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Heilende Verbindungen

Heilende Verbindungen

„Trauma und Beziehungen“ — das neue Buch von Verena König ist eine Ermutigung, mehr Gemeinschaft zu wagen.

Als Trauma wird in der Psychologie eine seelische Verletzung bezeichnet, die mit einer starken psychischen Erschütterung einhergeht und durch sehr unterschiedliche Erlebnisse hervorgerufen werden kann. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Wunde. Wunden haben wir alle in unserem Leben davongetragen. Wohl niemand ist von Verletzungen verschont geblieben.

Trauma zerreißt Verbundenheit. Daran, wie wir unsere Beziehungen führen und erleben, können wir erkennen, wie stark wir in der Vergangenheit verletzt worden sind. Wie sehen die Beziehungsräume aus, die wir in uns schaffen? Sind sie eng und klein, ohne Spielraum zur Entfaltung, mit überdüngten Zimmerpflanzen, die so oft beschnitten werden, dass sie nicht blühen können? Ist dieser Raum in uns groß und weitläufig wie ein Zelt, ohne Pflanzen, ohne Dinge, die zum Verweilen einladen, ohne Ecken für Gemeinsamkeit?

Wie halten wir es? Schaffen wir Räume, in denen man verweilen mag, oder Räume, die man lieber flieht oder in denen sich niemand niederlassen kann? Daran, wie sicher, wohl und lebendig wir uns in unseren Beziehungen fühlen, können wir erkennen, wie weit wir uns von eventuellen Traumafolgen befreit haben. Denn Trauma, so die Psychologin Verena König, geschieht in Beziehungen und Trauma heilt in Beziehungen. In diesem Paradoxon liegen die größte Heilkraft und die größte Herausforderung zugleich.

Nervenkostüm

Verena Königs Heilansatz basiert auf dem Erkennen der Bedeutung unseres Nervensystems. Sie konzentriert sich auf das sogenannte autonome Nervensystem, verantwortlich für die Steuerung unbewusster Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung, Atmung und Überlebensreaktionen. Es ist unterteilt in das sympathische Nervensystem, zuständig für die Mobilisierung von Energie und Reaktionen wie Flucht oder Kampf, und das parasympathische Nervensystem, zuständig für die Aktivierung von Erholung, Regeneration, Ruhe und Verdauung.

Der Vagusnerv gehört zum parasympathischen System. In der sogenannten Polyvagaltheorie, auf die sie sich bezieht, wird zwischen dem dorsalen und dem ventralen Teil unterschieden. Der dorsale Teil wird aktiviert, wenn der Körper eine extreme Bedrohung wahrnimmt, die er weder durch Flucht noch durch Kampf bewältigen kann, sondern nur durch Erstarrung und Dissoziation. Wenn wir uns hingegen in Sicherheit befinden, sorgt der dorsale Vagusnerv für tiefe Regeneration, Entspannung und den Genuss von Ruhe und Passivität.

Der ventrale Vagusnerv ist verbunden mit sozialen Interaktionen und der Fähigkeit, sich sicher und entspannt zu fühlen. Die Aktivierung dieses Nervs fördert die soziale Bindung, die Kommunikation und beruhigende Prozesse. Eine der entscheidenden Erkenntnisse der Polyvagaltheorie ist es, dass wir Einfluss auf unser Nervensystem nehmen können. Unser Zustand ist demnach nicht alleine von äußeren Bedingungen abhängig. Wir können etwas dafür tun, den ventralen Vagus zu aktivieren und unser Nervensystem in Balance zu bringen, damit Sympathikus und Parasympathikus so zusammenwirken, dass wir entspannt sind und uns sicher und verbunden fühlen.

Gebundenheit schafft Sicherheit

Sichere Bindungen sind grundlegend für ein sinnvolles und zufriedenstellendes Leben. Wer sich jedoch in der Vergangenheit alleingelassen und nicht gesehen gefühlt hat, hat oft keinen Zugang hierzu. Ihm bleibt die Verdrängung, um das Gefühl auszuhalten, einsam zu sein, nicht zugehörig, wertlos.

Was wir verdrängen, das können wir nicht verarbeiten. Anstatt es zu integrieren, projizieren wir es nach außen und geben das Erlittene an andere weiter.

Hierbei schneiden wir uns nicht nur von den schmerzlichen Gefühlen ab, sondern auch von der eigenen fühlenden Natur. In dem Maße, wie die Gefühle verdrängt werden, schwinden auch Toleranz und Empathie und werden durch emotionale Kälte ersetzt.

