Das Buch liefere „einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Auseinanderdriftens der US-Gesellschaft“, heißt es in einer Verlautbarung des renommierten Ullstein-Verlags. Dennoch will der Verlag die „Hillbilly Elegie“ von J.D. Vance nicht mehr neu auflegen. An mangelnden Erfolgsaussichten des autobiografischen Werkes kann es nicht gelegen haben. Der Autor wurde im Juli 2024 von Donald Trump zu seinem „Running Mate“ ernannt, dem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Auch hat Netflix das Buch 2020 von dem Regieveteranen Ron Howard verfilmen lassen. Glen Close war als Mamaw, Amy Adams als Mom zu sehen gewesen — zwei Topstars in schauspielerischer Höchstform.
Warum dann wendete sich der Verlag dennoch von dieser literarischen Goldgrube ab? Der Grund ist ein moralischer. Vance vertrete „an der Seite von Donald Trump selbst eine aggressive, demagogische, ausgrenzende Politik“, heißt es. Die Haltungsverleger verlangen offenbar, dass nicht nur das Buch selbst, sondern auch sein Autor ihrem politischen Reinheitsgebot entspricht. Teilt der Senator von Ohio, Kandidat einer beiden großen US-amerikanischen Traditionsparteien, also das Schicksal von Karl May und Astrid Lindgren? Passt er nicht mehr so recht in diese saubere, woke Welt? Mara Delius, Literaturkritikerin der WELT, kritisiert die Entscheidung jedenfalls: „Der Verlag traut den Lesern nicht mehr zu, richtig zu differenzieren zwischen den Inhalten des Buches und der politischen Person J.D. Vance.“ Sie sieht darin eine „Tendenz zur bequemen Zeitgeist-Anpassung im Kulturbetrieb“. Deutschland 2024 eben.
Das Monster und die weiße Ritterin
Dabei wäre gerade Differenzierung dringend geboten. Unterschieden werden müsste nicht nur zwischen dem Buch („gut“) und dem Menschen Vance („böse“), sondern auch zwischen Licht- und Schattenseiten beider Lager im US-Wahlkampf. Die deutschen Leitmedien mischten sich von Anfang an so heftig in den Showdown jenseits des großen Teiches ein, dass man meinen könnte, das Schicksal der Welt werde jetzt in Flensburg oder Berchtesgaden entschieden, deutsche Medienkonsumenten müssten also mit allen Mittel auf Linie gebracht werden.
Hier der faschistoide Rüpel, dort die liebliche, begrüßenswert diverse Retterin der Demokratie — so versuchen uns die deutschen Medien die Wahlalternative zu verkaufen. Dabei ist vieles nicht so eindeutig, wie es scheint.
Denn möglicherweise ist der Weltfrieden bei dem Dealmaker Trump, der sein Land aus weltpolitischen Gefahrenzonen heraushalten will, besser aufgehoben als bei der Überzeugungstäterin Harris, dem Liebling des Tiefen Staates.
Vielleicht ist das aufgesetzte Lachen der Karrierestaatsanwältin, die hunderte von Menschen in privatisierte, oft brutale Gefängnisse verfrachtet hat, doch nur Fassade. Zumal der Zauber des Anfangs, der auf ihrer Kandidatur nach dem Verzicht des geistig nicht mehr leistungsfähigen Joe Biden gelegen hatte, mit jeder weiteren Woche mehr und mehr verflog. Es wurde offenbar, was Kritiker schon von Anfang moniert hatten. Menschen, deren Blick angesichts der Diversität (Frau, farbig) und Wokeness der Kandidatin nicht vor Rührung vollkommen verschwommen war, mussten klar sehen, dass Harris‘ Leistungen als Vizepräsidentin doch recht überschaubar waren und ihre Auftritte kaum jemanden vom Hocker rissen. Zukunftsvisionen: Fehlanzeige. Trump und Vance wurden in Deutschland Opfer des gängigen Kampfgeheuls „gegen rechts“, wurden abgekanzelt wie eine Art von 2-Mann-AfD, die anständige Menschen zu meiden hatten wie die Pest.
