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Die Abschaffung des Individuums

Die Abschaffung des Individuums

Der moderne Mensch trägt sein Innerstes zu Markte und lässt sich von Algorithmen steuern.

Metaverse, Mikrochips, Massenüberwachung. Ich frage mich: Wie viel kann ein Mensch von sich preisgeben, ohne sich selbst zu verkaufen? Wo ist die Grenze zwischen selbst verschuldeter Unmündigkeit und totalitärer Knechtschaft? Wann sind wir so mundtot, dass wir anfangen zu schreien? Eigenverantwortung oder Abhängigkeit?

Gerade jetzt, wo eine Digitale ID als unabdingbar erklärt wird, um überhaupt noch als Mensch anerkannt zu werden, gilt es eine Entscheidung zu treffen. Es ist die Suche nach der Antwort darauf, wer wir sein und auf was wir unsere Freiheit und Identität gründen wollen.

„Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er
noch einen Pass dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.“
— Stefan Zweig, 1941 in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.“

Identität, wer braucht das schon?

Vergegenwärtigt man sich der Übergriffigkeit unserer Zeit, könne man meinen, wir werden von Eliten dirigiert, deren Mitglieder zumindest auf seelischer Ebene diesen Planeten schon lange verlassen haben. Psychopathen, Neurotiker, Narzissten — möge man sie nennen, wie es einem gerade passt. Für mich sind das nekrophile Gestalten, die auf Grundlage von Besitzeifer, Ruhmessucht und Machtstreben einen faustischen Pakt eingegangen sind und seither mit diabolischen Kräften hantieren.

Sie sind so sehr auf das Haben fokussiert, dass die Ausdehnung ihres Besitzbereiches die Welt als solche zur Projektionsfläche ihres materialistischen Selbstbildes werden lässt. Dieser Zwang, allen irdischen Gütern einen Preis als Äquivalent zu setzen, geht zuweilen so weit, dass der Mensch selbst als Ware gehandhabt wird. Er wird zum bloßen Mittel degradiert, zum leeren Behälter, in den hineingefüllt werden darf, was man eben gerade als passend erachtet.

So wird beispielsweise seine Individualität als Hindernis für die vom Markt gewünschte Gleichförmigkeit erklärt: Die Entwicklung und Entfaltung seines eigenen Selbst gilt fortan nicht mehr als „die größtmögliche Leistung eines Menschen“ (1), sondern wird als sonderbar bis störend stigmatisiert. Die Idee der „Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und der Gesellschaft“ wird zum Begriff „Fortschritt“ degradiert. Es geht um die Verbesserung der Dinge, nicht um die Verbesserung des Menschen.

Dementsprechend gilt, dass die Verinnerlichung dieses marktorientierten Gesellschaftscharakters dem Menschen weit mehr als seine Individualität zu rauben vermag: Indem er seine „Fähigkeit, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen und die dem individuellen und gesellschaftlichen Leben zugrunde liegenden Kräfte zu verstehen“ (2) zusehends entwertet, schwindet gleichsam seine Vernunft dahin. Unter Beeinflussung seines Denkens und Fühlens wird er austauschbar. Er wird zum Rad in jener Maschinerie, deren Denken er adaptiert hat.

Kulturindustrie und Pseudoindividualität

Der vom Menschen angestrebte Individualismus endet somit nicht in Selbstverwirklichung, sondern in Selbstdarstellung. Frei nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer hat der Mensch im Zuge seines technischen Fortschreitens eine industriell gesteuerte Form von Kultur geschaffen. In dieser wird nicht mehr das als cool angesehen, was anders und vielleicht etwas wunderlich ist; cool ist einzig das, was einem starren Schema entsprechend als normenkonform und somit begehrenswert erscheint.

Massenkultur heißt folglich nicht Masse an Vielfalt, auch nicht Pluralismus. Massenkultur bedeutet Monopol.