Hier müssen wir nicht stehen bleiben. Es gibt, so Verena König, immer einen Weg zurück in die Verbundenheit! Wir können zu sicher gebundenen Menschen werden, die es gelernt haben, ihre Emotionen effektiv zu regulieren, Menschen, die sich nicht leicht von Stress oder negativen Emotionen überwältigen lassen und die Fähigkeit besitzen, mit Rückschlägen und Herausforderungen umzugehen und aus ihnen zu lernen.

Wir können zu Menschen werden, die ein stabiles Selbstbewusstsein und ein ausgeglichenes Selbstbild haben und Beziehungen nicht als bedrohlich empfinden. Menschen, die über viele Kontakte verfügen und Netzwerke pflegen, die ihnen Halt und Freude schenken. Menschen, die andere um Unterstützung und Hilfe bitten können, ohne sich dadurch abhängig zu machen, und Unterstützung geben, ohne sich aufzuopfern. Menschen, die verlässlich und einfühlsam auf die Bedürfnisse anderer reagieren, die offen für emotionale Nähe sind und ihre Gefühle authentisch und angemessen ausdrücken können.

Es sind Menschen, die die Grenzen bei sich und anderen erkennen und respektieren, die in der Lage sind, zuzuhören, sich in andere hineinzufühlen und Konflikte auf eine reife und konstruktive Weise zu bewältigen. In einer Beziehung wahren sie sowohl Unabhängigkeit als auch Nähe und können zulassen, von anderen abhängig zu sein, ohne dadurch ihre Autonomie in Gefahr zu sehen. Da sie eingebettet in ein Gefühl von Verbundenheit sind, wird Alleinsein von bindungssicheren Menschen als angenehm und ungefährlich erlebt. Es fällt ihnen leicht, verbindend und loyal zu sein, in Teams zu wirken und Schwierigkeiten sozialverträglich zu kommunizieren und zu reflektieren.

Es ist nie zu spät

Das Buch von Verena König ist viel mehr als ein Ratgeber für individuelle Beziehungen. Es ist ein Beitrag zur Erschaffung einer gesunden und friedlichen Gesellschaft. Und es macht Mut, sich auf den Weg zu machen. Denn, so Verena König, es ist nie zu spät. Der Weg, den sie vorschlägt, besteht aus vielen kleinen Schritten. Geduld, Ausdauer, kontinuierliche Selbstfürsorge — von verschiedenen Blickwinkeln aus fordert sie dazu auf, in unserem Alltag Verbundenheit zu kultivieren und uns selbst immer öfter so zu behandeln, wie wir es einst von anderen gebraucht hätten.

So erschaffen wir neue neuronale Netzwerke und schließlich eine neue Wirklichkeit, in der Raum für Geborgenheit, Lebendigkeit und sichere Beziehungen ist.

Unser Gehirn ist dazu in der Lage, ein Leben lang zu lernen und sich dadurch zu verändern. Jeden Tag und mit jeder neuen Erfahrung können sich Nervenzellen neu vernetzen.

Diese Fähigkeit unseres Gehirns zur Neuroplastizität können wir nutzen, um unseren Lebenswandel sanft zu verändern. Immer wieder können wir Heilsames kultivieren und Erfahrungen schaffen, die uns guttun.

Auf diesem Weg ist vor allem Ehrlichkeit sich selbst gegenüber gefragt. Wo empfinden wir den anderen als Gefahr? Wo ziehen wir uns zurück, werden misstrauisch, eifersüchtig, kontrollierend, dominant? Wo neigen wir zu Schuldzuweisungen auf der einen und zu Überanpassung, vorauseilendem Gehorsam, People Pleasing, mangelnder Abgrenzung oder Selbstverleugnung auf der anderen Seite? Spüren wir dem nach, was in uns wahre Nähe und authentische Beziehungen unmöglich macht und damit den Aufbau einer harmonischen Gemeinschaft.

Eine Frage der Übung

Sich dem eigenen Schmerz zu stellen, kostet Kraft. Sich bewusst machen, wie vielfältig und wirkmächtig frühere Prägungen sein können, kann uns zunächst verzagt und hoffnungslos zurücklassen. Doch die Anstrengung, so Verena König, wird belohnt! Immer wieder fordert sie dazu auf, ein Bewusstsein für die verletzten Anteile in uns zu entwickeln und sie zu identifizieren. Diese Teile in uns gilt es gewissermaßen zurückzuführen in die Familie. In der Gemeinschaft schließlich erkennen wir, dass wir sowohl Traumatisiertes als auch Heiles in uns tragen. In jedem von uns gibt es auch eine unversehrte Natur, mit der wir uns verbinden können.

