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Die herrischen Diener

Die herrischen Diener

Anstatt uns Menschen hilfreich zur Seite zu stehen, dominieren Smartphones mittlerweile unser aller Leben.

Mobiltelefone verändern unser Leben. Die Erkenntnis ist banal. Fast jeder kann aus eigener Erfahrung davon berichten. Praktisch alle Lebensbereiche sind von der Handyrevolution betroffen. Nichts geht mehr ohne WhatsApp-Gruppen, Chatrooms und Instagram. Ob Mann, ob Frau, ob Kind: Alle sollen wir über unsere Mobiltelefone rund um die Uhr erreichbar sein, jederzeit bereit, unsere beruflichen und sozialen Verpflichtungen zu erfüllen. Wer im virtuellen Raum nicht oder nur schwer anzutreffen ist, gilt als Sonderling.

Tatsächlich ist durch den Gebrauch von Mobiltelefonen vieles leichter geworden: Die Geräte haben sich in den letzten Jahren zu einer Art Mädchen für alles entwickelt. Auch Menschen mit kleineren Geldbörsen können darauf zurückgreifen. Moderne Handys sind Taschenrechner, Wasserwaagen und Lexika in einem. Außerdem stellen sie uns Apps mit Spezialwissen zur Verfügung, das ansonsten nur wenige Menschen ihr Eigen nennen: Ein kurzer Scan, zwei Sekunden Geduld, schon wissen wir, wie das Kraut heißt, das uns gerade am Wanderweg zum Kilimandscharo-Gipfel ins Auge gestochen ist. Im Lichte der modernen Kommunikationstechnik erscheint die Welt übersichtlich und beherrschbar. Es gibt jedoch Risiken und Nebenwirkungen, von denen in keiner Packungsbeilage oder Bedienungsanleitung jemals die Rede ist. 

Das Smartphone als Körperteil

Eine bemerkenswerte Beobachtung zum Thema Handynebenwirkungen machte ich vor Jahren während eines Kuraufenthalts. Gemeinsam mit meiner Frau und meinem Sohn saß ich auf der Terrasse eines Restaurants. Es war warm, die Vögel zwitscherten, unter dem Sonnenschirm wehte ein laues Lüftchen. Wir genossen unsere gemeinsame Zeit und erzählten uns, was wir in den Wochen meiner Rehabilitation voneinander versäumt hatten. Nebenbei fiel mein Blick auf zwei junge Pärchen an einem Vierertisch in unserer Nähe. Sie saßen direkt am Weg zur Küche, wo unablässig Restaurantpersonal ein- und ausging.

Eine Kellnerin balancierte Getränke und Speisen nach draußen. Sie nahm Bestellungen auf, kassierte, lächelte. Wenn die junge Dame in Hektik verfiel, reagierten die Gäste – sei es durch einen Augenaufschlag, ein Nicken oder andere Gesten. Nur die zwei Pärchen am Eingang zur Küche nahmen nichts davon wahr. Dabei hätten eigentlich auch sie sich von der Kellnerin ablenken lassen müssen. Üblicherweise unterliegen wir Menschen nämlich einer unbewussten Steuerung, sobald wir überraschende Bewegungen in unserer Nähe registrieren. Solche Schreckhaftigkeit ist uns immanent: Hektik und Stress binden unsere Aufmerksamkeit, weil sie schlimmstenfalls die Vorboten einer Gefahr sein könnten. Erweist sich das, was wir beobachten, dann als harmlos, wenden wir uns wieder ab, ohne dass wir unsere vorangegangene Alarmierung überhaupt bemerkt haben müssen. Solche Reaktionen sind das kleine Einmaleins des biologischen Selbstschutzes.

Offenbar lassen sich unsere Schutzreaktionen jedoch abschalten. Wir müssen bloß auf unsere Smartphones starren, schon sind Jahrtausende der Evolution außer Kraft gesetzt. Die Geräte entführen uns in eine Welt, in der unsere körperliche Existenz zur Nebensache verkommt.

