mir anvertrauen. Neue Wege entstehen erst dann, wenn wir sie gehen.

Übrigens: Ich gehe noch immer leidenschaftlich gern in die Berge. Nicht mehr auf Skiern, aber mit Händen und Füßen. Ich beobachte, erkenne und entscheide nach Wetterlage und vor Ort-Situation. Ist der Befund in Ordnung, gehe ich weiter. Ist es zu heikel, kehre ich um. Bei Lawinengefahr bleibe ich den Bergen fern, bei Orkan meide ich den Wald, von Virusinfektionen nehme ich Abstand. Das nenne ich Autonomie und Selbstverantwortung. Dann entspricht mein „in der Natur sein“, der Natur in mir. Die Natur kann — wie alle auf Schwarze Löcher projizierten Feindbilder — kein Gegner sein, wenn niemand mehr Krieg im Außen braucht, weil Frieden im Inneren herrscht.


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