Es war jener Abend vor der Hinrichtung. Judas, einer der zwölf Jünger, hatte Jesus an die Hohenpriester verraten hat. Für 30 Silberlinge ließ er sich kaufen und führte die Soldaten direkt zu Jesus, dessen Vertrauter er war, dem er folgte, den er „Rabbi“ nannte, der, auf den das jüdische Volk gewartet hatte, den Messias. Ein Kuss auf die Wange diente als geheimes Zeichen für die Soldaten, die Jesus daraufhin gefangen nahmen und zu seiner Verurteilung abführten. Am Folgetag wurde Jesus hingerichtet.
Mitten in die diesjährige Fastenzeit fiel der Frühlingsanfang, der 20. März — „Freedom Day“. Ein Ende aller Maßnahmen war nicht zu erwarten. Vielmehr wabert die vermeintliche Notwendigkeit einer Impfpflicht wie kalter Rauch im Raum, werden die Prognosen für eine x-te Welle im Herbst und die soundsovielte Variante bereits aufgestellt.
Die deutsche Version des Freedom Days mit eingebauter Hotspot-Handbremse ist wohl eher eine Augenwischerei, die Freiheit nur mit „Augenmaß“ zugesteht. Die Unfolgsamen werden indes, allen Erkenntnissen zum Trotz, weiterhin beharrlich als Schuldige des Dilemmas identifiziert, notfalls auch als rechtspopulistisch diskreditiert. Erlöser und Verräter sind also klar benannt.
Jede Art von „Verratspolitik“ braucht die vermeintlichen Verräter, um Ausgrenzung und Anfeindung zu legitimieren. Sind die Verräter der eigenen Ideologie erst einmal ausgemacht, ist es leicht, sie zu brandmarken und unter Beifall und mit Hilfe der Erlösungsgläubigen einer politischen Willkür zu unterwerfen.
Nach diesen Prinzipien funktioniert die aktuelle Pandemie ebenso gut, wie es sämtliche Kriege taten und immer noch tun. Die Machthaber rühmen sich selbst unterdessen, genießen gesellschaftliche Privilegien, erringen Reichtum und Ehre bis hin zu hochdotierten Auszeichnungen.
Doch das Prinzip des Verrats funktioniert auch in die andere Richtung. Als vermeintliche Verräter fühlen wir uns selbst als Verratene. Wir fühlen uns belogen, hintergangen und missbraucht von staatlicher Gewalt, den Volksvertretern, vom System, vom Geist der Zeit und den eigenen Nachbarn, die allesamt aus Gier für ein paar Silberlinge ihre Menschlichkeit verraten. Die Lügen aufzudecken und die Verräter zu entlarven, wird zu unserer täglichen Mission. Wer sich mit ihnen gleichmacht oder ihnen nachfolgt, wird gleichermaßen zum Täter erklärt.
Und so wächst die Zahl derer, die wir Verräter nennen, ins Unermessliche. Im Dramadreieck hält nun jede Partei die Opferecke besetzt. Retter unbekannt. Der Widerstand dürfe gerade jetzt nicht aufhören, lese ich nun täglich. Und dass es eine Zeit der Aufarbeitung brauchen werde. Andere schließen diese für sich bereits gänzlich aus, haben den Bruch alter Freundschaften, den Riss durch ihre Familien längst mit einer Bitterkeit quittiert, die ein künftiges Miteinander mit den vermeintlichen Verrätern nahezu ausschließt.
Verräter, so wird ersichtlich, sind also immer die anderen — die Andersdenkenden.
„Wie groß muss der Bedarf an verfolgungsfähigen Sündenböcken sein, an deren Abwertung man sich narzisstisch aufbauen kann im vermeintlichen Glauben, doch auf der richtigen Seite zu stehen?“ (1).
Diesen Glauben halten wir hoch und denken, dass unser Handeln auf bewusste Entscheidungen, auf Recht und Gerechtigkeit gegründet ist. In Wahrheit aber sind es vielmehr die inneren Zweifel, die uns treiben. Der Glaube selbst braucht keine Tat.
Für unser Gehirn, das sich nicht zum Glücklichsein, aber zum Überleben entwickelt hat, sind indes einfache Muster durchaus hilfreich. Die festgefahrene Bahn verlassen wir ungern, selbst wenn es uns spürbar nicht guttut, darauf zu verweilen, und auch selbst dann nicht, wenn unser Verhalten unseren eigenen Wertevorstellungen zuwiderläuft.
Die Gründe, warum alle mittun, warum sich beispielsweise auch im zweiten Jahr der „Pandemie“ das Narrativ trotz der nicht nur bröckelnden, sondern inzwischen einsturzgefährdeten Fassade beharrlich bei der breiten Masse hält, ist wohl nicht nur in unbewusster narzisstischer Bedürftigkeit oder einer infantilen Hilflosigkeit, sondern auch in der uns tief innewohnenden Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Einheit begründet und den Überlebensstrategien unseres Gehirns geschuldet.
