Elisa Gratias: Wie bist du darauf gekommen, einen Ausweg aus dem System der Gewalt zu suchen?
Monika Alleweldt: Meine Eltern haben uns Kindern vom Krieg erzählt, auch meine Lehrer. Ich konnte es nicht fassen, dass sich Menschen so etwas antun. Dann habe ich miterlebt, wie unsere Nachbarn Schwalbennester zerstört haben, weil sie keinen Schwalbendreck auf ihren Fenstersimsen haben wollten. Wir Kinder sammelten die jungen Vögel von der Straße auf und wollten sie gesund pflegen, aber sie starben in unseren Händen. So wurde ich konfrontiert mit der Realität der Grausamkeit, ob gegenüber Menschen oder Tieren.
Viel später reiste ich dann im Rahmen meines Landwirtschaftsstudiums nach Guatemala. Es war meine erste Reise in ein sogenanntes Entwicklungsland. Die Eindrücke dort haben mich „aus der Bahn geworfen“, beziehungsweise heute würde ich eher sagen, sie haben mich auf die richtige Bahn gesetzt. Es waren die vielen Erlebnisse in diesem Land, die mein Weltbild erschütterten und mir die Augen dann vollends geöffnet haben.
Einmal war ich zum Beispiel mit einer indigenen Familie auf einem Fluss durch den Dschungel unterwegs. Sie hatten zwei ihrer Kinder mit, vielleicht drei und vier Jahre alt. Wir spielten zusammen und wurden immer erfinderischer darin, uns zu verständigen. Als wir wieder zurück in ihr Dorf kamen, bat mich die Mutter, ihre beiden Kinder mitzunehmen.
Da stand ich, nur wenig älter als 20 Jahre, und in meinem Kopf ratterten die Gedanken. Was ist zu tun, um sie überhaupt mitnehmen zu können? Welche Papiere würde ich brauchen, und solche Dinge. Und ein anderer Teil in mir hat gesagt, wenn du sie jetzt mitnimmst, nimmst du sie mit in ein System, was ihre Kultur zerstört hat und täglich neu die Unterdrückung erzeugt, unter der sie jetzt leiden. Was können sie bei uns wirklich lernen? — Die Mutter hatte die Hoffnung, ich würde ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Und ich habe gewusst, dieses bessere Leben gibt es gar nicht. Aber das konnte ich natürlich so nicht sagen.
Ich konnte die Kinder nicht mitnehmen. Aber es war einer dieser Momente, wo sich mein Entschluss festigte, einen Ausweg aus diesem globalen Gewaltsystem zu finden. Es musste ihn geben, das sagte mir mein Herz. In Guatemala habe ich gelernt, dass der Schlüssel dazu in unserer eigenen Kultur zu suchen und zu finden ist.
Und wie ging es dann weiter?
Ich wurde ziemlich krank und musste die Reise abbrechen. Ich schaffte es mit letzter Kraft nach Hause, wo ich dann drei Monate flachlag. Heute weiß ich, dass diese Krankheit eigentlich ein Segen war. Sie gab mir die Zeit, die ich brauchte, um all das zu verdauen, was ich gesehen und erfahren hatte. Und es gab noch etwas anderes, was an dieser Krankheit richtig gut war: Es gab kein Mittel dagegen. Zumindest damals nicht.
Und so lag ich da und tat nichts. Drei Monate lang. Und plötzlich, es war bereits kurz vor Weihnachten, war ich von einer Woche auf die andere gesund. Alle Blutwerte waren wieder normal. Wer hat das bewirkt? Wie geschieht eigentlich Heilung? Wie gut, dass es solche Krankheiten gibt, auf die nicht gleich ein Arsenal von Medikamenten und Verordnungen abgefeuert werden kann. Dadurch hatte ich eine wunderbare erste Lehre in Sachen Selbstheilung erhalten. Und dieses Kräftefeld wirkt nicht nur auf einen Einzigen ein, es scheint ja immer da zu sein. Könnte es nicht auch global wirken ...?
Die Selbstheilungskräfte führen dich auch zu wichtigen Lebensentscheidungen. So wusste ich am Ende dieser drei Monate, dass ich mein Landwirtschaftsstudium so schnell wie möglich durchlaufen und abschließen würde. Und ich habe meinem damaligen Geliebten einen Brief geschrieben und unsere Beziehung beendet. Das war eine schwere Entscheidung. Aber sie war überfällig. Unsere Liebe hatte sich in einen Dauerstreit verwandelt. Wir bemühten uns sehr, aber wir gerieten beim kleinsten Anlass aneinander.
