Die Diagnose ist deutlich: Wir leben wir in einer traumatisierten Gesellschaft. Knallharter Wettbewerb, grenzenlose Wachstumsphantasien, maßlose Profitgier und ungezügelter Konkurrenzkampf sind Anzeichen dafür, in welchem Maße wir individuell und kollektiv erkrankt sind. Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Umweltzerstörung, militärische Aufrüstung, Kriege — all das ist nur möglich in einer Gesellschaft überwiegend gestörter Menschen. Wir traumatisieren uns gegenseitig in allen Bereichen des Lebens: auf der politischen Ebene, in der Wirtschaft, in unseren Partnerschaften und Familien. Dabei halten wir gleichzeitig die Illusion aufrecht, dass das alles normal sei.
Viele von uns haben während der vorgeburtlichen und/oder frühkindlichen Phase Verletzungen erlitten und tragen ein Leben lang den Schmerz mit sich herum, nicht gewollt, nicht geliebt und nicht geschützt worden zu sein. Die Erinnerungen daran können so überwältigend sein, dass die dem Selbsterhalt dienende Psyche sie abspaltet und wegschließt. So entziehen sie sich unserem Bewusstsein. Wir sehen sie nicht mehr und kommen nicht mehr ans sie heran. Im Unterbewusstsein jedoch laufen sie als (selbst-)zerstörerische Programme weiter.
Die Abspaltung des Unerträglichen
Die Abspaltungen entstehen dann, wenn die Strategien Flucht oder Angriff nicht helfen und Notfallstrategien wie Erstarren, Einfrieren und Dissoziieren notwendig werden. Ein weinendes Kind zum Beispiel, das geschlagen wird, lernt, seine Gefühle zu unterdrücken, um es nicht noch schlimmer zu machen. Damit überlässt die Psyche den Körper sich selbst und rettet sich in eine Welt körperfreier Vorstellungen. Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen, Erinnern und Handeln wirken nicht mehr als Einheit zusammen, sondern verarbeiten unabhängig voneinander Informationen über die reale Welt. Statt uns die Realität zu erschließen, wirkt die Psyche schließlich darauf hin, dass wir die Realität nicht mehr in vollem Umfang erkennen.
So verliert der traumatisierte Mensch den Kontakt zur Außen- und zur Innenwelt. Es entstehen sogenannte Kopfgeburten. Wir schaffen uns Phantasiewelten, in denen wir meinen, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Denn nichts ist schlimmer als das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Als Beispiel führt Ruppert die Prostitution an. Seiner Erkenntnis nach gibt es kaum eine Prostituierte, die in ihrer Kindheit nicht vergewaltigt wurde. Als Erwachsene stellt sie sich vor, freiwillig Sex und Kontrolle über ihre Freier zu haben. Dadurch traumatisiert sie sich selbst weiter und erfährt dann auch noch den Zynismus einer Gesellschaft, die behauptet, dass sie das ja aus freien Stücken macht. So kapseln sich unerträgliche Gefühle wie Angst, Schmerz, Wut, Scham oder Ekel immer mehr ab und führen zu einem fortschreitenden Verlust des Realitätsbezuges.
Das Trauma der Identität
Ruppert unterscheidet vier Arten von Psychotraumata: Das Trauma der Identität, das Trauma der Liebe, das Trauma der Sexualität und das Trauma der eigenen Täterschaft. Beim Trauma der Identität kapselt ein ungewolltes Kind früh den Schmerz über das Ungewolltsein ab und findet über diese Erstarrung keinen Bezug zu den eigenen Bedürfnissen. Um zu überleben bemüht es sich, möglichst unauffällig zu sein und möglichst wenig eigene Lebendigkeit zum Ausdruck zu bringen. Das kann schon im Uterus geschehen. Der Fötus versucht förmlich, sich in der Gebärmutter zu verstecken.
Bereits der eigene Herzschlag wird als Bedrohung empfunden. Die daraus sich entwickelnde Strategie ist, sich die mütterliche Psyche wie eine Tarnkappe aufzusetzen. Ich (Kind) bin du (Mama). Das Eigene kann nicht erkannt werden und wird teilweise sogar als fremd bekämpft. Diese Menschen suchen Lebensenergie, Lebensfreude und Lebenswillen in anderen und haben das Gefühl, allein nicht lebensfähig zu sein. Das äußert sich durch eine Identifikation mit dem Außen: die Zugehörigkeit zu Gruppen, zur Familie, zum Clan, zur Firma, zum Volk.