Nicht umsonst haben sich die handtellergroßen Aufmerksamkeitsfänger in den letzten Jahrzehnten wie Vampire in unser Selbst und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gefressen. Die wenigsten Nutzer können sich überhaupt noch vorstellen, wie ein Leben ohne die als Telefone getarnten Taschencomputer aussehen könnte.

Das Smartphone ist allgegenwärtig: Je nach dem Grad der Technikaffinität seines Nutzers durchdringt es die unterschiedlichsten Facetten der menschlichen Existenz. Schlimmstenfalls geht die Technobiose so weit, dass mancher nicht mehr klar zwischen sich und dem elektronischen Fremdkörper unterscheiden kann. In solchen Fällen mutiert die Technik im Geiste des Anwenders zu einer Art Organ, ohne das er sich nicht mehr in der Lage sieht, sein Leben zu bewältigen. Da kann man nur von Glück sagen, dass sich verlorene oder defekte Handys leichter ersetzen lassen als ein Arm, ein Bein oder ein Auge. Ein temporär ums Handy amputierter Nutzer muss keine langen Phantomschmerzen ertragen, ehe er sich wieder vollständig fühlen darf. Wenn ein Smartphone defekt ist oder verloren geht, folgt in der Regel sogleich eine Neuanschaffung; Sie geht in der Regel mit einem „technischen Upgrade“ des Nutzers einher.   

Bei den vier jungen Menschen am Terrassentisch des Restaurants war ihre Handyversessenheit besonders stark ausgeprägt: Sie saßen beisammen, wie das junge Leute zu allen Zeiten getan haben. Zwischen ihnen fand jedoch keinerlei Kommunikation statt. Sie hockten reglos wie Porzellanpuppen an ihren Plätzen, starrten auf ihre Displays und versanken mit Haut und Haaren im virtuellen Raum. Die Anordnung der Menschen und Maschinen hatte etwas Gespenstisches. Die Vier schienen wie Roboter an einem virtuellen Tropf zu hängen, der sie mit allem versorgte, was zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz erforderlich war. Eine unsichtbare Grenze schirmte die jungen Leute von der Außenwelt ab, als hätten ihre Mobiltelefone eine Art Kokon um sie gesponnen. Der Kokon entkoppelte sie von der Gemeinschaft der Restaurantbesucher. Scheinbar spürten sie weder die wärmenden Strahlen der Sonne, noch das laue Lüftchen, das ihre Umgebung kühlte. Sie aßen nicht, sie tranken nicht, sie nahmen keinerlei Notiz voneinander.

Revolutionäres Instrument und dystopische Verheißung

Dass die kleinen Taschencomputer der Marken Apple, Samsung und Co. unseren Alltag nicht nur bereichern, dürfte inzwischen auch den technikfreundlichsten Mitgliedern der Menschheitsfamilie klar geworden sein. Dabei stechen den Kritikern der Handykultur die unterschiedlichsten Aspekte ins Auge – je nachdem, aus welchem Lager sie kommen. Für Vertreter der gehorsamsaffinen Mehrheitsgesellschaft sind Mobiltelefone vor allem deshalb gefährlich, weil ein gewisses revolutionäres Potenzial in ihnen schlummert. Kritiker dieses Schlags stören sich an diversen Telegram-Kanälen, in denen sogenannte „Verschwörungs-theorien“ ausgeheckt und verbreitet werden. Im Gegensatz dazu erkennen die Aufmüpfigen im Mobiltelefon eher ein Instrument orwellscher Prägung. Sie befürchten, Handys könnten sich in Zukunft als Werkzeuge bei der Umsetzung einer totalitären Kontrollagenda erweisen. Sei diese Dystopie erst einmal verwirklicht, heißt es, lebten smarte Bürger in smarten Städten, in denen ihre Rechte und Pflichten an den Erwerb von Sozialpunkten gekoppelt seien.