Als der Brief verschickt war, überkam mich eine Erleichterung, und ich begann zu ahnen, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen der globalen Gewalt und diesen Streitereien und Enttäuschungen in den persönlichen Liebesbeziehungen. Ich war ja nicht die Einzige, der es so erging. Ging es nicht Millionen anderer Paare genauso?
Nach Abschluss deines Studiums bist du dann auf die Bauhütte gestoßen, dem Vorläufer-Projekt des heutigen Tamera. Was hat dich da angezogen?
Zwischen dem Abschluss meines Studiums und dem Eintritt in dieses Projekt lagen wichtige Jahre der Suche. Das was überhaupt nicht angenehm. Ich hatte immer wieder Angstzustände. Ich wusste überhaupt nicht weiter. Ich wollte keine Karriere machen. Ich wollte mir keine berufliche Nische suchen. Ich wollte keine Familie gründen. Ich wollte keine Kinder in diese Welt setzen, wenn sie nicht die Möglichkeit hätten, anders aufzuwachsen. Nichts von all dem, was mir an Möglichkeiten der Selbstverwirklichung angeboten wurde, passte mir.
Ich war schon immer rebellisch gewesen, aber jetzt kam ich an eine Grenze. War ich verrückt? Ich besuchte Gemeinschaften, politische Gruppierungen, Aktivistengruppen. Nirgends wollte ich bleiben. Dann hörte ich eines Tages, dass eine Almhirtin gesucht wurde. Ich bewarb mich sofort und verbrachte fünf Monate allein in den Alpen.
Es waren Monate voller Dankbarkeit. Ich war dankbar für das Wasser aus der Quelle. Ich war dankbar für das Licht des Mondes. Ich war dankbar für jede Mahlzeit, die ich mir mit viel Sorgfalt zubereitete. Ich war dankbar für diesen riesigen Ofen in der Almhütte, auf dem ich lernte, das Wasser für meinen Morgenkaffee mit wenig Holz schnell zum Kochen zu bringen. Ich war dankbar für den Geruch des frischen Heus. Ich war dankbar für meinen Hund, der mich begleitete. Ich war dankbar für meine Gesundheit, dankbar für die Kraft, die sich durch das tägliche Laufen bergauf und bergab immer weiter steigerte.
Mir fehlte nichts, ich hätte ewig so leben können, nur eines vermisste ich schmerzlich: den Kontakt zu Menschen. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt. Manchmal kamen Wanderer vorbei, wir begrüßten uns, wie man es eben so macht. Aber ich war froh, wenn sie weiterzogen. Meine Einsamkeit ließ sich nicht vertreiben durch konventionelle Worte.
Ich erlebte so viel, worüber ich nicht sprechen konnte. Es kam mir vor, als sei meine Seele zur Ruhe gekommen wie die Oberfläche eines Sees, in dem sich die Dinge plötzlich spiegeln. Ich sagte mir: In mir spiegelte sich das All oder besser das Wissen. Ich hatte damals kein spirituelles Vokabular, keine Vorbildung.
Es war komisch, dass ich solche Gedanken und Bilder hatte. Aber hier gab es immer wieder ein Gefühl, das ich als „heilig“ bezeichnen muss. Und dann diese merkwürdige Verbindung zum Wissen. Ich wusste, wo sich die Tiere aufhielten, lange bevor ich ihre Glocken hörte. Ich wusste, ob ein Gewitter kommen oder vorüberziehen würde. Ich fühlte früh die Anwesenheit von Menschen und täuschte mich fast nie. Ich hatte einen Heißhunger auf bestimmte Wiesenkräuter, die ich nicht kannte und von denen ich später erfuhr, dass sie blutbildend wirken. Ich liebte es, in einem kalten Gebirgsbach zu baden und mich dann nackt auf einem Felsen wieder aufzuwärmen.