Elegie und Heldenepos
„Hillbilly Elegie“ ist in einer solchen Kampagne eher ein Störfaktor, denn die Autobiografie hat trotz mancher Kritik, die ich daran äußern werde, nichts Dämonisches an sich. „Die Leute sollen verstehen, was im Leben der Armen vor sich geht, welche psychologische Wirkung diese geistige und materielle Armut auf ihre Kinder hat“, schrieb Vance. „Die Leute sollen den amerikanischen Traum so kennenlernen, wie meine Familie und ich ihn kennengelernt haben.“ Das Buch spielt im Milieu arbeitsloser Familien ehemaliger Bergarbeiter in Ohio, die im Zuge der Deindustrialisierung — der Begriff lässt sicherlich jeden Deutschen aufmerken! — ihren Job verloren haben. Diese Menschen, die im sozialen Abseits festzustecken scheinen, werden „Hillbillys“ genannt oder auch „Rednecks“ und „White Trash“. J.D. Vance will sie porträtieren, aber den Lesern auch vermitteln, „wie sich sozialer Aufstieg anfühlt“.
Hier zeigt sich, dass der heutige Trump-Unterstützer auch Motivationstrainer-Ambitionen hat, denn, so Vance, vielfach sind die Abgehängten an ihrer Misere selbst schuld. „Es gibt zu viele junge Männer, die sich harter Arbeit verweigern, zu viele gute Jobs, die sich kaum über längere Zeit besetzen lassen.“ Und er erzählt von einem jungen Mann, der eine gute Stelle „einfach hinschmeißt“, obwohl seine Verlobte ein Baby erwartet.
„Und was noch verstörender ist: Als es vorbei ist, dachte er, jemand habe ihm etwas angetan. Hier fehlt die Selbstbestimmtheit; das Gefühl herrscht vor, dass man über sein Leben gar nicht verfügt; man gibt jedem anderen eher die Schuld als sich selbst.“
Motivationsschub durch Oma
Quasi als Fleisch gewordenes Gegenbeispiel, verweist Vance dann auf sich selbst. Hatte er es im Leben etwa leicht gehabt? Waren ihm wirtschaftlicher Erfolg und eine stabile Familie etwa in die Wiege gelegt worden? Nein, J.D.s Vater war verschwunden, seine Mutter trank und setzte ihm wechselnde Liebhaber als Vaterersatz vor die Nase. Einmal setzte sie sich betrunken mit ihm in ein Auto und verkündete, sie werde gleich einen Unfall bauen und sich selbst und ihn umbringen. Der Junge entkam aus dem Auto, Mom wurde in Handschellen in einen Polizeiwagen gezerrt. Die unruhigen Familienverhältnisse hatten zur Folge, dass die Aussichten auf eine spätere erfolgreiche Laufbahn für den Schüler J.D. gegen null gingen:
„Meine Leistungen in der Schule wurden schlechter. Oft lag ich abends im Bett und konnte wegen des Lärms — polternde Möbel, Stampfen, Geschrei, manchmal Scherbenklirren — nicht einschlafen. Ich wachte am Morgen müde und deprimiert auf, irrte ziellos durch den Schulalltag und dachte jede Sekunde daran, was mich zu Hause erwartete.“
Gut, dass es da noch Mamaw gab, seine Großmutter, die „in nahezu religiöser Intensität an harte Arbeit und den amerikanischen Traum“ glaubte. Die schlechten sozialen Startbedingungen für sie und ihresgleichen waren „noch lange keine Entschuldigung für Versagen“. Und Mamaw gibt J.D. in dem für sie typischen robusten Tonfall eine unvergessliche Lehre fürs Leben mit auf den Weg:
„Werd bloß nicht so ein beschissener Verlierertyp, der denkt, dass sich alles gegen ihn verschworen hat (…). Alles, was du dir vornimmst, kannst du erreichen.“
Armut als geistige Krankheit
Hier ist ein kleiner Exkurs fällig, denn kaum ein Narrativ bringt den american spirit so typisch zum Ausdruck wie eben dieses. Ausgehend von einer protestantischen Ethik, die materiellen Wohlstand als Beweis dafür ansah, dass jemand in der Gnade Gottes stand, hat sich in den USA eine Kultur des Reichen(selbst)lobs und des Armen-Bashings herausgebildet. Wegweisend waren hierfür seit den 1960er-Jahren Persönlichkeiten wie Dr. Joseph Murphy (1898 bis 1981), langjähriger Vorstand der „Church of Divine Science“.