Das Trauma der Liebe
Beim Trauma der Liebe wird dem Bedürfnis jedes Kindes, von der Mutter geliebt zu werden, nicht entsprochen. Traumatisierte Mütter sind nicht dazu in der Lage, die kindliche Liebe anzunehmen, weil sie Angst haben, dann selbst noch tiefer in die eigenen Trauma-Gefühle abzurutschen. Sie versuchen daher alles, um die Gefühlsäußerungen ihres Kindes durch Ignorieren, Strenge, Schimpfen, Gewalt oder auch durch Schaukeln, Füttern und Beschwichtigungen zu unterdrücken.
Das Kind kann nicht wissen, dass die Mutter traumatisiert ist und sucht den Fehler bei sich. Es glaubt, Schuld am Verhalten der Mutter zu sein. Mit diesem Trauma belastete Menschen strengen sich sehr an, der Mutter zu gefallen. Sie idealisieren sie und kommen nie wirklich von ihr los. Wenn es ihnen nicht gelingt, das eigene aufgegebene Ich zurückzugewinnen, einen eigenen Willen zu entwickeln und sich selbst aus vollem Herzen zu lieben, werden sie niemals andere auf gesunde Weise lieben können.
Das Trauma der Sexualität
Beim Trauma der Sexualität macht das unerfüllte Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung die Kinder traumatisierter Mütter zu einer leichten Beute für sexuelle Übergriffe seitens der Väter. Da das Kind diese vermeintliche Wahrnehmung und Anerkennung nicht verlieren will, werden körperliche Schmerzen, Scham, Ekel und Wutgefühle abgespalten: Es kann nicht sein, dass der Papa, der Opa oder der Onkel so etwas macht. In den meisten Fällen ist das Kind den Übergriffen hilflos ausgesetzt. Traumatisierte Mütter können weder ihre Töchter vor Tätern schützen, noch sind sie emotional und körperlich für ihre Söhne verfügbar, die so zur nächsten Tätergeneration heranwachsen.
Vom Opfer zum Täter
Das Trauma der eigenen Täterschaft kann dann entstehen, wenn wir es nicht wahrhaben wollen, zu Opfern geworden zu sein. Wir werden selbst zum Täter und machen andere zu Opfern. So kommen wir zumindest kurzfristig aus der eigenen Ohnmacht heraus. Betroffene lehnen es oft mit großer Vehemenz ab, sich mit der eigenen Psyche zu befassen. Sie fühlen sich sofort angegriffen und beleidigt, wenn jemand sie auf ihre Traumatisierungen hinweist. Man erkennt sie auch daran, wie schnell sie sich empören, wenn man etwas an ihnen kritisiert und wie sie versuchen, ihren Kritikern die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Menschen fügen sich selbst schwere körperliche Verletzungen zu, bis hin zum Suizid. Sie halten aus schlechtem Gewissen Kontakt mit Eltern, die sie immer wieder verletzen, arbeiten unter ständigem Druck zu niedrigen Löhnen und lassen es zu, dass sich der Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert, da sie als Kinder nicht gelernt haben, etwas wert zu sein. Sie wählen Politiker, die ihre Freiheiten beschneiden und sie mit Lügen in provozierte Kriege schicken und sie zerstören auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene das, was andere mit viel Mühe geschaffen haben.
Verdrängen verhindert die Heilung
Wenn jemand Opfer geworden ist, dann ist das eine Tatsache, die sich nicht wieder rückgängig machen lässt. Die gute Nachricht ist, dass immer auch gesunde Anteile in der Psyche bleiben, die auch durch schwere Psychotraumata nicht gänzlich zerstört werden können. Heilung kann jedoch nicht eintreten, wenn das Opfer kategorisch seine Gefühle verweigert („das ist schon in Ordnung so“), die Zähne zusammenbeißt („Ich bin zäh“), Erinnerungen verdrängt („Das ist schon lange her“), andere für ihre Schwächen verachtet („immer diese Gefühlsduselei“), sich für das Erlittene schuldig fühlt („ich hätte den Mund halten sollen“), sich dafür schämt („Ich bin nichts wert“) oder die Schädigungen sogar als gerechte Strafe ansieht („Ich habe das verdient, weil ich so frech war“).