In der Tat böte sich das Mobiltelefon als ideale Nachweisquelle der „Güte“ seines Trägers an. Denn schließlich lassen sich mit den Taschencomputern alle Bewegungen ihrer Nutzer aufzeichnen. Mit nur wenigen Modifikationen könnten die Geräte sogar die Gedanken und Wertvorstellungen ihrer Herrchen und Frauchen transparent machen.

Die zur Überwachung Berufenen wüssten also sogleich, was die Überwachten denken und glauben und könnten bei ketzerischen „Hirngespinsten“ unmittelbar einschreiten.  Dass all das keine Zukunftsmusik ist, haben uns die Coronajahre mit ihren Überwachungsexzessen leidvoll vor Augen geführt. Zudem wissen wir inzwischen, wie sich über das Mobiltelefon und die modernen Medien noch die absurdesten Erzählungen und Geschichten unters Volk bringen lassen.

Krank durch das Smartphone?

Was die Abhängigkeit der Menschen von ihren Handys betrifft, etabliert sich gerade ein neues Krankheitsbild. Die Rede ist vom Symptomkomplex der sogenannten Nomophobie. Die Bezeichnung leitet sich aus dem englischen „no mobile phone phobia“ her (1). Aus der psychiatrischen Perspektive handelt sich um eine Angststörung, die sich aus der Vorstellung des Nutzers speist, er sei ohne sein Handy sozial isoliert, unerreichbar und von dem Rest der Gesellschaft abgeschnitten. Dass es in Anbetracht der Verbreitung moderner Mobiltelefone zu solchen Krankheitsbildern kommt, ist kaum verwunderlich. Schließlich soll es im Jahr 2021 in Deutschland 63 Millionen Handynutzer gegeben haben, die ihre Geräte im Durchschnitt drei Stunden und 49 Minuten (2) pro Tag aktiv verwendet haben. Betroffen von der Nomophobie sollen insbesondere die sogenannten „Digital Natives“ sein.

Das sind junge Menschen, die mit Handys aufgewachsen sind und die nie eine Welt ohne die piepsenden, surrenden und vibrierenden kleinen Quälgeister erlebt haben. Von Nomophobie spricht man, wenn Menschen übersteigerte Symptome der Gereiztheit, Nervosität oder Panik entwickeln, sobald sie von ihren Handys getrennt sind. In harmloserer Ausprägung scheint das Phänomen weit verbreitet. Wohl deshalb hat es die Symptomatik auch noch nicht bis in die einschlägigen Diagnosekataloge geschafft. Die Nomophobie gilt – im Gegensatz zum Zustand des Nicht-gegen-Corona-Geimpftseins (3) – bislang also noch nicht als anerkannte Krankheit und Karl Lauterbach hat sich noch keinen Kopf über Gegenmaßnahmen zerbrochen. Das lässt hoffen.

Ein Mittel der Nicht-Kommunikation

Sehr folgenschwer manifestieren sich die Nachteile des Mobiltelefongebrauchs vor allem in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Eingangsbeispiel spricht Bände: Vier junge Leute treffen sich in einem Restaurant. Anschließend sitzen sie einander schweigend gegenüber und spielen – jeder für sich – an ihren Smartphones herum. Da drängt sich doch die Frage auf, weshalb die jungen Leute nicht gleich zu Hause geblieben sind. Zumindest hätten sie eine Menge Geld gespart, wenn sie ihr Treffen in einen Park oder an einen Baggersee verlegt hätten.

Auch an einem Seeufer, am Straßenrand oder auf einer Parkbank wäre ein gegenseitiges Sich-Anschweigen und -Ignorieren als Option des sozialen Austauschs in Betracht gekommen; nur hätten sich die jungen Leute dafür nicht auch noch teure Getränke bestellen müssen. Zu meiner Zeit brauchte es zum geselligen Austausch kaum mehr als eine Parkbank, ein blubberndes Six-Pack-Bier und ein paar lustige Anekdoten. Heutzutage muss schon ein iPhone, ein „fettes“ Samsung oder ein „krasses“ Huawei-Teil dabei sein. Die Getränke blubbern wie früher; nur tun sie es heutzutage unbeachtet von ihren „Usern“ – trotz „Klimakatastrophe“ und CO2-Apokalypse.