Die Kulturindustrie lebt von der Reproduzierbarkeit der Dinge, nicht von ihrer Einzigartigkeit. Sie verleugnet all das, was abweicht und anders ist, so lange, bis es nicht mehr anders, sondern gleichförmig ist. Ziel ist die reibungslose Integration ins Produktionssystem — auch des Menschen. Auf sein Dasein als Käufer und Konsument reduziert, bleiben ihm langfristig nicht nur kein Raum und keine Abnehmer mehr für seine Fantasie und Gedankenvielfalt; ihm wird gleichzeitig eingetrichtert, das Abtreten seiner individuellen Neigungen, Wünsche und Wahrheiten sei die Bedingung des Lebens in dieser Gemeinschaft. Das Brechen seines individuellen Widerstandes wird dazu benutzt, die Idee vom Gemeinwohl umzukehren.

Was hier stattfindet, ist nicht Individuation, sondern Matrix und Filterblase. Aufklärung und Rationalisierung sind innerhalb der Kulturindustrie nichts weiter als Massenbetrug. Der Mensch wird in die Ferne von all dem gerückt, was ihn dazu bewegen könnte, sich selbst näher zu kommen. Man lenkt ihn ab, indem er in den Sog des Marktes gezogen wird: Wo einerseits die Statussymbolik von Produkten einen Drang und Zwang nach Zugehörigkeit entstehen lässt, wird andererseits Kleidung produziert, die einem jeden ermöglicht, sich als besonders individuell zu fühlen, auch wenn am Ende alle denselben Kram kaufen. Der Mensch wird so stetig mit Zeug überhäuft, dass er keine Zeit mehr dazu hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Insofern diese Idee, ein schablonenartiges „Individuum” zu schaffen, schon immer mit Repression und Gleichschaltung verbunden war, ist es nicht anmaßend, die Kulturindustrie als das Gegenteil von Freiheit anzusehen. Sie versucht nicht, das Individuum zu fördern, sondern es abzuschaffen. In dieser Intention, alles Fremd- und Andersartige auszuschalten, führt sie einen derartigen Betrug am Menschen aus, dass dieser deutlich in Richtung Faschismus oder Stalinismus zeigt.

„Der homo consumens lebt in der Illusion, glücklich zu sein, während er unbewusst unter Langeweile und Passivität leidet. Je mehr Macht er über Maschinen besitzt, um so machtloser wird er als menschliches Wesen; je mehr er konsumiert, um so mehr wird er zum Sklaven der ständig wachsenden Bedürfnisse, die das Industriesystem erzeugt und manipuliert. Er verwechselt Sensationslust und aufregende Erlebnisse mit Freude und Glück und materiellen Komfort mit Lebendigkeit. Die Befriedigung seiner Gier wird zum Sinn seines Lebens, das Streben danach wird zu einer neuen Religion. Die Freiheit zu konsumieren wird zum Wesen der menschlichen Freiheit“ (3).

Entindividuation als Bewusstseinskrise

Die „Identitätskrise“ der Moderne scheint sich demnach darin zu begründen, dass der Mensch seinen Sinn für das Sein verloren hat. Seine materialistische Kultur mag ihn als „reich” erscheinen lassen, innerlich aber ist er verarmt: Während die Dinghaftigkeit den einstigen Platz von Zwischenmenschlichkeit einnimmt, redet er von Freiheit und Individualität — stets in dem Glauben, er würde es sein(4). Seines Selbst- und Wirklichkeitssinns beraubt, findet er einzig Geschmack an dem, woran man ihm rät, Geschmack zu finden — stets in dem Glauben, seinem eigenen Geschmack zu folgen. Unfähig, sich auf Höheres zu berufen, kapituliert er vor einer Existenz ohne Geist und ohne Glauben oder Hoffnung auf ein Leben danach.

Unserer geistigen Antennen beschnitten und dementsprechend wesenstaub und entindividualisiert erkennen wir meist zu spät, dass dort, wo kein Selbst existiert, es auch keine Identität geben kann.

Dort, wo unser Eigentum uns und unsere Identität begründet, hören wir auf, Subjekt zu sein. Wir werden, was wir haben: Objekte.