Immer wieder stellt sich das Opfer auf die Seite des Täters: Er ist ja im Grunde kein schlechter Mensch, jeder hat Fehler, er braucht mich, ich kann verzeihen. Trauma-Opfer schaffen es nicht, aus der Abhängigkeit vom Täter auszusteigen. So kommt es, dass die Eltern, die einen gequält haben, bis zum Schluss hingebungsvoll gepflegt werden und dass schwer verletzte Kriegsveteranen nichts auf den Staat kommen lassen, der sie mit Lügen und Feindbildpropaganda in den Krieg gelockt hat.
Ablenkungsmanöver
Doch Trauma-Opfer sind nicht nur friedlich und erduldend. Oft werden sie selbst zum Täter. Wenn ein Trauma-Täter seine Gewissensbisse, Scham- und Schuldgefühle und die Angst vor sozialer Ächtung nicht aushalten kann, spaltet er sie ab. Ich war es nicht! Das habe ich nicht gewusst. Ich habe nur meinen Dienst getan. Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet. Wenn ich eine so schöne Kindheit gehabt hätte wie du! Sie verstecken sich hinter sogenannten Sachzwängen („dieser Krieg ist zur Sicherung des Friedens nötig“, „die Entlassungen sichern die übrigen Arbeitsplätze“) oder versuchen, sich selbst als das eigentliche Opfer darzustellen („er hat mich so lange provoziert“).
„Um von ihrem schlechten Gewissen abzulenken, bemühen sich Täter sehr darum, in der Öffentlichkeit ein reines Gewissen zu demonstrieren. Daher gebären sie sich gerne als große Menschenfreunde, stellen jeden ihrer Kriege als Friedenssicherung dar, verweisen auf die vielen Arbeitsplätze, die sie geschaffen haben, verweisen auf ihren unermüdlichen Arbeitseinsatz für das Gemeinwohl oder auf ihre großzügigen Spenden für humanitäre Zwecke und die wissenschaftliche Forschung. Sie schmücken sich mit Ehrenvorsitzen und Wohltätigkeitsvereinen oder gründen selbst solche“ (1).
Von der individuellen zur kollektiven Traumatisierung
Zu Tätern gewordene Opfer projizieren ihre Traumagefühle nach Außen und sehen dort überall das Böse reflektiert, das sie in ihrem Inneren abgespalten haben. Im Kampf gegen die Mächte der Finsternis sind alle Mittel recht. Diejenigen, die sich nicht in die eigenen Reihen einordnen, werden automatisch zum Feind und müssen dann dessen Schicksal erleiden. Die Täter spüren dabei ihre eigene Unmenschlichkeit nicht. Ihre Gefühlslosigkeit gegenüber sich selbst wird zur Empfindungslosigkeit gegenüber anderen.
So entstehen ganze traumatisierte Gesellschaften. Symptome dafür sind nach Ruppert unter anderem hohe Abtreibungsraten, hohe Raten von Geburtskomplikationen, eine geringe Anzahl stillender Mütter, früh in Krippen gegebene Kinder, ein hoher Anteil alleinerziehender Mütter, hohe Fallzahlen sexueller Traumatisierung, schulischer Konkurrenzdruck, Lohn-Sklaverei, hohe Arbeitslosenquoten, Geldarmut, niedrige Renten, hohe Verbrecherraten, gewaltverherrlichende Computerspiele, Pornografie und Prostitution, Suchtmittelkonsum, Manipulation durch Massenmedien, hoher Zulauf zu extremistischen Parteien, Überwachung und hohe Rüstungsausgaben.
Ausstieg aus einer traumatisierten Gesellschaft
Die Frage ist nun, wie es gelingen kann, aus einer traumatisierten Gesellschaft auszusteigen. Nach Ruppert wird dies nicht durch Gewalt, Rache, Rebellion oder Revolution möglich, denn sie treiben die Spaltungen noch weiter voran. Auch Verzeihen, und Versöhnen oder die Ablenkung durch Spiritualität, Kunst oder rationale Diskurse bringen keine dauerhafte Lösung.