Von Murphy stammt unter anderem der Satz: „Armut ist eine geistige Krankheit“ (5). In der zeitgenössischen spirituellen Trivialliteratur wird vielfach eine Eigenverantwortungsmentalität propagiert, die an neoliberale Meinungsmache erinnert.
Die Grundthese unzähliger seichter Ratgeberbücher lautet: Wer arm ist, hat Reichtum nur nicht intensiv genug visualisiert. Diese Philosophie kommt auch einer (Selbst-)Entlastung der Systemgewinner gleich. Nach dem angeblich wirksamen „Gesetz der Anziehung“ erschafft sich jeder selbst sein Schicksal.
Diese Grundthese hat die US-amerikanische Kultur so sehr durchdrungen, dass es plausibel erscheint, sie könnte sogar eine „Frau aus dem Volke“ wie Mamaw erreicht haben. Zumindest hat sie sich im Geist ihres Enkels eingenistet. Die großmütterlichen Belehrungen passten bestens zur Ideologie der Soldaten der „Marines“, wo J.D. als junger Mann diente und wo excuses als eine Form mangelnden Verantwortungsbewusstseins geahndet wurden.
Das Spiderman-Prinzip
Vanessa Taylor, Drehbuchautorin des Films „Hillbilly Elegie“, spitzte die spirituell-kapitalistische Botschaft des Buchautors nochmals zu. Da rügt Mamaw in einer Szene ihre Tochter, Mom, als diese mal wieder abstürzt und für ihr Versagen allerlei Entschuldigungen anführt: „Du hast immer einen Grund. Es ist immer die Schuld von jemand anderem. Irgendwann musst du Verantwortung übernehmen.“ Mamaws Weisheiten entnimmt sie nicht selten dem Fernsehprogramm. „Jeder ist einer von diesen dreien: Guter Terminator, böser Terminator oder neutral.“ Ihr Enkel denkt teilweise bis heute ähnlich schlicht. So sagte Vance im TV-Duell mit Kamela Harris‘ Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz zum Thema Nahost:
„Es ist an Israel, das Richtige zu tun, und wir werden unsere Alliierten unterstützen, wo immer sie die bösen Leute bekämpfen.“
Interessanterweise dominiert die Eigenverantwortungsideologie in einer ganzen Reihen von Filmen und Serien aus den USA. Ich spreche in diesem Zusammenhang inzwischen vom „Spiderman-Prinzip“. Im dritten Film des Spektakels um den Spinnenmann (2007) spricht in der Schlussszene eine belehrende Männerstimme aus dem Off zum Zuschauer: „Unsere Entscheidungen machen uns zu dem, was wir sind. Wir haben immer eine Wahl.“ Das ist es wohl, was die Filmemacher einem Millionenpublikum ans Herz legen wollten. Jeder ist seines Glückes Schmied.
Gute sind gut, weil sie sich dazu entschieden haben. Böse dagegen sind selbst schuld. Wenn Sie viele Filme schauen, machen Sie sich einmal den Spaß und führen Sie eine Strichliste. Jedes Mal, wenn jemand behauptet, es seien unsere Entscheidungen, die unser Leben bestimmten, machen Sie einen Strich.
Ein weiterer berühmter Selbstermächtigungsfilm ist „Das Steben nach Glück“ (2006) mit Will Smith. Darin will es der Protagonist partout zum Börsenmakler bringen und heuert bei einer Leuteschinder-Agentur an, die dutzende von Bewerbern über Wochen umsonst für sich arbeiten lässt, wobei schon vorher klar ist, dass nur einer von ihnen — der Beste — am Ende einen Job erhalten wird. Anstatt dass der Film aber das Prinzip „Börse“ oder auch dieses arbeitnehmerfeindliche Bewerberauswahlverfahren in Zweifel zieht, wird lediglich das Heldenepos dessen gezeigt, der es am Ende trotz widriger Ausgangsbedingungen „schafft“. Die Verlierer im Spiel bleiben als irrelevante Ausschussware zurück. Protagonist Chris Gardner ist ein Bruder im Geiste von J.D. Vance. In einer zentralen Szene trainiert Chris mit seinem Sohn das Basketball-Spiel und hebt zu folgender Lehrrede an:
„Lass dir von niemandem je einreden, dass du etwas nicht kannst. Auch nicht von mir. Wenn du einen Traum hast, musst du ihn beschützen. Wenn andere etwas nicht können, wollen sie dir immer einreden, dass du es auch nicht kannst. Wenn du etwas willst, dann mache es — basta!“
Ursachen des „Rechtsrucks“ in den Staaten
J.D. Vance zeigt in seinem Buch beträchtliche Fähigkeiten zur Analyse der sozioökonomischen Rahmenbedingungen seines Familienhintergrunds. „Die weiße Arbeiterklasse breitet sich in den Armutsvierteln immer weiter aus. 1970 lebten fünfundzwanzig Prozent der weißen Kinder in Vierteln, die eine Armutsquote von über zehn Prozent hatten. 2000 waren es vierzig Prozent.“ Immer wieder verweist er aber vor allem auf die Verantwortung des Einzelnen, dem es an einer erfolgsorientierten Einstellung mangle.