Das war Freiheit pur. Und es kamen klare Fragen und Gedanken: Wie müsste eigentlich ein System beschaffen sein, in dem die Liebe aufblüht und Dauer bekommt? In dem sie sich ausbreiten kann und auch Dritte miteinbezieht und weitere mehr? Ich kannte das Eifersuchtsdrama meiner Eltern, ich verstand ihren Schmerz, aber ich habe mich immer gefragt: Ist es ein Verbrechen, wenn man sich in jemand anderen verliebt? Wenn man andere begehrt? Tun wir das nicht dauernd irgendwie und verheimlichen es voreinander?
Wie viel Unwahrheit es doch unter uns Menschen gibt. Und dann wundern wir uns, dass Einzelne irgendwann durchdrehen und nur noch die Gewalt wollen. Der Ausweg musste da liegen, wo die Liebe eine Chance bekommt. Nicht nur als Glücksfall hier und da, sondern systematisch, strukturell. Wenn wir aber über solche Pläne sprechen würden, dann würde man auf uns herabschauen. Wir würden als naive Träumer abgetan.
Die eigentliche Realität ist die beinharte Weltpolitik. Das System des Kapitalismus. Was hat die Liebe denn damit zu tun? Wir ereifern uns dann über die Drahtzieher und Ungerechtigkeiten, analysieren die Strukturen des Systems bis ins letzte Detail, aber wir übersehen, dass diese Gesellschaftsform eigentlich das widerspiegelt, was wir in der Liebe machen. Wir wollen den Liebespartner besitzen. Er gehört uns. Wir ziehen einen Zaun drumherum.
Angst, nicht Liebe, ist der Baustein dieser Welt. Ohne Angst würde das System in sich zusammenbrechen. Es kann nur mit Angst bestehen. Was für eine Erkenntnis!
Und ja, einige Monate später stieß ich auf eine Information der Bauhütte, in der solche Gedanken auch angedeutet wurden. Ich bin sofort hingefahren.
Die Bauhütte verstand sich als ein radikales Forschungsprojekt, das zu tun hatte mit „freier Sexualität“ und „freier Liebe“ ...
Ja, aber das waren zunächst nicht die Attraktoren für mich. Für mich war die Frage ausschlaggebend, mit der sie sich dort beschäftigten: Wie können lokale Gemeinschaften eine globale Wirkung erzielen? Endlich war ich auf Menschen getroffen, die diese Frage ernsthaft stellten und schon viel weiter mit ihrer Antwort gekommen waren als ich. Es würde ein eigenes Interview erfordern, darauf näher einzugehen.
Dann hat mich interessiert, was sie hier unter Gemeinschaft verstanden. Bis dahin hatte ich gedacht, gut, einige wählen Gemeinschaft als eine alternative Lebensform für sich und ihre Familien, weil sie es so besser finden. Aber hier in der Bauhütte betrachtete man die Gemeinschaft als einen Ausschnitt der Gesellschaft, in dem exemplarisch die Ursachen für den Dauerkrieg unter Menschen herausgefunden und gelöst werden sollten.
Warum können Menschen gegeneinander aufgehetzt werden? Warum werden Nachbarn über Nacht zu erbitterten Feinden? Warum verwandeln sich unsere Liebesbeziehungen in einen nervenzerreibenden Dauerkrieg? Warum haben wir Menschen Angst voreinander?
Wenn wir „normal“ sind, haben wir gelernt, diese Angst zu überspielen. Wir merken sie nicht. Es wäre ja auch schlimm, denn wir müssen ja funktionieren, wollen gut ankommen, uns im Leben zurechtfinden. Aber es gibt natürlich Menschen, die das nicht so gut überspielen können ..., na ja, der Unterschied zu den „Normalen“ ist nur graduell.
Solange wir diese Angst in uns tragen, sind wir manipulierbar, unfrei. Unsere Reaktionen lassen sich vorhersagen. Wenn wir frei werden wollen, müssen wir uns diese Angst bewusst machen. Auch wenn sich alles in uns dagegen sträubt. Aber ich kann nur das verändern, was mir bewusst ist. Die Bauhütte war so ein Ort, wo man erfahren konnte, was Hermann Hesse einmal gesagt hat: „Krieg wohnt jedem Frieden heimlich inne.“ Man muss bereit sein zur Selbsterkenntnis.
Und was war mit der freien Sexualität?
