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Der Ökokrieger

Der Ökokrieger

Ein Umweltprojekt in Estland zeigt, was für jeden möglich ist.

Ein Waldgebiet in Estland. Zelte, Holzhütten und Baumhausklos. Es ist der gelebte Traum des Engländers Jim Self und seiner estnischen Freundin Marjaa von einem nachhaltigen, naturnahen und kostengünstigen Leben, das es ihnen ermöglicht, selbst zu bestimmen, womit sie ihre Zeit verbringen.

Als die zwei das Gelände bezogen, gab es kein fließendes Wasser. Damals schleppten sie eimerweise Wasser vom Bach zu einer alten, gusseisernen Badewanne, unter der sie ein Feuer entfachten. Sie badeten draußen im Regen oder Schnee. Ein heißes Bad im eigenen Garten. Wer träumt nicht davon?

„Die meisten Menschen glauben, dass sie im Urlaub oder auf einer Reise unglaublich aktiv sein und viele Sehenswürdigkeiten besuchen müssten. Das ist natürlich absolut nachvollziehbar, und wir haben hier tolle Möglichkeiten. Aber manchmal braucht man im Leben einfach eine Pause. Nimm dir einen Tag Auszeit und entspann dich. Nimm ein heißes Bad unter großen Kiefernbäumen – und wenn du Glück hast, fallen ein paar Regentropfen direkt in deine Badewanne“ – Jim Self, Gründer des Öko-Hostels „Projekt Kodu“ (1).

Inzwischen besitzt das Gelände eine selbstgebaute Solaranlage, ein Strohballenhaus mit herangeschleppten Möbeln, ein Arsenal an Batterien, eine aus Ästen gezimmerte Außenküche, ein Gewächshaus und eine Lehmwandsauna.

Auch für die grundlegenden Dinge mit einem außergewöhnlichen Touch haben Jim und Marjaa gesorgt: In einer Art Baumhaus haben sie vier Komposttoiletten installiert, zu denen man über eine Wendeltreppe gelangt, sodass man beim Verrichten seines Geschäfts eine fantastische Aussicht genießt.

Strom, Wasser und Lebensmittel

Sie haben Wasserleitungen von der Quelle zum Gelände verlegt und Elektrokabel versorgen über selbst gefertigte Solarzellen die gesamte Anlage. Es gibt also frisches Trinkwasser, das sich wie das Wasser für die heißen Duschen aus dem nahegelegenen Bach speist.

Auf dem gesamten Gelände steht eine Gleichspannung von zwölf Volt zur Verfügung – um Lampen anzuschließen, seinen Laptop aufzuladen und so weiter. Selbst superschnelles WLAN haben Jim Self und seine Freundin in die Wildnis integriert.

Was die Lebensmittel anbelangt, so kaufen sie praktisch alles, was sie ihren Gästen allabendlich servieren, bei örtlichen Biokleinbauern ein. Außer Salate und frische Frühstückseier, die aus ihrem eigenen Garten und von den eigenen Hühnern stammen.

Die Inspiration

Einige bezeichnen Jim Self als Ökokrieger. Ihm ging es jedoch eher um die Suche nach Wegen, sich zeitlichen Freiraum zu verschaffen und weniger von einem destruktiven Sozialsystem abhängig zu sein.

Wenn er überhaupt irgendein Krieger ist, dann einer der Lebenslust. Self bezeichnet sich selbst als einen vehementen Verfechter der Idee, dass jeder das tun sollte, was ihm Freude bereitet.

Für ihn bedeutet das, im Wald zu leben und kurortähnliche Zentren zu errichten, ohne sich von einer Bank Tausende von Euros zu leihen. Stattdessen bedient er sich der reichlich vorhandenen Altmaterialien, die unsere umweltschädigende Gesellschaft allerorten hinterlässt.

Der Film „Garbage Warrior“ (2) gab ihm damals plötzlich das Gefühl, praktisch alles machen zu können. Die Vorstellung, ein Haus zu bauen, elektrisierte ihn, denn Miete zu zahlen oder eine Hypothek aufzunehmen bindet unheimlich viel Zeit. Schließlich fließen in der Regel 40 Prozent des Einkommens in die Miete und die Nebenkosten.

