Das taktische Konzept der Umweltschützer war denkbar einfach. Sie nutzten ihre numerische Überlegenheit, um den Truppen am National Park jeden Tag an anderer Stelle auf die Pelle zu rücken. Die Konzentration von zehntausenden friedlicher Demonstranten an einem willkürlich ausgesuchten Punkt entlang der Ostflanke des Parks band jedes Mal ein Großteil der Armeeeinheiten, so dass es den Sabotagetrupps von „Earth First!“ relativ leicht fiel, fernab der errichteten Scheinfronten in den Wald zu stoßen.
Cording begleitete einen Trupp von zwölf Aktivisten in Tarnuniformen , die sich unter Führung Ed Densons in dem weit verzweigten Höhlensystem versteckten, das unterhalb des Hupa Mountains am Schnittpunkt zweier Forststraßen lag, auf denen die gefällten Baumriesen abtransportiert wurden. Heute war der Tag, an dem Pacific Lumber drei weitere Rodungsmaschinen anlieferte. So jedenfalls lautete die Information, die der Kommandozentrale von „Earth First!“ vom Shasta Lake zugespielt worden war, wo die Maschinen bisher gewütet hatten. Die „Killa Godzillas“, wie sie von den Umweltschützern genannt wurden, befanden sich kurz hinter Willow Creek. Wie Ed Denson über Mobilfunk erfuhr, bewegten sie sich im Schutze eines Panzers direkt auf sie zu. In zwei Stunden würde es an dieser Stelle zum Showdown kommen ...
Die Anspannung unter den Ökokriegern wuchs. Gesprochen wurde kaum. Noch waren die selbst gebastelten Bomben mit den Fernzündern auf der Piste nicht installiert, noch zogen die mit Baumstämmen beladenen Trucks im Minutentakt vorbei. Aber irgendwann würden die Verantwortlichen die Schotterstraße sperren. Es galt, das Zeitfenster von der Straßensperrung bis zum Eintreffen der „Godzillas“ zu nutzen. Die Aktion war mit einem hohen Risiko verbunden. Die Kontrollflüge der Helikopter würden eher noch verstärkt werden, und die Piste war von oben gut einsehbar.
Cording lauschte dem gespenstischen Geräuschpotpourri, das wie ein akustischer Nebel aus dem Wald stieg. Über allen Wipfeln ist Ruh... Von wegen. Allein das hysterische Geschrei der Vögel hätte ausgereicht, ihm den letzten Nerv zu rauben. Aber die tierische Verzweiflung verschaffte sich nur bedingt Gehör. Am Himmel, die schmatzenden Schläge der Rotorblätter, am Boden das schrille Gebrüll der Kreissägen, gewürzt mit den dumpfen Vibrationen, die vom Aufprall der niedergemetzelten Redwoods rührten. Und als ob die Untergangssinfonie noch eines burlesken Tupfers bedurft hätte, schleuderte ein Ambulanzwagen den zum Tode verurteilten Bäumen seinen Sirenengesang um die Stämme.
Cording blickte zu Ed hinüber, der kreidebleich auf sein Handy starrte.
„Sie machen ernst...“, stammelte er.
„Was meinst du?“ fragte Cording.
Ed antwortete nicht.
„Was ist los, Mann?!“ rief jemand.
„Sie haben Richard erwischt“, erwiderte Ed wie in Trance. „Bill und Tommy auch. Die anderen sind abgestiegen und verhaftet worden“.
Cording konnte sich keinen Reim daraus machen. Schließlich erfuhr er, dass die Waldarbeiter wohl Anweisung erhalten hatten, auch jene Bäume zu fällen, in deren hohen Kronen „Earth First!“-Aktivisten ihr Leben verpfändeten. Ein Quantensprung der Gewalt. Für Eds Leute bedeutete die Nachricht, dass sie ihren Anschlag auf die „Killa Godzillas“ unbedingt erfolgreich gestalten mussten. Eine einzige dieser Maschinen kostete über zwei Millionen Dollar und legte pro Tag bis zu tausend Bäume um. Wer ein solches Monstrum ausschaltete, erregte Aufmerksamkeit. Und nichts brauchten die Ökokrieger zurzeit dringender, als einen symbolträchtigen und medienwirksamen Erfolg.
Seit fünf Minuten hatte sich auf der Forststraße nichts mehr bewegt. Die beiden Helikopter, die flach über den Bäumen ihre Kreise gezogen hatten, stoben mit tief hängender Stirn in östlicher Richtung davon. Für einen kurzen Moment wurde es still, als hätte jemand dem sterbenden Wald das Leichentuch übergeworfen. Doch die Stille währte nicht lange. Aus der Ferne drang das quietschende Geräusch von Panzerketten an ihre Ohren.