Ja, das interessiert alle. Aber auch das wäre ein eigenes Interview ...! Es waren natürlich tolle Erlebnisse. Aber es ging nicht nur um ein Ausleben, darum ging es eigentlich nicht. Freie Sexualität stand im Zusammenhang mit der Frage nach Frieden zwischen Menschen. Solange der Mensch seine sexuelle Natur verleugnet und unterdrückt, ist er unwahr.
Wir alle spüren das. Aber niemand traut sich, es auszusprechen. Das ist ein richtiges Tabu, trotz aller sogenannten sexuellen Freiheit. Die ist aber nur relativ oberflächlich, lass mal Liebe hinzukommen, dann weiß man, welchen seelischen Sprengstoff man aktiviert. Wenn das nur Einzelfälle wären, wäre es ja nicht schlimm. Aber wir alle betreiben mehr oder weniger diese Verdrängung, und so gärt im Bauch unserer Gesellschaften ein Gebräu, das jederzeit hochgehen kann.
Hattest du nicht Angst, dass du in eine Sekte gerätst?
Doch, klar. Die Bauhütte war ja in Verruf gekommen, gerade wegen der Themen, die sie in ihre Forschung einbezog. Die Gesellschaft weiß schon, wie sie diejenigen, die es wagen, an ihren Grundfesten zu rütteln, mundtot machen kann. Aber der Sektenvorwurf kam damals auch von den Linken, gerade von denen. Das hat natürlich besonders geschmerzt, weil man sie eigentlich als Verbündete betrachten wollte.
Ich habe mich damals gefragt, ob ich es denn rechtzeitig merken würde, wenn ich in einer Sekte gelandet wäre. Man muss schon etwas Selbstvertrauen besitzen, um so einen Schritt zu wagen.
Ich habe den Gründer und damaligen Kopf der Kommune, Dieter Duhm, genau und sehr kritisch geprüft. Kann ich ihm glauben? Manipuliert er? Bei einem meiner ersten Besuche hielt er einmal einen Vortrag über die zwei Lebenslügen. Die erste sei die eigentliche Lüge, die zweite die Behauptung, dass man keine habe. Ich musste den Vortragsraum verlassen, bin in den Garten gegangen und habe Rotz und Wasser geheult. Was er da gesagt hatte, war einfach wahr. Das war eine der Stellen, wo ich angefangen habe, ihm zu vertrauen.
Ich war schon immer rebellisch gewesen. Unwahrheiten sind mir ein Gräuel. Ich rieche sie. Und davon gibt es viele in unserer Welt. Aber ich hatte gelernt, nichts mehr anzusprechen, weil das nichts bringt, höchstens noch mehr Streit. So war ich selbst unwahr geworden. Und das hatte ich in diesem Moment erkannt. Ich selbst bin die Ursache für den Krieg, aber nicht ich als kleiner Mensch mit einer persönlichen Geschichte, sondern ich als Beispiel Mensch.
Ich kenne Dieter Duhm nun schon viele Jahre und kann sagen: Er ist das Gegenteil von einem Sektengründer. Er hat sich immer geweigert, die Rolle eines Gurus anzunehmen. Ich kenne kaum einen Menschen, der so frei von Machtstrukturen ist wie er. Gut, das kann ich sagen, aber das überzeugt diejenigen nicht, die anders denken. Wenn ich viel schlimme Presse über jemanden höre, muss ich schon eine starke Urteilskraft in mir versammeln, um mir zuzutrauen, mir ein eigenes Bild zu machen.
Dieter Duhm hat sein Projekt von Anfang an auf dem Gedanken aufgebaut, dass ein charismatischer Gründer abgelöst werden muss. Er war ja auch nicht der alleinige Gründer. Seine Partnerin Sabine Lichtenfels spielt da ja auch eine große Rolle.
Aber grundsätzlich geht eine Gemeinschaft zugrunde, wenn ihre charismatische Führungsfiguren verschwinden. Dann ist sie eben kein neuer Gesellschaftsentwurf, sondern eine vorübergehende Episode mit wenig Bedeutung. Und das zu hören, hat mein Vertrauen gestärkt. Mich aber auch vor die Herausforderung gestellt, mich zu entwickeln.
Was antwortest du Menschen, die Tamera vorwerfen, ihr seid eine Sekte?