„Man kann durch eine Stadt gehen, in der dreißig Prozent der jungen Männer weniger als zwanzig Stunden in der Woche arbeiten, und keinen einzigen Menschen finden, der sich seiner eigenen Faulheit bewusst ist.“
Vielfach wird Vance auch von seinen politischen Gegnern bescheinigt, die Ursachen für den politischen „Rechtsrucks“ bei den US-amerikanischen Unterschichten treffend analysiert zu haben. Sogar der Wahltriumph von Donald Trump 2016 sei durch sein Buch verständlich geworden, heißt es. Das US-amerikanische und auch das deutsche links-liberale Establishment verziehen ihm sein Buch aber nur solange, bis er selbst zu einem Teil jenes „Rechtsrucks“ geworden war.
„Schon in den siebziger Jahren begannen weiße Arbeiter, sich Richard Nixon zuzuwenden, weil sie den Eindruck hatten, dass ‚wir Sozialhilfeempfänger fürs Nichtstun bezahlen! Die lachen doch über unsere Gesellschaft! Und wir sind fleißige Leute, wir werden dafür ausgelacht, dass wir jeden Tag zur Arbeit gehen.‘“
Millionen von Menschen waren in den Nordosten der USA gezogen, um in der Industrie zu arbeiten. Als die Fabriken dann ihre Tore schlossen, steckten viele in prekären Situationen fest. Die Wohlhabenderen und Gebildeteren zogen weg, übrig blieben die Armen. Trotz dieser scharfsinnigen Analyse der großen Zusammenhänge scheint Vance mit seinem Buch aber vor allem zum Ausdruck bringen zu wollen, „wie unser Wohlfahrtsstaat den sozialen Verfall beförderte“.
Patriotismus und erniedrigende Rituale
Davon ließ sich J.D. aber nicht anstecken. Der spürte irgendwann, „dass ich mehr vom Leben wollte“. Als Folge dieses Impulses heuerte er bei den Marines an, einer Eliteeinheit, die für besonders krude Ausbildungsbedingungen bekannt ist.
„Wie jeder andere Hillbilly mit ein wenig Selbstachtung spielte auch ich mit dem Gedanken, in den Mittleren Osten zu ziehen, um Terroristen zu töten. (…) Ich hatte nicht vergessen, dass mich das Land brauchte, und ich sagte mir, dass ich es immer bereuen würde, wenn ich an Amerikas neuestem Krieg nicht teilnahm.“
Diese Äußerungen wirken auf diejenigen Leser, denen J.D. aufgrund seiner schweren Jugenderlebnisse schon ein bisschen ans Herz gewachsen war.
Der Junge aus der weißen Unterschicht will „für sein Land“ töten und unterwirft sich dafür komplett den demütigenden Ritualen der Militärausbildung.
„Die Grundausbildung ist als eine lebensverändernde Prüfung angelegt. Vom Tag der Ankunft an redet einen niemand mit dem Vornamen an. Man darf nicht ‚ich‘ sagen, weil man lernen soll, seiner Individualität zu misstrauen. Jede Frage beginnt mit ‚Der Rekrut‘. (…) Auf Schritt und Tritt werden die Rekruten daran erinnert, dass sie nichts wert sind, bis sie die Grundausbildung absolviert und sich den Titel ‚Marine‘ verdient haben.“ Diese Erfahrungen lassen J.D. jedoch nicht am politischen System seiner Heimat zweifeln. „Ich war in dem großartigsten Land der Erde zur Welt gekommen.“
Diese Mischung aus Naivität, Jovialität und Arroganz ist es, die uns Deutsche an US-Amerikanern immer wieder frappiert.