Negative Auswirkungen des modernen Handykonsums wie im Eingangsbeispiel sind inzwischen allgegenwärtig: An Bus- und Bahnhaltestellen, bei Familienfesten, auf Pausenhöfen, in Cafes, in Warteschlangen und so weiter.

Das Handy entreißt das Individuum aus seinem sozialen Gefüge und führt zu Vereinzelung und Selbstbezogenheit. Hannah Ahrendt hätte in diesem Zusammenhang von einer Atomisierung der Gesellschaft gesprochen und vor ihren Folgen gewarnt (4). Eine atomisierte Gesellschaft bildet gemäß der deutsch-jüdischen Philosophin den Nährboden für jegliche Form des Totalitarismus.

Um das an einem Beispiel aufzuzäumen: Wo der gesellschaftliche Zusammenhalt hoch ist, lassen sich die Menschen nur schwer zu Lockdowns, Maskenpflicht und Ausgrenzung überreden. Ist die Gesellschaft dagegen durch jahrzehntelange Praxis und Propaganda atomisiert worden, fallen entsprechende Interventionen leichter.

Der auf sich fixierte, der sich selbst optimierende, der auf seinen wirtschaftlichen Wert orientierte Mensch hat kaum Hemmungen, sich unterzuordnen, wenn das eine konstruierte Mehrheit von ihm verlangt. Denn würde er sich nicht unterordnen, verlöre er seinen gesellschaftlichen Wert und fiele auf sich selbst und seinen engsten Freundeskreis zurück. Das jedoch darf nicht geschehen, in einer Welt, die jedem Mann und jeder Frau über die sogenannten „Sozialen“ Netzwerke eine Art „Ruhm“ suggeriert. Schließlich posten nicht wenige Menschen – die jungen über das Handy – auf Facebook, Instagram und Co. beinahe ihr ganzes Leben, ohne zu bemerken, dass die anderen Nutzer immer bloß an ihren eigenen öffentlichen Äußerungen interessiert sind. „Freund“ oder „Freundin“ wird man in dieser Scheinwelt, weil derjenige oder diejenige, die in die Freundesrolle schlüpfen, sich durch ihre „Freundschaft“ Reaktionen in Form von Kommentaren, Klicks oder erhobenen Daumen erhoffen (5).

Tod durch den Gebrauch von Smartphones

Geradezu lebensgefährlich werden Mobiltelefone, wenn man sie zum Zentrum der eigenen Wahrnehmung macht und sich dabei auch noch im Straßenverkehr bewegt. In meiner Dreißigtausend-Seelen-Heimatstadt gab es in den letzten Jahren etliche Unfälle wegen solcher Leichtfertigkeit. Zwei davon endeten tödlich. Die Opfer waren in beiden Fällen junge Mädchen, die sich – einmal zu Fuß, einmal auf dem Fahrrad – durch die Innenstadt bewegten und dabei über ihre Handys Musik hörten. Beide trugen Ohrstöpsel. Ihre Fokussierung auf die virtuelle Welt dürfte somit noch intensiver ausgefallen sein als bei Menschen, die ihre Mobiltelefone bloß anstarren. Denn während der Mensch, der beim Gehen aufs Display stiert, noch die Chance hat, eine sich nähernde Verkehrsgefahr im letzten Moment zu hören und auszuweichen, verbleibt der akustisch im virtuellen Raum Verhaftete schlimmstenfalls bis zu seinem tragischen Ende im elektronischen Nirvana gefangen. Beide Mädchen wurden von Kraftfahrzeugen überrollt und starben.