Es gibt eine Ebene, da kann ich gar nichts darauf antworten, denn was immer ich sage, wird mir falsch ausgelegt. Aber wer es wirklich wissen will, dem kann ich sagen, lies doch bitte die Grundgedanken, die Dieter Duhm in vielen Stellen seiner Büchern aufgeschrieben hat. Zum Beispiel zum Problem der Demokratie, zur Fixierung auf eine Führungsfigur oder warum wir, die wir in kleinfamiliären Strukturen aufgewachsen sind, so eine Mühe mit positiven Autoritäten haben. Sich nur gegen Autoritäten aufzulehnen ist keine Befreiung. Wirkliche Emanzipation ist es, wenn man sich neben einer starken Autorität zur eigenen Autorität entwickeln lernt. Und diese Richtung wurde hier immer unterstützt.
Im Jahr 2003 habe ich einmal eine Friedenstournee durch Deutschland und die Schweiz mit israelischen und palästinensischen Musikern und einer Theatergruppe aus Tamera organisiert. Kurz bevor sie losgehen sollte, begann eine Diffamierungswelle, weil Tamera angeblich eine Sekte sei. Die meisten Veranstaltungsorte haben uns daraufhin die Räume gekündigt. Wir hatten ja alles nur per Handschlag gemacht. Das war heftig. Wir mussten innerhalb kurzer Zeit alles neu aufbauen.
Ich habe daraufhin das Kapitel „Der Sektenhammer“ aus Dieter Duhms Buch „Die heilige Matrix“ an alle Menschen geschickt, die involviert waren, Beratungsstellen, Kirchen, Veranstalter et cetera und sie gefragt, ob jemand, der so ein Kapitel schreibt, das getan haben kann, was man ihm vorwirft. Ich weiß nicht, ob es viel geholfen hat. Ein Pfarrer hat sich jedenfalls später bei uns entschuldigt, er habe nicht anders handeln können. Der Druck von oben sei zu stark gewesen.
Das alles entkräftet aber nicht das Misstrauen, das Menschen gegenüber Tamera haben könnten, weil sie doch an das glauben, was die normale Presse so schreibt oder geschrieben hat. Heute wird den Menschen ja immer mehr bewusst, wie viele Lügen verbreitet werden können.
Und so kann ich vielleicht nur humorvoll sagen: Tamera ist keine Sekte, weil man so gut wie nicht mehr reinkommt, aber leicht wieder aussteigen kann.
Wie war es dann, in Gemeinschaft zu leben? Entsprach es deinen Erwartungen?
Als Erstes habe ich erkannt: Wir alle wurden zu asozialen Menschen erzogen. Wir glauben, wenn wir etwas wegwerfen, wird’s die Müllabfuhr schon wegmachen. Oder: Alte Menschen gehören ins Altersheim, Kranke ins Krankenhaus. Man lagert alles irgendwo aus.
Gemeinschaft heißt, die Belange wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Man muss lernen, gemeinschaftsfähig zu werden, also zum Beispiel so einfache Dinge zu machen, wie den Mülleimer auszuleeren, wenn das zur Spülschicht gehört. Das sind keine moralischen Pflichten, sondern man lernt, dass man sich letztlich nur selbst schadet, wenn man unangenehme Dinge anderen überlässt. Denn die anderen sind keine anonymen Institutionen, sondern Menschen, denen du vertrauen möchtest. Und Vertrauen hat etwas damit zu tun, dass du selbst vertrauenswürdig wirst.
In einer guten Gemeinschaft gibt es eine sofortige und unmittelbare Rückkoppelung. Sie wird so zu einer Lehrstätte für ethisches Verhalten. In unseren modernen Gesellschaften gibt es dieses Organ nicht mehr. Das Zusammenleben wird durch äußeren Druck geregelt, durch Gesetze, Strafen, durch Moral. Das aber führt immer dazu, dass Menschen die Gesetze heimlich brechen und unterwandern. Es fehlt ein wichtiges Organ, was hier eine Veränderung bewirken könnte.
Wie ist das mit der individuellen Freiheit? Was tut ihr, wenn zum Beispiel jemand aus der Gemeinschaft eine ganz eigennützige Reise in die Karibik machen will?
Also, es gab einen solchen Fall. Eine schwangere Frau wollte in die Karibik, um dort mit den Delfinen zu schwimmen. Es fiel ihr nicht schwer, die ganze Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist. So eigennützig war die Idee nämlich nicht. Es war ein Liebesbild, was wir alle sofort verstanden haben. Und so bekam sie den „Segen“ und fuhr mit dem Vater ihres Kindes in die Karibik. Wo Liebe ist, will man es ja unterstützen. Das hat allen gut getan. Ihre Erfahrung kam allen zugute.
