Demut gehört nicht gerade zu den beliebtesten Werten aus den religiösen Traditionen. Schon gar nicht ist sie bei den politisch Aktiven der „Linken“ hoch angesehen. Zu sehr steht Demut in dem Geruch, dass sie die Menschen klein macht, so dass sich diese leichter in Ausbeutungsstrukturen einfügen. So gesehen ist Demut eine Einladung zur wortverwandten Demütigung. Sie richtet den Menschen so zu, dass er dem Tretenden gleichsam bereitwillig eine Trittfläche bietet. Lenin „würdigte“ die Demut in einer berühmten religionskritischen Äußerung („Sozialismus und Religion“, 1905):
„Demjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft.“
Der Vorwurf ist sicher zum Teil berechtigt. Im Zustand unerträglicher Unterdrückung sind Demut und Geduld kontraproduktiv und verewigen das Unrecht. Geringer Selbstwert trägt dazu bei, eine falsche Duldsamkeit aufrecht zu erhalten, die ihrerseits wieder das Selbstwertgefühl herabsetzt. Andererseits: Lenin selbst ist einer Revolutionärskrankheit verfallen, die der Schriftsteller Boris Pasternak zutreffend als „politischen Hochmut“ bezeichnet hat.
Die eigene Weltanschauung als maßgeblich für alle Menschen zu erachten, sie ihnen gar mit Gewalt als verbindlich aufzuzwingen — kaum etwas hat in der Weltgeschichte größere Verheerungen angerichtet als gerade diese Form von Arroganz, die man auch als Mangel an gesunder Demut interpretieren kann.
Eine Frage der Dosierung
Ja, Demut im Sinn von „Sich-klein-Machen“ ist als Kategorie der politischen Auseinandersetzung nur bedingt brauchbar, denn sie bedeutet Zustimmung zur profitgetriebenen Entwertung des Einzelmenschen, z.B. als „Produktionsmittel“. Alles ist aber — wie beim Gift — eine Frage der richtigen Dosierung. Es gibt ein schädliches Maß an Demut, und es gibt einen schädlichen Mangel daran. Als geistige Haltung ist richtig verstandene Demut in unserer Zeit notwendig wie kaum eine andere Tugend. Sie ist das Gegengift für eine ganze Reihe von „Geistesgiften“ — wie der Buddhismus schädliche Gefühle und Einstellung nennt.
- Die Auffassungen, dass der Mensch „Krone der Schöpfung“ ist, dass er Mitmenschen, Tiere und Umwelt als beliebig manipulierbare und ausbeutbare Objekte behandeln kann.
- Die speziell in der Esoterik und dem „Positiven Denken“ verbreitete Auffassung, dass wir allein Schöpfer unseres Schicksals und Ursache unserer Erfahrung im Leben sind.
- Damit verbunden die Auffassung, dass wir völlig unabhängig von Einflüssen und „Interdependenzen“ — gegenseitigen Abhängigkeiten — aufgrund von Willensentscheidungen unseren Weg gehen.
- Die Auffassung, dass wir die Wahrheit mit Hilfe unseres Verstandes eindeutig erkennen können.
- Die Auffassung, dass „wir“ als Einzelpersonen wie als Gruppe anderen gegenüber von höherem Wert sind.
- Die Auffassung, dass andere Menschen und Lebewesen nach unserer Vorstellung handeln sollten und dass es deshalb nötig ist, deren eigenen Willen zu brechen.
- Allgemein: die Auffassung, dass es in allen Fragen des Lebens hauptsächlich oder ausschließlich um uns geht.
Fasst man die hier angesprochenen Lebenshaltungen zusammen, so kommt man zu dem Schluss: Ohne sie lebte es sich leichter und besser auf diesem Planeten. Umweltzerstörung, Machtmissbrauch, spirituelle Überheblichkeit, religiöser Fundamentalismus, Faschismus und Rassismus, im privaten Rahmen auch Egoismus, Besserwisserei, Dominanzstreben, Mangel an Mitgefühl — alle diese „Syndrome“ können auch als Mangel an Demut bzw. als Gegenkräfte zur Demut gedeutet werden.
Demut in Fragen der Wahrheit kann Agnostizismus sein, Demut in Fragen der Ethik karitativer Dienst, Demut in den Beziehungen zu unseren Mitgeschöpfen Umweltschutz und so weiter.