Eine Überwindung der Traumata kann nur gelingen im Fühlen des eigenen Opfer-Seins und indem wir uns die Fragen stellen: Wie und wann bin ich hilflos, ohnmächtig und panisch geworden? Im Bauch der Mutter, weil ich nicht gewollt war? Bei meiner Geburt? Gleich danach? Durch lieblose Behandlung oder Vernachlässigung? Durch die zu frühe Trennung von der Mutter und Fremdbetreuung? Durch sexuelle Traumatisierung? Mobbing in der Schule? Arbeitslosigkeit? Unfall? Tod?
Um das eigene, gesunde Ich zu rekonstruieren und vom Traumazustand zu erlösen, müssen wir oft weit zurück in die Vergangenheit. Nur wer es schließlich lernt, sein eigenes Opfer-Sein zu fühlen, wird auch sensibler für sein eigenes Täter-Sein und kann sein bisher unbewusst destruktives Verhalten erkennen und ändern. So können aus psychisch gesunden Individuen psychisch gesunde Gesellschaften erwachsen. Je früher wir damit beginnen, desto besser ist es.
Anliegenmethode und Identitätsorientierte Psychotraumatherapie
Jedes Psychotrauma ist wie ein schwarzes Loch in der Biografie eines Menschen. Die von Ruppert entwickelte und auf der Resonanztechnik basierende Therapie wirft gewissermaßen Licht auf die schwarzen Löcher. Wenn wir uns selbst darin wiedererkennen, was uns von anderen gespiegelt wird, wird die Aufhebung der traumabedingten Spaltung möglich. Durch das Anerkennen des Schmerzes, das Unterstützen einer eigenen Willensbildung, das Achten der eigenen Bedürfnisse und das Zurückkommen in den eigenen Körper können schließlich die gesunden psychischen Anteile eines Menschen die Führung übernehmen.
Wir können dann Verantwortung für unser Leben übernehmen, wenn wir lernen, die erlittenen Schädigungen mit den damit verbundenen Ängsten, Wutgefühlen und Schmerzen über enttäuschte Liebe und Einsamkeit anzunehmen. Wir erkennen unsere wahre Stärke, sind bei uns und fühlen uns nicht mehr allein. Wir erkennen, dass es keine höhere Autorität als uns selbst gibt und dass wir allein über unser Leben bestimmen.
„Allmählich verschwindet auf diesem Weg das Interesse an der Beschäftigung mit den Tätern und deren Bedürfnissen. Ich will von ihnen nicht mehr gesehen, anerkannt, verstanden oder geliebt werden. Ich will von ihnen nicht mehr Gerechtigkeit und Genugtuung erfahren oder mich an ihnen rächen. Ich erkenne, dass es völlig sinnlos ist, die Trauma-Täter anzuklagen, dass sie mir Gewalt angetan oder mich nicht geschützt haben. Es bringt mir nichts, ihnen meine Wut entgegen zu schleudern. Denn so bleibe ich mit ihnen weiterhin verbunden und in meinen Opferhaltungen fixiert. Mir ist nur wichtig, den erforderlichen Abstand mit ihnen zu halten. Mich konsequent nicht mehr mit ihnen zu beschäftigen“ (2).
So können die in der Kindheit abgespaltenen Teile abgeholt und in die eigene Identität integriert werden. Ich will mich. Ich bin frei und kreativ. Ich brauche keine Vorschriften und muss mich nicht rechtfertigen. Ich darf Fehler machen und muss nicht perfekt sein. Wer sich dann vor seinen eigenen Angst-, Wut- und Schamgefühlen nicht mehr fürchtet, der kann auch von anderen nicht mehr manipuliert, erpresst oder beherrscht werden. Damit wird eine Grundlage für eine gesunde Gesellschaft geschaffen: Jeder wird letztlich selbst die Gesellschaft, die er sich wünscht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Franz Ruppert: „Wer bin in einer traumatisierten Gesellschaft?“ Klett-Cotta 2018, S. 131
(2) ebenda, S. 200-201
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