In Pommern geboren und im mecklenburgischen Güstrow aufgewachsen, war Johnson ein typisches Kind der jungen DDR, deren Gründungsmythos die Schaffung eines „besseren Deutschlands“ war. Durch konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit sollte eine Veränderung des Bewusstseins bewirkt und der Nationalsozialismus in den Köpfen der Menschen überwunden werden. Dabei stand insbesondere diejenige Generation im Fokus, die das Kriegsende als Kind erlebt hatte und die man nun zu Funktionsträgern der kommunistischen Ideologie erziehen wollte.
Um nichts weniger ging es als um die Wiedergutmachung der historischen Schuld. Der Antifaschismus wurde kurzerhand zur Staatsdoktrin erklärt, und tatsächlich hatte die beständige Proklamation höchster Ideale zunächst eine allgemeine Stimmung des Aufbruchs zur Folge, der sich kaum jemand entziehen konnte. Plötzlich stand wieder eine zukunftsorientierte Perspektive im Raum, an deren Verwirklichung alle Bürger teilhaben sollten. Auch der junge Uwe Johnson war bereit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und engagierte sich, angetrieben von dem Wunsch nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit, im „Kulturbund zur Erneuerung Deutschlands“ und in der „Freien Deutschen Jugend“.
Schon bald erwiesen sich die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit allerdings als unübersehbar. Der Preis für die von der DDR-Führung verordnete „Moral des neuen Menschen“ war Gesinnungsschnüffelei und die systematische Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender.
Im Jahr 1950 — da war Johnson sechzehn Jahre alt — fand in seiner Heimatstadt Güstrow ein Schauprozess gegen eine Gruppe von Schülern statt, die auf Flugblättern freie Wahlen gefordert hatte und an der nun ein Exempel statuiert werden sollte. Dieser Vorfall, der sich an seinem eigenen Gymnasium zugetragen hatte, sollte Johnsons Vertrauen in den Staat unwiderruflich zerstören. Er legte alle seine Ämter nieder und konzentrierte sich von nun an auf das, was er als seine Bestimmung erkannt hatte, die Literatur — zunächst als Leser, dann als Student der Germanistik in Rostock und Leipzig und schließlich als Schriftsteller, der sein Thema, die Verstrickung individuellen Lebens in die Geschichte, nicht hatte suchen müssen, weil es in seiner Biographie bereits vorgegeben war.
Niemals würde er seine geistige Unabhängigkeit wieder aufgeben und sich von einem Kollektiv vereinnahmen lassen. Er hatte seine Lektion gelernt. Seine Hoffnungen richteten sich nun auf das Studium, doch auch an der Universität machte sich bald Ernüchterung breit. Die ideologische Überfrachtung der Inhalte lag offen zutage und war schnell durchschaut. Was es mit der Literatur auf sich hatte, würde ihn die Universität nicht lehren, er musste es schon selbst herausfinden.
Im zweiten Studienjahr begann Johnson mit der Niederschrift seines ersten Romans Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Alle Versuche, die er in den folgenden Jahren unternahm, um einen Verlag für sein Buch zu gewinnen, scheitern jedoch. Erst 1985 wurde der Roman posthum veröffentlicht.
Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Repräsentanten und Kritikern des Regimes, die in einer Abiturklasse eskaliert waren, verdichten sich in seinem Erstlingswerk zu einer zeitlosen Parabel über Zivilcourage. Einen Tag vor den Abiturprüfungen wird die Protagonistin Ingrid Babendererde aufgrund ihres unerschrockenen Auftretens der Schule verwiesen, woraufhin sie ein klares Zeichen setzt und der DDR den Rücken kehrt. Ihre persönliche Reifeprüfung hatte keine Schulbehörde diktiert, sondern das Leben selbst.
Anpassung oder Eigensinn — dies war die entscheidende Frage, welcher keiner der Protagonisten seiner zukünftigen Romane würde ausweichen können. An der Bereitschaft, für die eigenen Prinzipien einzustehen, würde Johnson sich selbst und die Menschen seines sozialen Umfeldes zeitlebens messen. Diese Kompromisslosigkeit ist das Herzstück seines Werkes, ist Verdienst und Begrenzung zugleich.