Die heilige Scheu
Nennen wir als Beispiel für eine demütige Haltung Magnus Schwantje, Pazifist, Antirassist und Vorreiter der Tierrechtsbewegung in Deutschland (1877 bis 1959). Schwantje war Veganer, längst bevor es den Begriff gab. Sein Grundsatz war — vergleichbar mit der Lehre seines Zeitgenossen Albert Schweitzer — die Ehrfurcht vor dem Leben.
Zugleich war er, was in diesem Zusammenhang interessant ist, Agnostiker, also jemand, der sich nicht anmaßte, über die „letzten Dinge“ letztgültige Aussagen machen zu können. Schwantje nannte als sein Motiv „die heilige Scheu vor der Vernichtung irgendeines Lebewesens (…) die Scheu davor, etwas zu zerstören, was wir nicht neu schaffen können, einem Wesen etwas zu nehmen, was wir ihm nicht wiedergeben und nicht ersetzen können und eine Tat auszuführen, von deren Folgen wir Menschen nur sehr wenig erkennen können.“
Und in der Tat: Haben wir einen Ast abgebrochen, können wir ihn nicht wieder ankleben; haben wir eine Ameise zertreten, ist selbst der genialste Biologe oder Genforscher unfähig, sie zu „reparieren.“
Dem Wissen um die eigene Unfähigkeit, auch nur das kleinste und „primitivste“ Lebewesen selbst zu erschaffen (Demut des Nichtkönnens) entspricht die Einsicht in die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens (Demut des Nichtwissens). Beides — Ehrfurcht vor dem Leben und Agnostizismus — sind Grundhaltungen des Mystikers.
Demut ist Aufrichtigkeit
Der Franziskaner-Pater Richard Rohr schreibt hierzu: „Die echten Mystiker sind immer demütig und mitfühlend, denn sie wissen, dass sie nichts wissen.“ Demut meint zunächst eine realistische Selbsteinschätzung, beginnend mit der Erkenntnis, dass wir die „einzig wahre Wahrheit“ niemals erkennen können, dass wir Wesen des Übergangs sind, halbblind von einer Vorläufigkeit zur nächsten stolpernd. „Demut und Aufrichtigkeit sind in Wahrheit dasselbe“, schreibt Richard Rohr. „Du und ich, wir sind vor ein paar Jahren hier aufgetaucht, und in ein paar Jahren werden wir hier wieder verschwinden. Demut ist die einzig aufrichtige Lebensweise.“
Damit verwandt ist auch das Wissen, dass wir nicht die eigentliche Ursache unserer Qualitäten und Fähigkeiten sind. „Gott, von dem auf uns alles Gute her fließt“, schrieb Augustinus in einem seiner Gebete. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, deren Werke seien gar nicht aus ihnen selbst heraus entstanden. Vielmehr seien sie — je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt — ein Geschenk, Gabe, Gnade.
So sagte der 2009 verstorbene Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseitetreten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Wechselseitige Abhängigkeit
Selbst wenn man Gott einmal beiseitelässt, an die nicht jeder glauben will oder kann, ist doch eines festzustellen: Wechselseitige Abhängigkeit ist eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat dies immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Ich will versuchen, diese buddhistische Grundhaltung an Beispielen plausibel zu machen. Es gibt spirituelle Seminare, in denen die Teilnehmer lernen, dass sie selbst Schöpfer ihrer Realität sind. Schauen wir uns diese „Schöpfer“ einmal genauer an, so stellen wir fest, dass sie nicht einmal das Klopapier, das sie in den Seminarpausen benutzen, selbst erschaffen haben. Den Tee, den sie trinken, haben andere angebaut, gepflückt, verarbeitet und gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet. Die Bettdecke, die sie nachts wärmt, haben andere fabriziert.
Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen.
Natürlich, auch ich gebe anderen etwas: durch meine beruflichen und privaten Aktivitäten, durch freundliche Worte, Berührungen und journalistische Arbeiten. Aber ungleich mehr habe ich geschenkt bekommen. Mein Körper ist aufgebaut aus Stoffen, die aus der Natur entnommen sind: Wasser, Mineralien, Luft, Sonnenlicht u.a. Ich bin ein durch und durch „zusammengesetztes“ Wesen, dessen Existenz vollständig von der mich umgebenden Welt abhängt.