Ein Leben in Gemeinschaft erfordert auch, an sich selbst zu arbeiten, oder? Was bedeutet das?
Ich habe schon gesagt, dass man zunächst einmal erlebt haben muss, wie asozial man geworden ist. Das ist ein erster Schock, denn man hat sich ja für einen „entwickelten“ Menschen gehalten. Aber damit ist man gerade mal an der Oberfläche angekommen, und die Arbeit an sich selbst geht Schicht um Schicht in die Tiefe. Diese Arbeit macht niemand freiwillig. Man muss sie wollen.
Man braucht den Druck oder die Spiegel von außen, aber ohne innere Bereitschaft können sie nichts ausrichten. Wir brauchen den richtigen geistigen Rahmen für diese Arbeit. Denn wir alle kommen unweigerlich an eine undurchdringliche Wand in unserem Inneren, an eine Schutzschicht. Da steht in dicken Buchstaben: Bis hierhin und nicht weiter. Niemand darf mehr eine alte Wunde berühren, niemals wieder soll sich eine alte Verletzung wiederholen. Diese Wunde liegt ganz oft im Bereich von Liebe und Sexualität. Wir sind da hyperempfindlich, da braucht nur jemand uns gegenüber einen falschen Ton anzuschlagen, hauchdünn daneben, und du bist für Monate beleidigt, wütend, im Widerstand.
Diesen Widerstand kannst du nur in einem Milieu des Vertrauens auflösen. Also du kannst nicht jemandem sagen: „Du arbeitest ja nicht an dir“, sondern du kannst nur sagen: „Ja, er oder sie hat noch nicht genug Vertrauen, um sich zu öffnen“. Man muss zur gleichen Zeit tolerant und streng sein können. Da streng sein, wo es stimmt, wo es hilft, wo der andere diese Kraftzufuhr braucht, die er durch meine Strenge erhält, und da tolerant sein, wo Güte und Weichheit angesagt sind. Du kannst nie alle über einen Kamm scheren. Das muss man im Verlauf der Zeit lernen.
Das Krisengebiet unserer Zeit ist die Beziehung unter uns Menschen. Wenn diese Beziehung in Ordnung wäre, ich meine jetzt generell, überall, würde eine Gesellschaft es nie zulassen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder irgendwo ein sinnloser Krieg ausbricht.
Wie soll diese Beziehung denn in Ordnung kommen? Wir können ja nicht alle Menschen zwingen, wieder gemeinschaftlich zu leben ...?
Natürlich nicht. Ich möchte darauf erst mal mit einer Frage antworten. Gibt es einen Ausstieg aus dem System der Gewalt, nicht nur individuell, sondern kollektiv, als Gesellschaft? Diese Frage wird nicht gestellt, weil der Unglaube so groß geworden ist. Man kann so wenig an eine Veränderung in diesem Bereich glauben, dass man schon die Frage „überhört“. Man möchte ja nicht unhöflich sein. Aber bestimmte Dinge gehen einfach nicht. Das haben wir früh gelernt.
Die Liebe geht nicht. Das wirst du schon früh genug herauskriegen. Krieg ist der Vater aller Dinge. Gewalt hat es schon immer gegeben, man braucht doch nur ins Tierreich zu schauen. Im technologischen Bereich ist der Mensch ganz vorn; ungebremst versucht er alles, was ihm möglich erscheint, ob uns die Richtung, in die das Ganze geht, gefällt oder nicht.
Im Bereich der Technik werden dauernd Grenzen verschoben und Dinge möglich, die vor wenigen Jahren noch unmöglich erschienen. Im sozialen und gesellschaftlichen Bereich dagegen glauben wir an nichts.
Ja, so ist auch meine Erfahrung. Wenn ich versuche, mit anderen über Auswege nachzudenken, lenkt mein Gegenüber das Gespräch immer wieder auf die Dinge, die nicht gehen, und erklärt mir, wie naiv und utopisch meine Sichtweise ist.