„Mamaw hatte immer zwei Götter: Jesus Christus und die Vereinigten Staaten von Amerika“, schreibt J.D. Vance. „Und für mich gab es nichts anderes, und für alle anderen, die ich kannte, auch nicht.“ Ihm kämen jedes Mal die Tränen, wenn er Lee Greenwoods Hymne „Proud to be an American“ höre. Da der Junge aus Ohio „es geschafft“ hat, könnte man argumentieren, dass ihn jene Selbstwert-Stütze, die sich Patriotismus nennt, immerhin weit gebracht hat.
Liest man seine Aussagen dagegen als symptomatisch für das ganze havarierte Land, das sich verzweifelt an den beiden treibenden Schiffsplanken Religion und Nationalstolz festklammert, dann stimmt das „Hillbilly“-Buch besorgt. Viele Systemverlierer lieben ihr Land, mag sein. Aber das schafft noch keinen einzigen menschenwürdigen Arbeitsplatz und ist kein Heilmittel für die tiefe Spaltung, die das Land zunehmend zerreißt.
Denn die „Eliten“ lieben vor allem sich selbst und setzen Patriotismus lediglich als „Hopeium“ ein, damit nach Halt suchende Menschen ihnen ihre Stimme und damit Macht geben.
Ein Vizepräsident des Volkes?
Wie würde der Autor von „Hillbilly Elegie“ als Vizepräsident mit „seinen“ Leuten umgehen? „Ich bin sicher, dass er das Beste für mich tun kann, denn er kennt mein Leben so gut wie seines“, sagt ein Tankstellenangestellter aus Middleton, Ohio, Vances Heimatstadt. Wird das wirklich so sein? Oder soll der Polit-Aufsteiger nur Menschen aus der Arbeiterklasse für Trump „einfangen“, damit dieser dann doch wieder Politik für die Reichen macht? Die passende Ideologie, um die Armen im Ernstfall erneut fallen zu lassen, hat der Sonnyboy, der auf der Schattenseite der Gesellschaft aufgewachsen ist, schon längst kreiert.
„Wenn ich gefragt werde, was ich an der weißen Arbeiterschicht am liebsten ändern würde, sage ich deshalb immer: ‚Das Gefühl, dass unsere Entscheidungen keine Folgen haben.‘.“
Bei der Lektüre von „Hillbilly Elegie“ beschleicht einen das Gefühl, dass ein solcher Vizepräsident niemals versuchen wird, das Spiel zu verändern. Es reicht ihm, dass er selbst es geschafft hat, die Seiten zu wechseln.
„Was die Erfolgreichen von den Gescheiterten unterscheidet, sind die Erwartungen, die sie an ihr eigenes Leben gestellt haben. Aber was sie immer öfter von der politischen Rechten zu hören bekommen, ist: Es ist nicht deine Schuld, dass du ein Versager bist. Es ist die Schuld der Regierung.“
Dies kommt mir so vor, als habe Vance schon Jahre, bevor er in die Politik ging, vorsorglich ein Narrativ kreiert, das ihn als Verantwortlichen später entlasten könnte, wenn er für die Unterschichten nichts erreicht. „Ich würde ja gern, aber bei so einem unmotivierten Sauhaufen hilft selbst die brillanteste Politik nichts mehr.“
Nur auf dich kommt es an!