Auch unser Geist ist, wie der Körper, zusammengesetzt aus Bestandteilen, die nicht aus uns selbst kommen, sondern unserer Umgebung entnommen sind. Die Wörter, die wir in unserem Geist bewegen, wurden von unserer Kultur, von unseren Vorfahren erschaffen. Unser Geist ist angefüllt mit den verinnerlichten Botschaften unserer Eltern, unserer Lehrer, Kollegen, Freunde und Liebespartner, angefüllt mit den Worten der Bücher und Zeitungen, die wir gelesen haben, der Songtexte, die wir gehört haben, der Werbebotschaften und Emails, mit denen wir täglich bombardiert werden. Wir halten die Gedanken, die in unserem Geist aufsteigen, für „unsere eigenen“. Aber wie viel davon kommt wirklich aus uns?
Der Grashalm im Wind
Der Mensch gleicht so gesehen einer Zwiebel, bei der man durch Abschälen der oberen Häute nie auf einen Kern, sondern nur immer auf weitere Häute stößt. Henrik Ibsen hat dieses Gleichnis in seinem symbolischen Theaterstück „Peer Gynt“ entworfen. Wenn auch die innerste Hülle abgeschält ist, bleibt: nichts! Vielleicht ist aber gerade dieses „Nichts“ unser Wesen. Natürlich handelt es sich dabei aber nicht wirklich um „Leere“, sondern um den unsichtbaren Beweger, der „Tao“ oder „Gott“ genannt wurde.
Was uns im Innersten ausmacht, gleicht nicht einem Grashalm, sondern eher dem Wind, der diesen Halm in Bewegung setzt. Nur wenn der Grashalm den Wind nicht erkennen kann, denkt er: „Ich habe mich entschieden, hin und her zu schaukeln“.
Ganz innen, dort wo wir ein auf seine Bedeutung pochendes Ich vermuten, ist bei näherer Betrachtung etwas Nicht-Greifbares, das in Beziehung, in Abhängigkeit existiert und Grund zur Dankbarkeit hat. Wo jedoch keine Abhängigkeit mehr besteht, sondern ein Wesenskern aus sich selbst heraus existieren kann, dort gibt es „mich“ gar nicht mehr, nur überpersönlichen Geist. Die buddhistische Annahme, dass das Ich „leer von eigenständiger Existenz“ sei, ist die grundlegende Quelle einer gesunden Demut.
Auch der evangelische Theologe und Sachbuchautor Jörg Zink wendet sich entschieden gegen den Wahn, wir selbst seien die Ursache allen Geschehens um uns herum. „Niemand entscheidet selbst. Niemand handelt allein. Was wir entscheiden, ist uns von allen Seiten vorgezeichnet. Was wir sind, sind wir durch unzählige fremde Bedingungen und durch unzählige andere Menschen.“
Du bist nicht die Ursache
Dieser Satz widerspricht drastisch der von mir so genannten „Spiderman-Philosophie“, die im dritten Teil der Filmreihe mit Tobey Maguire so formuliert wird: „Entscheidungen machen uns zu denen, die wir sind“ Wir finden diesen Satz in unzähligen Varianten in der US-amerikanischen Film-„Kunst“ und amerikanischer Selbstermächtigungs-Esoterik.
Eine andere Variante dieses Satzes ist die „Udo-Jürgens-Philosophie“, die der Schlager-Chansonier in den frühen 70er-Jahren seinem Publikum trällernd verkündete: „Du allein kannst Meister deines Schicksals sein“. Dies ist nicht nur für Gottgläubige eine Anmaßung, es ist dies auch für politisch wache Menschen, die die Systemzwänge des Kapitalismus und die Faktoren Milieu und Erziehung immer mit in den Blick nehmen. Isolierter Verantwortungsheroismus als kulturelles Leitbild — dies liegt eher im Interesse jener politischen Kräfte, die mit Verweis auf unsere „Eigenverantwortung“ ihr eigenes verantwortungsloses Verhalten verschleiern wollen.
Unverbundene Einzelwesen sollen sich, weil sie verlassen sind, nur noch auf sich selbst verlassen können und sich selbst als die einzige Ursache eines möglichen biografischen Scheiterns ansehen. Damit wird Solidarität als eher schädlicher, weil entmächtigender Verstoß gegen das Eigenverantwortungsdogma interpretiert. Reiche und die Solidargemeinschaft sind billig aus ihrer Verantwortung für Schwächere entlassen.