Solche Tragödien sind inzwischen so banal, dass die Presse nur noch regional darüber berichtet. Damit entsprechende Meldungen größere Wellen schlagen, muss die Tragik mit einer absurden Note gespickt sein. Zu denken ist dabei etwa an tödliche Selfie-Unfälle, über die auch überregionale Medien wie der Stern (6) oder der Deutschlandfunk (7) berichten. Die Szenarien könnten kaum grotesker sein: vom gedankenabwesenden Selfie-Sturz von der Klippe bis zum tödlichen Unfall beim gemeinsamen In-die-Kameralächeln mit einem Löwen ist alles dabei. Warum bringen sich Menschen vorsätzlich in solche Gefahr? Wahrscheinlich, weil sie auf Klicks und Follower hoffen, die ihnen das Gefühl geben, ihr Leben sei ein bisschen von jener Art, wie sie sie bei ihren Stars und Sternchen so bewundern. 

Der Beziehungskiller    

Gefahren durch den Handygebrauch entstehen indes nicht nur für diejenigen, die sich nach außen hin profilieren wollen. Auch beim Umgang mit Menschen, die man tatsächlich kennt, können sich Fallstricke und Tücken ergeben. Sogar im engsten Familienkreis geschieht das, zum Beispiel dann, wenn zwei Bekannte, Freunde oder Familienmitglieder sich entschließen, einen Konflikt über ihre Mobiltelefone auszutragen. Das Problem an unseren technischen Wegbegleitern besteht darin, dass sie die Kommunikation enthemmen. Das kann von Vorteil sein, wenn man sich die Telefonnummer seiner Traumfrau beschafft und ihr erfolgreich ein unmoralisches Angebot unterbreitet hat. Das kann aber auch ins Auge gehen, wenn die Angebetete sich durch die Avancen sexuell belästigt fühlt oder wenn man das Mobiltelefon als verbale Streitaxt benutzt.

Wie leicht lassen sich doch Sticheleien und abwertende Phrasen in eine WhatsApp-Nachricht verpacken, deren Gebrauch man sich in Gegenwart des Adressaten ansonsten eher verkneifen würde? Das flutscht, könnte man sagen. Es brüllt und schreit sich einfach leichter, wenn man seine Schreie in Buchstaben, Satzzeichen und Emojis verpackt. Von Auge zu Auge, von Angesicht zu Angesicht, fallen stürmische Auseinandersetzungen den meisten Menschen schwerer.

Wenn die roten Linien erst gefallen sind, ergibt sich ein weiteres Problem: Das, was man im Eifer des Gefechts geschrieben hat, lässt sich weniger leicht aus dem Gedächtnis tilgen als ein falsches Wort im Streitgespräch. Unsere kleinen Freunde aus dem Reich der Technik merken sich nämlich alles, solange wir ihnen keinen Löschbefehl erteilen.

Der Adressat einer erniedrigenden Botschaft kann deshalb, so lange er will, nachlesen, wie sein Streitpartner ihn gedemütigt hat. Zudem kann er eine unbegrenzte Zahl von Menschen an seiner Erniedrigung teilhaben lassen. Moderne Streithähne beziehen daher gerne Dritte in ihre Streitigkeiten mit ein.  Jedenfalls gilt das, wenn sie ihre Auseinandersetzungen über soziale Medien austragen und ihnen belastendes Material der Gegenpartei vorliegt. Menschen dieses Schlages reiben einem gerne ihr Smartphone unter die Nase und tippen empört auf belastende Textnachrichten ihres Widersachers oder ihrer Widersacherin. „Da, schau, was er mir geschrieben hat!“, heißt es dann etwa.

Und: „jetzt kannst du endlich sehen, was für ein Mensch der ist!“ Wir Dritte, die wir solche Zeitzeugnisse lesen sollen, geben in der Bedrängnis meistens nach und tun, was von uns verlangt wird. Und natürlich sind wir in solchen Situationen schockiert und nehmen Anteil am Leid des Gedemütigten. Dabei geht oft unter, dass wir nur einen Ausschnitt der Auseinandersetzung kennen und dass die verletzenden Worte aus einem Kontext stammen, von dem wir nur Bruchstücke erahnen. Entwürdigende Äußerungen im Streit gab es auch schon vor der Handyrevolution. Nur sind sie früher nicht aufgezeichnet und für die Ewigkeit konserviert worden. Deshalb vergaßen unsere Vorfahren mit der Zeit, wie man sie verletzt hatte, und einer echten Versöhnung standen keine „Beweise“ entgegen, die das vermeintlich Unverzeihliche in Stein meißelten.