J.D. Vance gibt an einigen Stellen zu, dass es nicht nur seine „Entscheidungen“ waren, die ihm aus dem sozialen Sumpf heraushalfen, sondern vor allem auch die Liebe und Großzügigkeit von Mamaw. Dennoch ist seine Grundthese, dass Politik nicht viel bewirken kann, wenn der Fehler im privaten Bereich liegt, also „außerhalb dessen, was der Staat leisten kann“. Er schreibt:
„Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen. (…) Die genaue Lösung kenne ich auch nicht, aber ich weiß, dass sie dort ansetzt, wo wir aufhören, Obama oder Bush oder irgendwelche gesichtslosen Konzerne verantwortlich zu machen, und uns fragen, was wir selbst tun können, um die Lage zu verbessern.“
Als Arbeitshypothese im Sinne der Selbstermächtigung ist diese Einstellung vielleicht brauchbar: ‚Ich glaube daran, dass ich eine Chance habe, und will sie nutzen.‘ Aber wenn in einer Region eine Fabrik schließt, die für hunderte oder tausende Arbeitsplätze gesorgt hatte und wenn dann plötzlich auf eine freie Stelle 10 Bewerber kommen, kann Mentaltraining nicht jeden Gutwilligen in Lohn und Brot bringen. Jeder kann es schaffen — theoretisch —, aber nicht alle können das. Der großartige Filmanalyst Wolfgang M. Schmitt nimmt in einem seiner Videos Bezug auf ein Zitat aus dem Film „Hillbilly Elegie“. Es lautet: „Es scheint, als hätte immer etwas gefehlt, die Hoffnung vielleicht.“ Schmitt erwidert:
„Es wäre ja zu fragen, ob es wirklich nur an der Hoffnung gelegen hat, oder ob nicht ein großer Prozess wie zum Beispiel eine Deindustrialisierung und eine Finanzialisierung des Kapitalismus dafür gesorgt haben, dass diese Arbeiter aus Hillbilly-Land oder aus Ohio nicht mehr gebraucht wurden.“
Im Schatten einer dysfunktionalen Familie
Am sympathischsten ist mir „Hillbilly Elegie“, wenn der Autor tatsächlich einmal nicht nur seine Mutter, sondern sich selbst kritisiert. Vance gelang es, ein Stipendium an der renommierten Yale-Universität zu bekommen, wo er Jura studierte. Der Junge mit dem prolligen Background fremdelte mit den Sitten der Oberschicht, schaffte es aber, sich anzupassen. J.D. lernte seine spätere Frau Usha kennen, eine Tochter indischer Einwanderer, die ihm — obwohl „farbig“ — hinsichtlich ihres gesellschaftlichen „Rangs“ überlegen war. Wegen seiner unseligen „Familientradition“, schreibt er, hätte er Usha fast verloren.
„Also brüllte ich, schrie herum. Ich tat all das, was ich bei meiner Mutter so gehasst hatte. (…) All diese Jahre hatte ich Mom als eine Art Scheusal hingestellt. Und jetzt verhielt ich mich wie sie. Nichts ist so furchteinflößend wie die Vorstellung, so zu werden wie das Ungeheuer, das du in deinem Keller weggeschlossen hast.“
Obwohl J.D. mehrfach „ausfällig“ wurde, hielt seine spätere Frau zu ihm. „Die traurige Wahrheit ist, dass ich es ohne Usha nicht schaffen würde.“ Usha Vance lobte ihre Gatten denn auch in einer öffentlichen Rede: „Obwohl er ein Fleisch- und Kartoffel-Typ ist, nahm er meine vegetarische Lebensweise an.“ Auch respektiert J.D., der sich gern auch öffentlich als praktizierender Christ in Szene setzt, den hinduistischen Glauben seiner Frau.
An solchen Stellen wird deutlich, dass diese Autobiografie eine andere Qualität hat als die schnell zusammengeklauten Schriftwerke einer Kamala Harris oder Annalena Baerbock. Hier spricht ein „richtiger“ Mensch, was für einen Politiker nicht wenig ist. Allerdings kann Idealisierung in die Irre führen, denn der Aufstieg von J.D. Vance, der schon bei den Marines wahrscheinlich eine heftige Gehirnwäsche durchlaufen hat, ist eng mit der Ideologie des Finanzkapitalismus verknüpft. Sein Lebensinhalt, bevor er Politiker wurde, waren Risiko-Kapitalanlagen (Venture Capital).
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“, schrieb Bertolt Brecht. Irgendwoher muss das Geld kommen, das Investmentfirmen als Rendite ausschütten können. Geld arbeitet nicht, Menschen arbeiten — auch für die Gewinne von „Investoren“, die für sich einen erheblichen Teil des Gewinns abzweigen, ohne an der Wertschöpfung beteiligt zu sein.
Nach seinem Studium in Yale arbeitet J.D. Vance zunächst bei für eine Investmentfirma des Pay-Pal-Mitbegründers Peter Thiel, der ihn Donald Trump auch als „Running Mate“ vorgeschlagen haben soll. J.D.s vielfältige Investments sind ein unübersichtliches Feld. Zur Last gelegt wird ihm von linksliberaler Seite oft seine finanzielle Unterstützung für die Plattform rumble, die als Alternative zu youTube konzipiert war und als „rechtslastig“ verschrien ist.