Es geht nicht um uns
Eine andere Quelle von Demut, die grundsätzlich auch nicht-religiösen Menschen zugänglich ist, besteht in der Einsicht, dass es um uns eigentlich gar nicht so sehr geht. Dieser Gedanke ist ungewohnt, entzieht er doch allen Überlegungen, die wir gewöhnlich anstellen, den Boden: „Wie geht es mir gut?“, „Wie gelange ich zu beruflichem Erfolg?“ oder „Wie kann ich spirituell wachsen?“ Der Franziskaner-Pater Richard Rohr schreibt hierzu: „Es ist seltsam, aber in unserem Leben geht es letztlich nicht um uns. Es ist Teil eines viel größeren Stroms.
Ich bin überzeugt, dass der Glaube wahrscheinlich genau diese Fähigkeit ist, sich dem Strom anzuvertrauen, dem Fluss zu trauen und dem Liebenden. Er ist ein Prozess, den wir nicht verändern, erzwingen oder verbessern müssen. Wir müssen ihn zulassen.“
Die Annahme, es gehe gar nicht um uns, mag herabsetzend klingen für denjenigen, der in seinem Ich-Kokon eingesponnen ist, denn seine Sorgen und Nöte fühlen sich ja real an. Von sich abzusehen — dies kann für die Seele aber auch in höchstem Maße befreiend sein. Richard Rohr zitiert in diesem Zusammenhang einen Häuptling der Cherokee mit den Worten: „Weshalb verschwendet ihr eure Zeit mit Grübeln und Sorgen? Wisst ihr nicht, dass euch die großen Stürme über den Himmel treiben?“
Die Idee von der Wichtigkeit des Ichs steht hinter allen Sorgen um „mein“ Wohlergehen — und die Sorgen verflüchtigen sich mit dieser Idee.
Der Mensch als hilfloses Treibgut oder als vom Sturm getriebene Wolke — in manchem mag diese Vorstellung nicht so sehr Geborgenheit als Angst vor Kontrollverlust auslösen. Gibt es unter solchen Umständen überhaupt noch einen Grund, aktiv zu handeln? Oder anders ausgedrückt: beruht unsere Vorstellung, selbst zu handeln, nicht auf einer Illusion? Sicher ist: Solange es nicht völlig ausgeschlossen ist, dass wir einen Handlungsspielraum haben, sollten wir ihn nutzen. Dies gilt auch für politisches und mitmenschliches Handeln. Ich spende Geld, gehe für einen Kranken zur Apotheke und beteilige mich an einem Protestmarsch. Ob „ich“ es bin, der handelt oder — wie Dag Hammarskjäld sagte — „Gott in mir“, ist irrelevant bezüglich der Frage, ob das Gute und Hilfreiche getan werden sollte.
Die Kunst des Weglassens
Hier geht es mir aber weniger um die Frage nach Freiheit und Schicksal, Aktivität und Passivität im praktischen und politischen Leben. Es geht mit vor allem um Demut als Grundhaltung im spirituellen Leben. In diesem Zusammenhang besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen heroischer Selbstoptimierungsspiritualität auf der einen und mystisch begründeter Demut auf der anderen Seite.
„Heroisch“ nenne ich vor allem die Auffassung, es hänge allein von meiner Willensanstrengung ab, einen spirituellen Fortschritt zu erzielen, das Paradies oder die Erleuchtung zu erlangen. Zu diesem Zweck versucht das willensstarke Ich, sich immer weitere Fähigkeiten und Qualitäten anzueignen: Yoga- und Atemtechniken, Kräfte „magischer“ Schicksalsmanipulation, Pluspunkte in einem imaginären himmlischen Bilanzbuch, in dem all unser Soll und Haben aufgezeichnet sind. Durch Hinzufügen wird unser Ich als „Fahrzeug“ spirituellen Fortschritts immer leistungsfähiger.
Demgegenüber bedeutet „Handeln“ im Sinne mystischer Demut eher ein Weglassen als ein Hinzufügen, eher ein Zulassen als ein Erzwingen. Es ist eine Spiritualität der „Schale“, nicht des „Pfeils“, von der ich rede. Die Schale, der nach oben offene Hohlraum, bereit Wasser von „oben“ aufzunehmen, ist das Bild für eine derartige mystische Haltung, nicht der durch Anspannung des Willensbogens in den Himmel abgeschossene Pfeil. Man könnte auch sagen: mystische Demut ist eher eine weibliche als eine männliche Qualität.
Niemands Herr und niemands Knecht
Freilich liegt bei einer derart passiven Haltung der Vorwurf nahe, gerade politisch ließe sich damit nichts bewirken. Die von Lenin kritisierte falsche Demut der bereitwilligen Unterwerfung unter das Diktat der Mächtigen ist aber nicht das, was ich hier propagieren will.