Heilung beginnt in dem Moment, in dem wir uns gesehen fühlen. Zu den heilsamsten Sätzen, die wir uns selbst und anderen sagen können, gehört: „Ich sehe dich. Ich glaube dir. Du bist nicht allein.“

Wir können es üben, unseren inneren Anteilen eine sichere Bindungsperson zu sein, sie wohlwollend und respektvoll zu behandeln. Das bedeutet, dass wir bewusst Verantwortung für die Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse unserer verletzten Anteile übernehmen und uns ihnen zuzuwenden, statt sie zu übergehen, auszublenden oder zu verachten.

Wir können es üben, einander zu sehen, üben, Neues zu lernen, üben, Trigger nicht zu meiden, sondern sie zu verarbeiten. Nutzen wir die heilende Kraft der Verbindung!

„Und tatsächlich ist es nie zu spät dazu, denn jede Erfahrung, die uns ein Gefühl von Verborgenheit und Verbundenheit schenkt, ist eine Lernerfahrung, die unser Nervensystem formt, indem sie alten, tiefen Prägungen etwas hinzufügt. Neue, gute Erfahrungen bilden nach und nach ein Gegengewicht zu den alten Überzeugungen.“

Selbstwirksamkeit

Wir brauchen Begegnungen mit Menschen, Orte und Tätigkeiten, die uns Sicherheit vermitteln. Üben wir es, uns auf Beziehungen einzulassen, in denen wir korrigierende Erfahrungen machen können, üben wir es, die Diskrepanz auszuhalten zwischen der Suche nach Sicherheit im Altbekannten und dem neuen Erleben von Sicherheit im Hier und Jetzt. Seien wir dafür statt dagegen. Werden wir selbstwirksam — das Gegenteil von ohnmächtig und hilflos.

Selbstwirksamkeit ist das Erleben, durch das eigene Handeln eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Wir wissen: Verletzungen verschwinden nicht. Manche können ein Leben lang bleiben. Doch man kann sie in gewisser Weise „überschreiben“. Hierfür ist es elementar, zu verstehen, wie alte Prägungen in uns wirken. Sobald wir dann erkennen, dass die Vergangenheit sich in die Gegenwart mischt, sobald wir verstehen, was in diesem Moment in unserem Körper und Nervensystem passiert, endet das Gefühl, dem Geschehen ausgeliefert zu sein.

Zu lernen, das eigene Nervensystem zu regulieren, so Verena König, ist Basis und Krönung des Prozesses zugleich.

„Selbstregulation verfolgt nicht das Ziel, immer in Ruhe und Freude zu verweilen, sondern mit den Wellen des Lebens und der eigenen Innenwelt umgehen zu können. Es geht darum, Sicherheit im Inneren zu kultivieren. Sich selbst halten zu können, entspricht dem Gefühl der Sicherheit in sich selbst.“

Leitstern

So kann es gelingen, zu einem sicheren Menschen zu werden, einem Menschen, der weder verbale noch emotionale noch körperliche Gewalt ausübt und seine Impulse kontrollieren kann. Ein sicherer Mensch ist uneingeschränkt für die Menschen, die ihm nahestehen, und zeigt weder Feindseligkeit noch Missgunst. Er behandelt sich und andere respektvoll, verhält sich vertrauenswürdig und integer, ist ehrlich, verlässlich und empathisch und achtet auf die Würde aller, einschließlich seiner eigenen.

Ein sicherer Mensch achtet darauf, die Beziehung nicht zu bedrohen, sich in Transparenz zu üben und auf Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit zu achten. Er kümmert sich schnell um Verletzungen und Missverständnisse, arbeitet an der Beziehung und nicht am anderen, ist neugierig, statt zu urteilen, und fördert das Gute im anderen.

Er bleibt wach für den anderen und schafft mit dem Zeigen der eigenen Verletzlichkeit immer wieder neu Verbundenheit. Kurz: Er wird zu einem Leitstern in eine bessere Welt:

„Wenn es uns gelingt, unsere soziale Natur mit ihrer Verletzlichkeit und ihrer großen Kraft in den Mittelpunkt zu stellen, wird heilsame Veränderung möglich. Wertesysteme werden sich wandeln, Prioritäten verschieben, Wesentliches wird von Unwesentlichem getrennt. Unsere soziale Natur der Verbundenheit zur Grundlage unserer Bewertungen, Entscheidungen und Planungen zu machen, ruft das Beste im Menschen hervor.“



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Quellen und Anmerkungen:

(1) Verena König: Trauma und Beziehungen. Wie wir die immergleichen Beziehungsmuster hinter uns lassen, Arkana 2024

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