Durch den Dokumentarfilm wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er das umgehen konnte. Die Rechnung war einfach: Er müsste 40 Prozent weniger Zeit in der Arbeit verbringen. Zeit, die er dann für sich selbst zur Verfügung hätte – um die Dinge zu tun, die ihm wirklich Freude bereiteten. Dazu gehörte das Vergnügen daran, Dinge zu bauen und zu reparieren.

Die Grundprinzipien

Jim Self lebt nach drei Prinzipien: niedrige Kosten, geringe Anforderungen ans Können und minimale Schädigung der Umwelt.

Es geht darum, dass man nicht viel Geld benötigt, um etwas zu bauen. So ist er nicht auf einen Vollzeitjob angewiesen, um sein Projekt finanzieren zu können. Keine Tilgungsverpflichtungen über 30 Jahre oder ähnliches.

Geringe Anforderungen ans Können bedeuten ein Vorhaben, das man aller Wahrscheinlichkeit nach ohne fremde Hilfe konzipieren und realisieren kann. Wozu jemand anderen bezahlen, wenn man es selbst machen kann und will?

Eine geringe Beanspruchung der Umwelt ist ohnehin gegeben, wenn man sich beim Bauen natürlicher Materialien wie Stroh oder Holz bedient oder Altmaterialien wiederverwendet. Letztlich zahlt es sich aus, nach Wegen zu suchen, den Planeten möglichst wenig zu schädigen.

„Wer das Wasser für sein wöchentliches Bad einmal eine Zeit lang mit Eimern vom nächsten Bach herbeischaffen musste, der wird es wertschätzen, wenn er drei Jahre später über fließendes, warmes Wasser verfügt. Außerdem hat mich der Vorgang des Wassertragens gestärkt – sowohl mental als auch körperlich. Natürlich bin ich froh, dass wir jetzt fließendes Wasser haben; aber es hat etwas wunderbar Herausforderndes, in der Anfangszeit komplett selbst für sich sorgen zu müssen“ – Jim Self.

Dank YouTube-Videos fanden Jim und Marjaa Lösungen für eine umweltfreundliche und unabhängige Stromversorgung: Es gelang ihnen, aus Solarzellen und Doppelglaselementen, die in der Industrie als Ausschuss abfallen, und etwas Silikonspray ihre eigenen Fotovoltaikelemente herzustellen. Sie verwendeten sogar die kleinen Papierbeutel mit Kieselgel, die in Schuhkartons und anderen verpackten Produkten zu finden sind, damit sie gegebenenfalls Feuchtigkeit aufnehmen.

Und es kam noch besser: Letztlich konnten sie mit ihrem neuen Wissen auch noch Geld verdienen, indem sie es in den umliegenden Gemeinden in Form von Workshops weitergaben. Sogar Schulkinder unterrichteten sie.

Finanzierung

Das Grundstück kauften Jim und Marjaa mit Ersparnissen, sodass sie das Areal sofort kaufen konnten. Keine monatliche Tilgung. Für Jim Self ist das ein Schlüsselaspekt: Rechnungen vermeiden. Sie haben ein paradiesisches Fleckchen ergattert: Nur einen Kilometer vom Strand entfernt, mit zwei Seen ganz in der Nähe, umgeben von einem uralten Wald.

Nachdem sie alle ihre Ersparnisse investiert hatten, zogen sie los, wenn irgendwo Häuser abgerissen wurden, und bargen Altmaterialien. Eine Menge Geld sparten sie dadurch, dass sie ihren 1994er Toyota Hilux mit altem Pflanzenöl (WVO, waste vegetable oil) betrieben, das sie von Restaurants in Tallinn abzweigten. So trugen sie nach und nach ohne jegliche Kosten verschiedenste Schätze zusammen, die sich zum Bau verwenden ließen.

All die Spülen, Wasserhähne, Boiler, Duschen, der Saunaofen – das gab es alles gratis. Und jede Menge Holz natürlich. Nie mussten sie für das Projekt Holz kaufen. So eine Aussage klingt selbst für Jim surreal. Die Strohballen mussten sie kaufen, aber die kosteten nicht viel. Nur für Elektro- und andere Werkzeuge sowie Kettensägen waren größere Investitionen nötig, was sich jedoch auf die einmalige Anschaffung beschränkte.