Ein Etikett war rasch gefunden: Johnson war nun — und würde es immer bleiben — der „Dichter der beiden Deutschland“. Auf jemanden mit seiner Biographie schien der Kulturbetrieb gewartet zu haben — ein Dissident aus Ostdeutschland, dessen komplexe Erzähltechnik sich nicht am „sozialistischen Realismus“ orientierte, sondern eine eigenwillige Variante der literarischen Avantgarde darstellte.
Es hätte der Beginn einer Erfolgsgeschichte werden können. Dass es anders gekommen war, dass sich in den äußeren Ruhm schon früh Schwermut und Bitterkeit gemischt hatten, liegt darin begründet, dass Johnsons Persönlichkeit keineswegs dem entsprach, was man von einem Exponenten der literarischen Elite des Landes selbstverständlich erwartete. Sein linkisches Auftreten und sein behäbiger Sprachduktus ließen ihn fremd wirken in einem Milieu, in dem es neben literarischem Talent maßgeblich darauf ankam, sich in jeder Situation möglichst vorteilhaft in Szene zu setzen. Dieses Spiel konnte und wollte der Wahrheitsfanatiker Johnson, der jedes Wort, bevor er es aussprach, auf die Goldwaage legte, nicht mitspielen.
Zwar waren ihm, zumal in der ersten Zeit im Westen, durchaus eine Reihe von Privilegien, wie etwa das renommierte Stipendium der Villa Massimo in Rom, zuteilgeworden, gleichzeitig hatte er aber auch die Schattenseiten öffentlicher Aufmerksamkeit erfahren müssen.
Nach dem Erfolg der Mutmaßungen über Jakob, der erst durch eine massive Werbekampagne des Verlags überhaupt möglich gewesen war, erwartete dieser von seinem Autor, um die Kosten wieder einzuspielen, ein zweites, mindestens ebenso einträgliches Werk. Johnson musste nun liefern, wofür man ihn bezahlte, und das war ein weiteres Buch über die deutsche Teilung.
Zwei Bücher hat er noch zu dem Thema, für das er mit seiner Biographie in der Öffentlichkeit bürgte, geschrieben: Das dritte Buch über Achim im Jahr 1961 und Zwei Ansichten im Jahr 1965. In keinem von beiden war es ihm jedoch gelungen, dieselbe Intensität zu erzeugen, mit der er in den Mutmaßungen die Geschichte seines Alter Egos, des Eisenbahners Jakob Abs erzählt hatte, „der immer quer über die Gleise gegangen war“.
Die innere Notwendigkeit, aus der heraus er das kurze Leben eines Mannes gestaltet hatte, dessen Prinzipien unvereinbar gewesen waren mit denen des Staates, in dem er lebte, war künstlich nicht noch einmal herzustellen.
Betrachtet man die Fotos aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre, dann kommt man nicht umhin zu bemerken, wie rasant Johnson in dieser Zeit gealtert ist. Meist blickt er am Auge der Kamera vorbei, als wäre er am liebsten unsichtbar.
Der Umzug in den Westen hatte ihm kein Glück gebracht. Von den Lebens- und Umgangsformen, die in der Bundesrepublik herrschten, fühlte er sich abgestoßen. Für jemanden wie ihn, der langsam dachte und schwer lebte, war der Warencharakter, der die Beziehungen der Menschen untereinander zu einem Geschäftsmodell degradierte, keine Alternative zur ideologischen Abrichtung der DDR-Bürger.
Der allgemeinen Erwartung, dass er als ausgewiesener Kritiker der DDR ein Bekenntnis zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik ablegen würde, konnte und wollte er nicht entsprechen. Seine Kritik am real existierenden Sozialismus und am Kapitalismus westlicher Prägung war gleichermaßen vernichtend.