Und sobald wir nicht mehr sind, sondern nur noch haben, bleibt uns einzig das „Ding” als Basis unserer Identitätserfahrung. Solange wir im Haben leben, können wir uns dank der Dinge einen Wert zuschreiben. Und solange wir uns mittels der Dinge einen Wert leihen können, müssen wir unserem Leben nicht selbst einen Sinn verleihen.

Kollektive Selbsttranszendenz

Dabei sollte als des Menschen letztendliches Ziel, als Sinn seines Seins, verstanden werden, seiner Wirklichkeit und dem eigenen Sein selbst einen Sinn zu verleihen. Das heißt, sich weder manipulieren noch materielle Ziele zum Lebensinhalt werden zu lassen, sondern die eigene Individualität vor jegliche Uniformität zu stellen und sich somit von jeglichen politökonomischen Fesseln zu befreien.

Zumindest war dies die Idee von Demokratie: Den Menschen sich selbst „von seiner Armut, seiner Unwissenheit und der Ungerechtigkeit befreien“ (5) zu lassen. Die Idee, dass die Vervollkommnung des Menschen nicht in seinem Haben, sondern einzig in seinem Sein zu finden ist.

Einen ähnlich radikalen Personalismus vertrat auch Johann Gottfried Herder: Insoweit sich Identität vorrangig über die Differenzerfahrung herauskristallisiert, plädierte er für eine Vereinigung des Einzelnen in der Gemeinschaft. Diese Einbettung befähige das eigentliche Individuum dazu, jenes schöpferische Prinzip am eigenen Leib zu erfahren. Es ergebe sich nicht bloß eine Summe von Menschen, sondern eine Art größeres Individuum. Ein organisches Gewebe, das durch das Zusammenwirken aller Geister eine solche Lebensenergie entfacht, aus der jeder seinen individuellen Lebenskeim entfalten kann. Somit gab es für Herder einerseits die Menschheit als abstrakte Größe, aber andererseits auch die Menschheit, die jeder in sich achten und zur individuellen Gestalt bringen kann.

Schließlich ist der Mensch nicht dazu bestimmt, als ein von fremden Machtinteressen verwaltetes Objekt zu existieren. Seine Vervollkommnung ist nicht in seinem Haben, sondern einzig in seinem Sein zu finden.

Das heißt, einzig in Form der selbsttätigen Persönlichkeit, die ihre Liebe und Vernunft aus sich selbst heraus zu entwickeln versucht. Hier wohnt dem Menschen auch seine Fähigkeit zur Transzendenz inne: Er kann über sich hinaus auf etwas verweisen, sich allein durch das, was er ist, einen höheren Sinn verleihen.

Erst indem er über sich selbst hinausgeht, sich der Welt öffnet, kann er ganz Mensch werden. Insofern es demnach darauf ankommt, „dass der Mensch viel ist, nicht dass er viel hat“ (6), müsse er, um aus sich herauszutreten, zuerst ganz leer werden, aufhören, sich über seinen Besitz zu definieren, und sich stattdessen vollends in das Sein begeben.

Einzig in der Existenzweise des Seins, so Erich Fromm (7), ließen sich die Fragen danach, wer ich bin, wenn ich bin, was ich habe und dann verliere was ich habe, als Dasein eines besiegten, gebrochenen und erbarmenswerten Menschen und somit als Zeugnis einer falschen Lebensweise auffassen. Erst indem der Mensch aufhört, seine Existenz, seine Identität, sein Sein an sein Haben zu binden, kann er aufhören, in Sorge um sein Sein zu leben. Ein Mensch, der im Sein lebt, braucht keine Angst davor zu haben, zu verlieren, was er ist. Alles Sein kann er sich nur selbst geben. Alles Sein kann er sich nur selbst nehmen. Alles Sein hängt von ihm ab. Alles Sein ist er selbst.