Demut ist dort am wenigsten am Platz, wo sie von den Nicht-Demütigen herrisch eingefordert und erpresst werden soll.
Demut ist keine Tugend, die dem Gedemütigtwerden Vorschub leisten sollt. Vielmehr ist sie in zweierlei Weise hilfreich. Zum ersten hilft sie, in uns eine Geisteshaltung zu erzeugen, die es uns unmöglich macht, andere zu demütigen. Rechthaberei, Machtmissbrauch und falsches Selbstbewusstsein auf Kosten anderer werden so vermieden. Zum zweiten kann Demut — was scheinbar paradox ist — sogar verhindern, dass wir uns demütigender Behandlung durch andere unterwerfen.
Das muss etwas näher erläutert werden: Der krankhaft Demütige betrachtet sich selbst ohne zureichenden Grund als wertlos und anderen Menschen unterlegen; gesunde Demut ist dagegen die Einsichten in die Grenzen des Menschlichen, was selbstverständlich auch für alle anderen Menschen gilt.
Der Demütige im guten Sinn könnte also, wenn ihn jemand entwürdigend behandeln will, antworten: „Ich weiß, dass meine Einsichtsfähigkeit begrenzt ist, für dich gilt das aber ebenso; ich bestehe also darauf, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen.“ Er möchte am liebsten „niemands Herr und niemands Knecht“ sein, es sei denn in Form eines freiwilligen Dienstes am Mitmenschen. Er bevorzugt flache Hierarchie zwischen fehlerhaften Menschen, die jedoch ungeachtet ihrer Fehler grundsätzlich von Wert sind.
Ein stark hierarchisches Denken beruht ja darauf, dass große Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen gemacht werden. Hitler begründete seine Führungsrolle in einer Rede damit, dass er sich „weniger irren“ könne als seine Gauleiter, diese wiederum weniger als die Kreisleiter usw. Er unterschied ferner zwischen „Untermenschen“ und „Herrenmenschen“ Demgegenüber würde der auf gesunde Weise Demütige die grundsätzliche Wertgleichheit der Menschen betonen, in deren Charakter Licht und Schatten gemischt sind.
Der Ursegen
Demut schützt ihn davor, andere Menschen — es wie es Nietzsche formulierte — „als ein Unter-sich zu verachten.“ Er sieht sich selbst aber auch als jemanden an, den zu verachten niemand das Recht besitzt. Im Negativen wird diese Gleichheit der Menschen von Jesus z.B. in seinem bekannten Spruch „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ ausgedrückt. Einsicht in eigene Fehlbarkeit schützt vor der Verurteilung anderer. Im Positiven drückt sich diese Gleichheit im Gedanken der geschwisterlichen Gotteskindschaft aus.
Die evangelische Pastorin und Zen-Meistern Gundula Meyer schreibt, sie habe sich entschlossen, den Begriff „Ursünde“ nicht mehr zu verwenden und spreche stattdessen von „Ursegen“. Wer sich als „Kind Gottes“ oder in Besitz einer „Buddhanatur“ weiß, von dem ist ein Gutteil des destruktiven spirituellen Wachstumsdrucks und des psychischen Flagellantentums genommen, die leider die Religionsgeschichte verdunkelt haben. „Ursegen“ ist ein schönes Wort. Ich nenne es in Abgrenzung zur Erbsünde des Augustinus auch „Erbwürde“.
Frieden, der mitten in den Rätseln steht
Jörg Zink schreibt über diese unveräußerliche Würde: „In dem Augenblick, in dem du erkennst, dass du eine Wohnung Gottes bist, verliert aller Widerstand gegen dich selbst seinen Sinn.“ Ich definiere Demut also eben nicht als Widerstand gegen unser Sosein, sondern als gelassenes Einverstandensein damit — was Weiterentwicklung nicht ausschließt, sondern sogar die Voraussetzung für organische Selbstentfaltung ohne psychischen Druck ist. Jörg Zink schreibt sehr schön hierüber:
„Gelassenheit ist Frieden mit der Kürze der Zeit. Frieden mit der Kleinheit unseres Lebens. Frieden mit dem geringen Maß an Kraft. Frieden, der mitten in den Rätseln steht und ein Lächeln hat für die eigene Ungeduld.“
Demut sollte nicht dem Unvermögen und der Feigheit als Mantel dienen; sie ist vielmehr die Geisteshaltung derer, die mit sich im Reinen sind und sich — nicht trotzdem, sondern gerade deshalb — mit anderen auf dieselbe Stufe stellen.