Ja, das kenne ich. Der Dalai Lama hat einmal sinngemäß gesagt, dass ein großes Herz ohne Geist schwach ist. Wir müssen unserem Herzen, unserem naiven Herzen, den Geist zu Seite stellen, unsere Denkkraft. Die Liebe braucht ein politisches Konzept und eine Strategie, damit sie durch diesen betonierten Unglauben durchkommt. Der Unglaube ist ja nicht ein menschliches Versagen, auch keine Dummheit, er ist die Folge einer grausamen, wirklich fürchterlich grausamen Geschichte, aus der wir alle kommen. Wir sind gebrannte Kinder. Deswegen glauben wir hier an nichts. Es nutzt nichts, wenn wir uns hier gegenseitig Vorwürfe machen.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wenn wir eine Zukunft ohne Krieg und ohne Gewalt wirklich aufbauen wollen, finden wir auch den Weg. Wir finden dann heraus, dass wir tatsächlich mit allem verbunden sind, was auf dieser Erde geschieht, auch wenn wir es nicht direkt merken. Es ist nicht nur ein esoterischer Spruch. Es stimmt!
Der Schmerz, der zum Beispiel den Tieren in den Schlachthöfen zugefügt wird, ist unser Schmerz. Aber auch der Schmerz der Kinder, die ihre Eltern im Krieg verlieren. Wir wollen diesen Schmerz nicht fühlen, deswegen bleiben wir hartnäckig an der Oberfläche unseres Lebens. Das ändert aber nichts. Wir können lange verdrängen, aber irgendwann geht es nicht mehr. Irgendwann müssen wir hinschauen und wollen auch hinschauen.
Und dann merken wir, dass sich etwas rührt in unserem Herzen, es wird warm. Wie lange hatten wir es verschlossen! Aber jetzt kommt das Leben zu uns zurück. Wir können wieder mitfühlen. Wenn wir diesen Wärmestrom in uns wahrnehmen, wissen wir: Wir sind auf dem Weg, der uns hinausführt aus dem System der Gewalt. Wir erobern uns das Leben zurück.
Und auf einmal entdecken wir eine Wunderwelt. Sie war die ganze Zeit da, aber wir haben sie gewohnheitsmäßig übersehen. Sie ist die Welt der Heilung, der Versöhnung, der Liebe und der großen Visionen. Sie enthält unendlich viele Möglichkeiten, die wir ergreifen können. Es gibt überall Lösungen, wenn wir unser Blickfeld erweitern und sehend werden. Es ist eine ganz andere Wirklichkeit als das, was wir vorher „Realität“ nannten. Wenn wir als Menschheit überleben wollen, müssen wir mit dieser anderen Wirklichkeit und ihren Kräften kooperieren. Dazu müssen wir sie wahrnehmen, ihre Logik studieren und ihr gemäß leben lernen.
Dazu bieten wir online und vor Ort Seminare an, um unser Wissen nach 40 Jahren Forschungs- und Netzwerkarbeit mit Menschen aus Krisengebieten, Gemeinschaften und aus ganz „normalen“ Lebensumfeldern in der ganzen Welt an all diejenigen zu vermitteln, die ihre Energie der Überwindung von Krieg und Gewalt widmen möchten.
Ja, mir persönlich haben eure Weiterbildungen sehr geholfen, mein Wissen in Bezug auf Friedensarbeit und Möglichkeiten zu erweitern. Bei euch traf ich auf eine wahre Fundgrube an Informationen für unsere „Mutredaktion“, wie die vielen Beiträge, die ich inzwischen zu eurem Projekt gemacht habe, zeigen.
Eine Journalistin sollte „neutral“ berichten, heißt es. Ich persönlich halte es eher mit Transparenz, denn Neutralität ist eh eine Illusion. Am Ende kann sich jeder ein eigenes Bild von eurem Schaffen machen, aber dafür müssen die Menschen erst einmal wissen, dass es euch gibt und was ihr überhaupt macht.
Danke für das Interview.
Quellen und Anmerkungen:
Vom 4. bis 8. Oktober 2023 findet in Schönsee in der Nähe von Regensburg das Seminar „Globale Revolution und Heilung der Liebe“ statt. Weitere Informationen finden Sie hier: Nature Community. Die Kursgebühr beträgt zwischen 260 und 400 Euro, je nach Einkommen.
Von Monika Alleweldt erschien das Buch „Die globale Befreiung von Angst und Gewalt“. Hier können Sie das Buch bestellen: verlag-meiga.org.
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