Anfangs lebten Jim und Marjaa in einem Wohnwagen, den sie in England gekauft und ebenfalls auf Pflanzenöl umgestellt hatten. Später konnten sie ihn mit Gewinn verkaufen. Eine gescheite Investition.

Rohre und Kabel fanden sie auf Abbruchgrundstücken. Manches, das sich zur Wiederverwendung nicht eignete – alte Elektrokabel etwa –, konnten sie auf Schrottplätzen versilbern und auf diese Weise die Kosten für neuwertige Kabel senken.

Es kommt darauf an, die laufenden Ausgaben möglichst gering zu halten. Das Hauptproblem dürfte das Grundstück selbst sein. Wer nicht die Mittel hat, das mit einem Schlag zu kaufen, kann über gemeinschaftliche Wohnprojekte nachdenken.

Was den Kraftstoff für die Autos betrifft, so bietet sich die Möglichkeit auf WVO umzusteigen. Damit ist waste vegetable oil gemeint, das Pflanzenöl, das Restaurants zum Frittieren benutzen. Da sie das Öl regelmäßig wechseln müssen, landet das alte Öl im Abfall.

Zumindest war das lange Zeit so üblich. In den letzten Jahren hat sich vieles geändert. Es gibt jetzt Firmen, die es abholen und in Biodiesel umwandeln. Aber es lohnt sich, mit Frittenbuden in der Nähe zu sprechen, um sein Auto mit dem Abfallöl zu betreiben.

„Die Restaurantbesitzer waren immer ziemlich platt, wenn ich ihnen erklärt habe, dass ich das Öl einfach über einen bei eBay ersteigerten Filterbeutel mit einer Durchlässigkeit von einem Mikrometer direkt in den Dieseltank meines Toyotas kippe. Das funktioniert mit jedem vor dem Jahr 2000 gebauten Diesel-PKW! Ich muss zugeben: Als ich das zum ersten Mal gemacht habe – 50 Liter Speiseöl aus dem Supermarkt direkt in den Tank zu kippen, ohne irgendwelche Modifikationen am Motor vorgenommen zu haben –, hatte ich Megaschiss. Aber es ging alles gut, und das noch für mehrere Jahre“ – Jim Self.

Seit sie in ihrem Öko-Bauprojekt leben, haben Jim und Marjaa Workshops und kleine Festivals veranstaltet, in Pop-up-Restaurants Fleisch von im Umland geschossenen Wildschweinen und Elchen serviert, aber auch vegane Burger aus wild geerntetem Grüngemüse. Außerdem haben sie die aufgrund ihrer vielseitigen Wirkung begehrten Chaga-Pilze gesammelt, die in kühleren Biotopen der nördlichen Hemisphäre auf Birken wachsen, und sie auf eBay verkauft. Inzwischen haben sie sich ihr Projekt zu einer Herberge und einem Ort der Einkehr verwandelt.

Die Einstellung zum Geld

Unsere Gesellschaft basiert auf dem Geldfluss. Laut Self ist ein Angestelltenverhältnis der einfachste – oder zumindest systemkompatibelste – Weg, an Geld zu kommen. Was ihn immer gestört hat und er konsequent vermeidet, ist die Idee der lebenslangen Vollzeitstelle. Er hatte viele Jobs – sortierte Firmenpost, verkaufte Anzeigen, zimmerte Unterkünfte und arbeitete sowohl hinter der Bar, auf der Baustelle und in Fabriken als auch auf Bauernhöfen und Veranstaltungen; er führte Workshops durch und handelte mit allem, von dem er sich Profit versprach, wie beispielsweise Wohnwagen.

Selfs Verhältnis zu Geld hat sich verändert, seit er in den Wald gezogen ist und seine Träume Realität werden lässt.

„Als ich anfing, ging es mir wohl darum, etwas zu beweisen. Bei jedem Wetter schuftete ich von früh bis spät im Freien, riss Gebäude ab und transportierte Wagenladungen mit Altmaterial auf unser Gelände. Ich zog Abertausende Nägel aus Qualitätsholz, fällte Bäume und schleppte sie eigenhändig aus dem Wald in unser Camp. Unzählige Tonnen Sand und Lehm habe ich ausgehoben … vielleicht war es eine Egonummer?