Ein „Duo Infernale“
Ohne Zweifel hat Vance ein Händchen für angesagte Trends und die Begabung, sich immer an die richtigen Unterstützer dranzuhängen. Donald Trump ist hierfür wohl das folgenreichste Beispiel. Vor der Präsidentschaftswahl 2016 bezeichnete Vance Trump noch als „zynisches Arschloch“ und als „Amerikas Hitler“. Diese Einstellung änderte er just in dem Moment, als er beabsichtigte, als republikanischer Kandidat Ohios für den Senat zu kandidieren. Plötzlich zeigte er sich überrascht, dass sein früheres Schreckgespenst sich als „großartiger Präsident“ entpuppt hatte. „Karriere macht man in der republikanischen Partei heute nur noch, wenn man sich Trump bedingungslos unterwirft“, analysierte der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Bierling.
Typischer Weise wird Vance in der deutschen Presse seither als jüngere Version von Donald Trump oder gar als eine Hardcore-Version desselben bezeichnet, was als Beleidigung gemeint ist. Aus europäischer Perspektive besagt das Schreckensszenario, die USA würden sich unter Trump und Vance zurückziehen und „uns“ mit Wladimir Putin allein lassen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2024 gab der Running Mate zum Besten:
„Europa muss unabhängiger werden. Putin steht in eurem Vorgarten. Die USA schauen jetzt mehr auf Asien. Niemand kann erwarten, dass wir Europas Sicherheit garantieren.“
Tatsächlich könnte es unter der Regentschaft des „Duo Infernale“ (Wolfgang Bierling) so kommen. Deutschland würde — schutz- und vaterlos geworden — vermutlich „endlich erwachsen werden“ und versuchen, mittels einer ruinösen Erhöhung der Rüstungsausgaben Putin im Alleingang zu erledigen.
Wir müssen von vornherein damit rechnen, dass die deutschen Leitmedien Vance erbittert bekämpfen und nur die krudesten Storys aus seinem Leben ausgraben werden — der Vizekandidat sei flüchtlingsfeindlich und habe haitianischen Einwandern vorgeworfen, die Haustiere anständiger Amerikaner zu essen. Es mag skurrile Verirrungen des Kandidaten geben, es empfiehlt sich aber immer, sich ein möglichst vollständiges Bild zu machen. Wie im Fall des AfD-Bashings kaprizieren sich die Medien auch bei Trump und Vance oft auf die falschen Themen, auf symbol- und skandalträchtige Ausrutscher, vor allem wenn man diese als „rechts“ framen kann. Was dabei selten thematisiert wird, ist — auch dies eine Parallele zur AfD — die Tatsache, dass jemand wie Vance womöglich sozial blinken und dann kapitalistisch abbiegen wird. Dass er also mit „Ich bin einer von euch“-Charme punkten und dann als Vize wieder nur die Interessen des Großkapitals bedienen dürfte, dem er sich, lange bevor er Politiker werden wollte, verschrieben hatte.
Arme bauchpinseln, statt Armut abschaffen
Wolfgang M. Schmitt sieht in den „Hillbillys“ aus J.D.s Milieu vereinzelte, in systemischem Denken nicht geschulte Menschen ohne Klassenbewusstsein. Daher seien sie ein gefundenes Fressen für Populisten. Der Verfilmung von Vances Memoiren sei aber anzukreiden, dass in ihm ebenfalls nicht über Systemisches nachgedacht würde. Aus der Darstellung des Unterschichten-Milieus werde „nie eine Analyse der herrschenden Ordnung abgeleitet“, so Schmitt.