Demut wird häufig, einer natürlichen Bewegung folgend, nach „unten“ fließen wie das Wasser, dorthin wo Bedürftigkeit, Not und damit auch Aufnahmefähigkeit vorhanden sind. Das beste Symbol für Demut ist die Fußwaschung, die Jesus bei seinen Jüngern vornahm — Vorbild für unzählige Gründonnerstagsrituale in den Kirchen. Der Meister bezieht sich auf seine Schüler als ein Dienender, was der Meisterschaft nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil auf das Deutlichste untermauert.
„Selbsterniedrigung“, die erhöht
Die Hinneigung zu den Erniedrigten und Beleidigten, den Armen, Ausgegrenzten und Leidenden gehört zu den Merkmalen des Heiligen im Leben vieler spirituell hoch entwickelter Menschen. Man muss dafür nicht immer nur „dramatische“ Beispiele anführen wie das des Franz von Assisi. Demut kann bedeuten, darauf zu verzichten, jemanden in Grund und Boden zu reden, den man für weniger intelligent hält als sich selbst. Es kann bedeuten, gelassen eine Niederlage einzuräumen, Müll wegzuräumen, den man nicht selbst verursacht hat oder einen Speichelfaden vom Mund eines Kindes zu wischen, auch wenn es einem ein wenig unangenehm ist. Es kann bedeuten, Geld zu spenden oder auf eine Fleischmahlzeit zu verzichten, ohne dass diese Handlungen gelobt oder auch nur bemerkt wird.
Wir können diese Dinge ohne Zögern tun, ohne uns dabei „selbst zu erniedrigen“; eher im Gegenteil: weil wir wissen, dass unser Wert dadurch in keiner Weise geschmälert wird und dass wir dem anderen Menschen oder der Gemeinschaft dadurch einen Dienst erweisen. Demut geschieht nicht aus einem Defizit heraus, sondern auf dem Boden einer Souveränität, die sich ihrer selbst sicher ist.
In einer christlichen Lehre, die Jesus als göttlich betrachtet, erscheint Gott nicht mehr als der „Himmelsdiktator“, sondern selbst als der Demütige, der sich inkarniert und so Beleidigungen und Misshandlungen ausgehalten hat. Selbst wenn wir die mystische Gleichsetzung — „Der Vater und ich sind eins“ — nicht akzeptieren, können wir doch die Selbstentäußerung respektieren, die hier ein spirituell hoch entwickelter Mann auf sich genommen hat.
Verzicht auf Macht und Triumph
Gerade im Verzicht auf eine Macht, die wir haben könnten, zeigen sich Demut und Größe, und unser menschlicher Wert beweist sich im Umgang mit denen, die uns keinen Widerstand entgegensetzen können. Das kann damit beginnen ein Insekt nicht zu zertreten, das viel zu langsam und unbeholfen wäre, um uns zu entgehen.
Machtverzicht ist eine der großen Lehren aus der symbolischen Geschichte von Jesu Versuchung durch den Teufel in der Wüste. Macht, Besitz und Gewalt sind dem Demütigen fremd, zumindest misst er ihnen — über das Notwendige an Besitz hinaus, das unvermeidbar ist — keine große Bedeutung bei.
Dieses Nicht-wichtig-Nehmen hilft, den Frieden in der Seele und in der Welt zu vergrößern. Es bedeutet auch den Abschied von Bild unserer Welt als einer Wettkampfarena und von unserem Mitmenschen als jemandem, den wir durch Willensheroismus niederringen müssen.
Dorothee Sölle schreibt in einem Kapitel aus „Mystik und Widertand“ über Martin Luther King: „Gewaltfreiheit heißt, auf das Siegenwollen zu verzichten und die Niederlage des Gegners, was auch seine Demütigung bedeutet, zu vermeiden.“
Gerade im politischen Kampf ist Demut die Einsicht in die nur begrenzte Gültigkeit des eigenen Standpunkts und die Kunst, die Interessen und Gefühle des Gegners so gut es geht von vornherein mit in den Blick zu nehmen. Denn ein gedemütigter Gegner ist einer, der darauf lauert, als Reaktion seinerseits zu demütigen. Daher ist der Demütige jemand, der den destruktiven Kreislauf gegenseitiger Herabsetzungen durchschaut und durchbricht — nicht um des „himmlischen Lohns“ willen, wie Lenin argwöhnt, sondern um des Friedens und der Menschlichkeit willen — hier und heute.
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