Johnson setzte sich, weil er nicht anders konnte, zwischen alle Stühle — eine unbequeme Position, in der er sich keine Freunde machte. In einem Jahrzehnt, in dem der kalte Krieg permanent zu eskalieren drohte und klare Positionierungen angesagt waren, wurde es immer schwieriger, einen eigensinnigen Schriftsteller wie ihn zu vermarkten. 1966 bekam er durch Vermittlung seiner amerikanischen Verlegerin Helen Wolff gleichwohl das Angebot, zunächst als Schulbuchlektor und später mit einem Rockefeller Stipendium nach New York zu gehen. Zwei Jahre lang lebte Johnson mit Frau und Kind in einer der besten Wohngegenden der Stadt, dem Riverside Drive in Manhattan. Hier begann er mit der Niederschrift seines Romans Jahrestage, der als Summe dessen gelesen werden kann, was er der Welt über die Welt mitzuteilen hatte.
Amerika — auch für den, der es natürlich besser wusste, schwang in diesem Klang immer noch jenes unabgegoltene Versprechen mit, das tief im kulturellen Gedächtnis Europas verankert ist. „Amerika war ein Gerücht“, hatte Uwe Johnson damals in seiner unterkühlten Art einem Journalisten der New York Times gesagt, „ich kam hierher, um es zu überprüfen“.
Tatsächlich waren die USA zum damaligen Zeitpunkt ein von Krisen geschütteltes Land, in dem de facto ein Apartheitsystem herrschte und das in Vietnam einen Krieg angezettelt hatte, der nicht zu gewinnen war und dessen vermeintliche Notwendigkeit der Bevölkerung nur durch massive Propaganda zu verkaufen war. Die Widersprüche zwischen dem Lippenbekenntnis zu Freiheit und Demokratie und der Wirklichkeit einer durch Segregation tief gespaltenen Gesellschaft lagen auf der Hand. Aufgrund seiner eigenen Sozialisation war Johnson mit derartigen Widersprüchen vertraut. Unter veränderten Vorzeichen erkannte er die grundsätzlichen Mechanismen eines korrupten politischen Systems, das sich nur durch den planvollen Betrug der eigenen Bevölkerung an der Macht halten konnte. Es ist sein Thema.
In der Bankangestellten Gesine Cresspahl, einer alten Bekannten aus den Mutmaßungen über Jakob, fand er die ideale Protagonistin für sein Romanprojekt. Ein Jahr aus ihrem Leben in New York wird Johnson in Tagebuchform dokumentieren und parallel dazu die Geschichte ihrer Familie erzählen. New York und Mecklenburg — das sind die beiden Pole, zwischen denen er die Verstrickung persönlicher Schicksale in Zeitgeschichte auslotet und dabei deutlich macht, wie sehr transgenerationale Traumata unser aller Leben bestimmen. Gesine Cresspahl verliert ihre Mutter im Zuge der Novemberprogrome 1938, als diese sich das Leben nimmt, nachdem der Bürgermeister ihrer Heimatstadt Jerichow ein jüdisches Kind ermordet hatte. Als junge Frau verliert sie ihren Freund Jakob, der sich dem System nicht unterworfen hatte und unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen war. Als 1968 Martin Luther King in Memphis ermordet wird, setzt ihre Tochter Marie, Jakobs Kind, noch in derselben Nacht ein Beileidstelegramm an dessen Witwe auf. Das sind die Zusammenhänge, in denen wir alle, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, stehen.
Mit unbestechlichem Blick hat Johnson ein Werk gegen Gleichgültigkeit und Opportunismus geschaffen, das kein Identifikationsangebot für jedermann ist. Von seinem moralischen Rigorismus kann man sich, je nach individueller Veranlagung und Lebensalter, angezogen oder abgestoßen fühlen.
Nach den persönlichen Leseerfahrungen der Autorin dieser Zeilen macht es aber tatsächlich einen Unterschied, ob man von Johnson einmal das genaue Hinschauen gelernt hat oder nicht. Etwas bleibt, das über das Ende der eigentlichen Lektüre hinausreicht und das der Autor selbst einmal als Kardinalfrage formuliert hat: „So leben wir. Aber wollen wir so leben?“
In den Mutmaßungen über Jakob schrieb Johnson, dass Freiheit nicht darin bestehe, anders zu können, sondern anders zu müssen — ein Satz, der, vom Standpunkt seiner letzten Jahre aus betrachtet, wie ein Epitaph zu Lebzeiten gelesen werden kann. In diesem Sinne wäre er im Kampf von Ich und Welt nicht unterlegen, sondern hätte nur sein Schicksal beizeiten erkannt und nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt.
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