„Es geht eigentlich nur darum, ein bisschen awareness für die Armen zu schaffen. Ihr ökonomischer Status soll unverändert bleiben. (…) Das ist genau das, was Trump und J.D. Vance versprechen: Sie rufen den Hillbillys zu: Wir verachten euch nicht. Wir sind nicht wie die Liberalen. Wir sind eigentlich so wie ihr, ein bisschen vulgär, ein bisschen rassistisch, aber immer geradeaus, und die Familie ist uns natürlich das Wichtigste. Politik macht man aber dann weiterhin für die oberen Zehntausend. So ist ja jetzt schon abzusehen, dass Trump große Steuererleichterungen für Konzerne vorhat.“
Dies könne aber bedeuten, dass sich die Armut für die Hillbillys weiter verschlimmert, schon weil vor lauter Reichen-Entlastung im Steuersäckel kein Geld mehr für Soziales übrig sein wird. „Es reicht nicht aus, Arme nicht zu diskriminieren, es müsste eigentlich darum gehen, die Armut als solche abzuschaffen.“ Schmitt zählt einige systemische Probleme auf, die die Handlung von „Hillbilly Elegie“ beeinflusst haben und regt an, „dass wir es hier mit Subjekten zu tun haben, die gerade nicht autonom sind, wie der Film suggeriert, sondern die vom Kapital und dessen Interessen beherrscht werden.“
Die Simulation von Respekt
Aber diesen Schritt wolle der Filmemacher nicht gehen.
„Hier geht es nur darum, dass man aus sich selbst heraus eine Motivation schafft, um dann herauszukommen aus der Misere. Es ist also eigentlich die Blaupause dafür, dass man den Sozialstaat kurz und klein schlagen kann. Denn es reicht doch, wenn es einzelne Subjekte wie J.D. gibt und die Großmutter, die so energisch am Ausstieg arbeiten, dass sie es dann schaffen. Völlig egal, was mit all den anderen passiert. (…) Dieser Film stellt sich absichtlich dumm, um den Zuschauern zu sagen: Ja, die Verhältnisse sind sicherlich nicht einfach, aber jeder kann es schaffen.“
Der Film zeige auch, welchen Narrativen Rechte ihre Wahlerfolge zu verdanken haben, nämlich „dass man versucht, so zu tun, als verstünde man die einfachen Leute, als habe man größten Respekt vor ihnen. Nur eines will man nicht: Man will ihnen nicht aufzeigen, wer an ihrer Misere schuld ist, nämlich nicht sie selbst, sondern die anderen, das Kapital, die mächtigen Interessen in der Politik. Und man will auch nicht ihre Situation in irgendeiner Weise verbessern.“ Nur eine Botschaft sollten die Armen aus dem Film mitnehmen:
„Uns macht zwar aus, woher wir kommen, aber wir können jeden Tag selbst entscheiden, wer wir werden wollen.“
Die hier von Wolfgang M. Schmitt angestellten Überlegungen sind sehr hilfreich auch bei der Einschätzung der erwartbaren Politik in einem von Union und AfD dominierten Deutschland. Verzweifelt über die Politik der Ampel könnten viele die mit einem solchen „Rechtsruck“ verbundenen Probleme nicht klar genug ins Auge fassen.
Der übernächste Präsident?
Lohnt sich eine nähere Betrachtung dieses Mannes, der nur für die US-Vizepräsidentschaft kandidiert? Nun, die Chancen für das Duo Trump/Vance stehen wenige Tage vor dem Wahltermin, gut. Zumal, nachdem Joe Biden die Trump-Anhänger in einem Anflug von Ehrlichkeit als garbage (Müll) bezeichnet hat.
Es ist genau diese linksliberale Überheblichkeit, die die „Hillbillys“ und andere Systemverlierer auf die Barrikaden treiben und in Richtung Trump lenken könnte. Die Chancen, dass J.D. auch deutschen Nachrichtenschauern noch oft begegnen könnte, sind also groß. Und mehr noch:
Der Vizepräsident eines alten Mannes, der zudem attentatsgefährdet ist, könnte, wenn er es geschickt anstellt, durchaus einmal Präsident werden.
Wer Auftritte von J.D. und Usha Vance beobachtet hat, der wird feststellen, dass hier durchaus „Superstar“-Potenzial vorhanden ist. JFK und Jacky in der Netflix-Serien-Version mit einem Schuss Diversität. Wenn ihn der Ruf ereilte, wäre es unwahrscheinlich, dass sich Vance das Amt nicht zutrauen würde. Vielleicht flüstert ihm Mamaw dann aus dem Jenseits ins Ohr, was schon zu Lebzeiten ihr Mantra war: „Unsere Entscheidungen machen uns zu dem, was wir sind. Wir haben immer eine Wahl.“ Oder sagte das Spiderman? Ich verwechsle das immer ….
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