Die Mitte zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse ist uns abhandengekommen. Wohl auch weil wir selbst unsere Mitte und das Vertrauen in unsere eigene Urteilskraft verloren haben. Denn wenn all die Versprechungen der Regierung von Freiheit und Normalität wie zerbrochenes Porzellan am Boden liegen und wenn sich das, was wir gestern noch glaubten und mit sogenannter introjizierter Motivation umsetzten, um allen möglichen Schuldgefühlen zu entrinnen, sich heute als unwahr herausstellt, kurz: immer dann, wenn in uns etwas Lebendiges an die versperrten Türen unserer Ängste klopft, haben wir einen innerseelischen Konflikt. Wir erleben in uns den Widerspruch zwischen dem „gefühlt Richtigen“ und dem „falsch Gelebten“, zwischen unseren Werten und unseren Taten.
Diese kognitive Dissonanz ist ein Spannungszustand im Gehirn, den wir nicht gut aushalten können. Verführerisch locken uns die Anpassungsmechanismen unseres Gehirns auf den leichten Weg, indem wir von nun an einfach unser Selbstbild konsistent dem geforderten Verhalten anpassen. Wir ändern einfach unsere Wertevorstellungen, die Abstraktion unseres Selbst und der Welt zugunsten normativer Erwartungen und rechtfertigen unser Handeln, indem wir es vor uns selbst schönreden und damit die eigentliche Ur-Sache unserer latent empfundenen Ohnmacht leugnen.
In seinem Buch „Verrat am Selbst“ (2) schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen dazu: „Diese Ohnmacht wird außerdem zum Antrieb der ständigen Suche nach einer Identität, die nicht die eigene — nämlich die autonome — ist, und dadurch wiederum zur Quelle einer unerschöpflichen Wut. Man kann sie nicht erkennen, da die Abstraktionen, die unseren Lebensrahmen bestimmen, uns von unseren wahren Gefühlen fernhalten. (…) Man rächt sich an dem, was man als Schwäche im anderen auffasst, nämlich die Schwäche, die man in sich selbst verachten und hassen muss!“
Und so sind wir am Ende Verratene und Verräter in einer Person. Wir sind der Judas unseres eigenen Herzens, unserer authentischen Werte, unseres wahren Potenzials und unserer Seele.
Jesus erlebte in seinen letzten Tagen die Folgen menschlicher Selbstwertzweifel am eigenen Leib. Er wurde verraten, verspottet, verleugnet, erniedrigt und schließlich getötet. Sein Weg war vorherbestimmt, und er fügte sich. Judas war der Zweifler. Er wollte Jesus in seine Kraft zurückbringen. Kämpferisch sollte Jesus für ihn sein und sich nicht ergeben. Und er war wütend, dass Jesus sich erniedrigen ließ, wütend und enttäuscht. Doch schnell bereute Judas seine Tat, wollte die Silberlinge wieder zurückgeben. Als niemand sie mehr annehmen wollte, warf er sie in den Tempel.
Vielleicht war es die innere Zerrissenheit, die ihn in den Tod trieb. Am gleichen Tag wie Jesus starb auch Judas – er erhängte sich. Und er blieb bis heute ohne Gnade. Die Geschichte des zum Sündenbock Erklärten wurde zur „Urgeschichte des Antisemitismus“ (Adorno) und des Verrats.
Außerhalb der Rationalisierungen können wir unsere Wahrheit finden und können erkennen, dass wir Erlöser und Verräter gleichermaßen in uns tragen.
„Wenn ich mich aber ganz selbst erlebe, dann erkenne ich, dass ich auch nicht anders bin als jeder andere Mensch, dass ich das Kind, der Sünder, der Heilige, der Hoffende und der Verzweifelnde bin, der Mensch, der sich freuen, und der Mensch, der traurig sein kann (…), dass ich jedermann bin und dass ich mich selbst erfahre, wenn ich meinen Mitmenschen entdecke und umgekehrt. Bei diesem Erlebnis begreife ich, was Humanität bedeutet. Ich entdecke den Einen Menschen“ (3).
Auch in unserer eigenen Lebensgeschichte führt der Weg zur Erlösung über unseren inneren Verräter. Wenn wir ihn aus dem Schatten treten lassen, ihn ansehen und in ihm unseren eigenen Schmerz erkennen und heilen, dann entsteht Ganzheit. Dann beginnt Auferstehung — in uns.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft, 2014
(2) Arno Gruen, Der Verrat am Selbst, 1986
(3) Erich Fromm, Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud, 1962
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