Vielleicht wollte ich auch einfach nur etwas erreichen, etwas Vorzeigbares. Auf sich selbst stolz sein zu können, ist eine wunderbare Sache. Die Größe eines Projekts spielt dabei keine Rolle. Ich betrachtete die körperliche Arbeit praktisch als mein Fitnesstraining. Kostenlose Baustoffe aufzutreiben ersetzte meine Verhandlungs- und Verkaufstätigkeit, und die Transporte sowie die Delegierung von Arbeiten machten mich zu einer Art Manager. Was ich damit sagen will, ist, dass ich den gesamten Prozess sehr ernst nahm. Einerseits war es ein Hippie-Lager, doch gleichzeitig war es auch, bei aller Amateurhaftigkeit und Unorganisiertheit, eine funktionierende Baustelle!
Es hat Spaß gemacht und forderte uns heraus – jedoch ohne dass wir auf irgendeine finanzielle Zielstellung oder wirtschaftlichen Erfolg aus gewesen wären. Es war alles echt. Und ich denke, das ist es immer noch.

Wir sind heute lediglich professioneller und routinierter, und es geht uns inzwischen darum, die Bedürfnisse der Gäste zu befriedigen, nicht mehr nur um unsere eigenen verrückten Ideen! Daher müssen unsere Gäste mittlerweile für den Aufenthalt bezahlen. Einen großen Teil der Einnahmen investieren wir wieder in das Projekt, damit es wachsen kann, Arbeitsstellen geschaffen werden und wir die örtliche Kunstszene fördern können, während der ungeschliffene, ehrliche Charakter der Herberge erhalten bleibt“ – Jim Self.

Ein selbstbestimmtes Leben

Anstellungen sind für Jim eine gute Sache. Für Einkünfte aus fremdbestimmter Arbeit empfiehlt er, Jobs zu selbstbestimmten Zeitpunkten aufzunehmen oder wieder aufzugeben. Er mag es, hart zu arbeiten, eine große Stundenzahl innerhalb weniger Monate anzusammeln. Da das Endziel schon in Sichtweite ist, geht das ohne Burn-out oder Nervenzusammenbruch. Die Strategie für mehr Selbstbestimmtheit lautet, viel Geld in kurzer Zeit zu verdienen und es langsam auszugeben.

Seitdem sein Projekt Kodu als Retreat- und Ökoherberge firmiert, teilt Jim seinen turbulenten Werdegang immer wieder mit den Gästen. Manchmal springt der Funke über und sie werden motiviert, ihre eigenen Träume und persönlichen Sehnsüchte Wirklichkeit werden zu lassen.

„Das muss gar nicht bedeuten, dass sämtliche Besucher mit dem heißen Wunsch heimkehren, sich gleich ihr eigenes Haus zu bauen. Was aber passiert, ist, dass ihnen der Aufenthalt im magischen Lahemaa-Nationalpark die Gelegenheit gibt, sich zu entspannen und ihre eigenen verborgenen Träume zu entdecken – während ihnen durch die Umgebung permanent vor Augen geführt wird, dass alles möglich ist. Dafür, dass das zutrifft, bin ich der lebende Beweis: Wenn jemand wie ich, der zuvor kein einziges Jahr praktische Bauerfahrung und nur wenig Geld hatte, dafür aber eine ordentliche Portion Zielstrebigkeit, ein Projekt wie Kodu verwirklichen kann, dann ist wirklich nichts unmöglich“ – Jim Self.

Kodu bedeutet so viel wie „Zuhause“. Laut Jim kann jeder Mensch sein eigenes „Zuhause“-Projekt finden und umsetzen.


Redaktioneller Hinweis: Dieser Text erschien in ausführlicherer Form als Interview zunächst in Nexus-Magazin. Mit freundlicher Genehmigung des Chefredakteurs Daniel Wagner dürfen wir von Rubikon den Text in dieser gekürzten und zum Teil umformulierten Fassung zur Zweitverwertung übernehmen. Herzlichen Dank!


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://projekt-kodu.ee/
(2) http://www.garbagewarrior.com/


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