Die Individuation aller Werte

Versucht man infolgedessen, den Menschen auf ein neues Wertepodest zu heben, sei zuvor daran erinnert, dass sowohl unsere Identität und Haltung als auch unsere Gesinnung richtungsweisend dafür sind, was unsere Wertevorstellungen ausmacht: Die Individualität bestimmt unser gesamtes Welt- und Selbstverhältnis. Sie gibt die Struktur vor, in der wir vermögen, die Welt zu verstehen und uns zu verorten. Indem sie sich nur im Bezug auf einen Beobachter offenbart, der sich selbst als Individuum versteht, zeigt sie, dass Weltdeutung nur auf dem Weg der Selbstdeutung möglich ist. Ihr Dasein ist das normierende Ziel alles menschlichen Handelns. Sie ist Anfang und Ende zugleich. Ein Mensch, der weder einen Begriff von sich selbst noch von irgendwelchen Dingen entfaltet, bleibt auf ewig selbst- wie weltlos.

Wer sich mit Konsum statt Persönlichkeit zu füllen versucht, verliert seine innere Orientierung, seinen Halt. Und insofern erst aus der Individualität der eigenen Identität die Bedingungen für das entspringen, was wir als Umwelt anerkennen sowie innerhalb dieser als Problem deklarieren, kann ohne Identität auch keine eigenständige Problemanalyse stattfinden.

Ein entindividualisierter Mensch kann folglich nicht nur kein eigenes Wertesystem aufstellen, er ist zugleich anfällig für jede Form von Fremdsteuerung und Manipulation. Er besitzt schlichtweg keinen Radar für Faschismus, technokratische Fehlentwicklungen oder mafiöse Strukturen, die als Meritokratien im Hintergrund des Geschehens herumwabern. Seines eigenen Inhalts entkernt, verfügt er über keinerlei Sinn mehr für die Integrität jenes „Fortschritts“ oder jener „Sicherheit“, die man ihm als notwendig versucht zu unterbreiten. Ihm lässt sich alles verkaufen, solange es nur die richtigen Deklarationen trägt und er nicht merkt, dass die „allgemeine Nützlichkeit“ ihn nicht mit einschließt.

Demnach scheint es einleuchtend: Insofern „eine gesunde Wirtschaft nur um den Preis kranker Menschen möglich ist”, ist die freie Entfaltung des Menschen nur durch Überwindung seines Konsumismus zu erzielen. Sprich: Nur wenn sich die Art und Weise, wie wir Wert definieren, von Grund auf ändert, ist es möglich, eine „gesunde Wirtschaft für gesunde Menschen zu schaffen“ (8). Solange wir uns nicht darüber bewusst werden, dass aktuell nicht wir diejenigen sind, die über unsere Werte bestimmen, wird unser eigentliches So-Sein auf ewig unterdrückt bleiben.

Erst in der Erkenntnis, dass unser Versuch, Leere mittels Konsumismus zu füllen, nur dazu führt, selbst konsumiert zu werden, eröffnet sich jener Freimut, durch den sich unabhängige Wertesysteme konstituieren lassen, die uns von Fiktionen und Unwirklichkeiten emanzipieren und in letzter Instanz zu uns selbst finden lassen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik. Unter Mitarbeit von Paul Stapf und Ignaz Mühsam. Stuttgart, Konstanz: Diana Verlag 1954, Seite 89.
(2) Fromm, Erich: Den Vorrang hat der Mensch! In: Erich Fromm: Über den Ungehorsam und andere Essays. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985, Seite 78.
(3) Fromm, Erich: Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie. In: Erich Fromm: Über den Ungehorsam und andere Essays. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1985, Seite 78.
(4) Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Stein, überarbeitet von Rainer Funk. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, neu bearbeitete Auflage (Weltperspektiven) 1979, Seite 75.
(5) Fromm, Erich: Den Vorrang hat der Mensch! In: Erich Fromm: Über den Ungehorsam und andere Essays. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985, Seite 74.
(6) Karl Marx zitiert nach Fromm, Erich: Zum Problem einer umfassenden philosophischen Anthropologie. In: Erich Fromm: Über den Ungehorsam und andere Essays. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985, Seite 66.
(7) Fromm, Erich, 1979, Seite 110.
(8) Fromm, Erich: Leben zwischen Haben und Sein. Freiburg im Breisgau, Basel, Wien: Herder Verlag, 1993, Seite 137.


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