Das Mittel der Gedankenkontrolle

Die zusammengetragenen Beispiele sollten gezeigt haben: Eine Gesellschaft, in der das Smartphone zum Zentrum der Existenz von Menschen geworden ist, lässt sich nicht mit einer Gesellschaft ohne technischen Schnickschnack vergleichen. Mobiltelefone, vor allem Smartphones, haben in unserem Leben inzwischen eine geradezu gruselige Bedeutung erlangt. Vor allem junge Leute können sich ein Leben ohne ihre technischen Dienstboten kaum noch vorstellen. Man muss sich darüber nicht wundern, denn sie sind in einer virtuell verdrahteten Welt aufgewachsen, in der die Privatsphäre und die Besinnung auf sich selbst nie eine Rolle gespielt haben. Sie lachen über uns Ältere und meinen, sie würden sich im Gegensatz zu uns besser im digitalen Chaos zurechtfinden. Dabei tappen sie immer wieder in die Falle und verwechseln ihre digitale Scheinwelt mit der Realität. Die Realität wiederum sieht so aus, dass sich über das Mobiltelefon Strukturen etabliert haben, über die das Individuum leichter zu beeinflussen ist, als das jemals in der Geschichte der Menschheit der Fall gewesen ist.

Die Macher der Digitalkultur bestreiten ihre Absichten noch nicht einmal. Sie geben offen zu, dass sie einen virtuellen Raum erschaffen haben, in dem die Menschen von fragwürdigen Identifikationsfiguren zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt werden sollen.

Die Identifikationsfiguren selbst nennen sich „Influencer“ (8) und steuern sowohl den Konsum als auch das Selbstbild ihrer Rezipienten. Wer sich in Anbetracht dessen noch fragt, weshalb die postmoderne Jugend so zahm ist, sollte sich vor Augen führen, dass Smartphones in den Händen von Kindern und unreifen Erwachsenen keine Telefone, sondern Instrumente der Steuerung und Kontrolle sind. Über den virtuellen Tropf fließen den Handyusern Gedanken zu, auf die sie selber womöglich nie gekommen wären. Mit dem wahren Kern des Wesens der Smartphone-Nutzer haben diese Gedanken oft wenig zu tun.

Anstatt sein Selbst im sozialen Austausch mit anderen zu entdecken und zu erlernen, entwickeln sich vor allem junge Leute auf diese Weise immer öfter zu digitalen Zombies, die sich von jeder gesellschaftlichen Welle willenlos mittragen lassen. Je weiter diese Wellen die Gelenkten von ihren Bedürfnissen entfernen, umso stärkere Symptome der Selbstentfremdung entwickeln sie. Vermutlich landen deshalb immer mehr – vor allem junge Menschen – in psychiatrischer Behandlung und kommen mit ihrem Leben immer weniger gut zurecht (9).


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Nomophobie
(2) https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2023/02/nomophobie-wenn-die-trennung-vom-smartphone-angst-ausloest-psychologie-angststorung
(3) https://gesund.bund.de/icd-code-suche/z28
(4) https://www.piper.de/buecher/elemente-und-urspruenge-totaler-herrschaft-isbn-978-3-492-21032-4?awc=26067_1697639555_2fa32612bde0d229733d761032c3705b
(5) https://www.mediabynature.de/blog/die-psychologie-hinter-social-media/
(6) https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/studie-zeigt--wie-und-wem-die-meisten-toedlichen-selfies-passieren-8392724.html
(7) https://www.deutschlandfunkkultur.de/selfie-unfaelle-mit-todesfolge-hauptgefahren-hoehe-wasser-100.html
(8) https://www.gruender.de/online-marketing/influencer-marketing/
(9) https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/der-einfluss-sozialer-medien-auf-die-psyche/


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