Ed gab das Zeichen. Neun seiner Männer stürmten in Dreiergruppen den Hang hinunter. Die Aufgaben waren genau verteilt. Der erste einer jeden Gruppe wickelte die Zündschnur von der Spule, ein Zweiter hob mit dem Spaten zwei Löcher aus und der Dritte buddelte die Tellerminen ein. Am Ende schlummerten sechs hoch explosive Zwillingsbomben im Abstand von zwanzig Metern in der Piste. Die ganze Angelegenheit hatte keine drei Minuten gedauert. Als die Helikopter zurückkamen und das Kettengerassel anschwoll, lagen die Ökokrieger längst wieder in Deckung.
Cording robbte an den Rand der Höhle. Im selben Moment packte ihn jemand bei den Füßen und zerrte ihn zurück, so dass er nur einen kurzen Blick auf die herannahenden Maschinen werfen konnte. Groß waren sie und breit, ihr Anstrich giftiggelb. Sie leuchteten in den Abgasschwaden des vorausfahrenden Panzers wie Phosphor auf dem Grund der Hölle. Und oben im Führerhaus thronte ein Menschlein, das vermutlich Familie und eine gute Meinung von sich hatte. Das gleich dran glauben musste... Er wunderte sich, dass ihn die Vorstellung nicht schreckte. Diese dienstbaren Kreaturen in ihren Cockpits waren in der Lage, durch eine geringfügige Drehung des Joysticks den Schleier der Schöpfung zu zerreißen und Paradiese in Parkplätze zu verwandeln
Wieder einmal überkam Cording ein nicht zu bändigender Hass auf die Spezies, der er angehörte und deren einzige Bestimmung die Zerstörung des Planeten zu sein schien. Irgendwann würde er an dieser Erkenntnis zerbrechen. Vielleicht hätte er seine Sensibilität im Widerstand ersticken sollen, er hätte zum Beispiel einer von diesen Guerillatypen werden können. Einer, der bereit war, guten Glaubens einen Forstarbeiter zu erledigen, bevor der letzte Baum zu Boden fiel. Der bereit war, sich selbst zu opfern, falls es notwendig sein sollte. Aber er war nun mal keiner, der klaglos seinen Ameisendienst verrichtete, nicht einmal in einer moralisch hoch gerüsteten Armee. Außerdem war er zu feige für den Kriegsdienst. Er hatte sich für ein Reporterleben entschieden. Als Reporter blieb er unangetastet und wurde doch Zeuge all der Tränen, Ängste, Missverständnisse und Vergewaltigungen, Zeuge von Gewalt und Verbrechen, Zeuge für das gesammelte Aufgebot gegen die Lebensfreude. Auch keine einfach zu ertragende Aufgabe.
Ein ohrenbetäubender Knall holte ihn in die Gegenwart zurück. Es fühlte sich an, als sei sein Kopf in tausend Stücke zerplatzt. zwei weitere Detonationen folgten, sie machten nur noch leise PUFF! Scheiße, dachte er, ich höre nichts mehr! Während sich die Jungs um ihn herum in den Armen lagen und ihre Münder Jubelschreie artikulierten, hielt sich Cording die Nase zu und presste Luft in die Ohren. Vergeblich.
„Was ist passiert!?“ schrie er, als Ed ihm triumphierend auf die Schulter haute. Er verstand seine eigenen Worte nicht, Eds Antwort verstand er schon gar nicht. Dass er nahezu taub war, hatte er einer Unachtsamkeit zu verdanken. Während er die vom Mittagsregen gereinigte, vom Duft der Kiefern schwer gewordene Waldluft inhalierte, hatten die anderen die Abgase des Panzers geschnuppert, den Befehl zum Sprengen der Minen abgewartet und sich zur rechten Zeit die Ohren zu gehalten.
Cording kroch erneut aus der Deckung. Da er schon nichts hörte, wollte er sich zumindest einen Überblick verschaffen. Auf der Forststraße sah es aus wie nach einem Bombenangriff. Der erste der gelben „Godzillas“ lag brennend auf der Seite. Er hatte seinen Fahrer unter sich begraben, von dem nur die Hand hervorschaute, die in diesem Moment aufhörte zu zucken. Der zweite war auf den rußgeschwärzten Bauch gefallen und dem dritten fehlten Schnauze und Führerhaus. Der Begleitpanzer zerrte an den Ketten wie ein gereizter Kampfhund. Sein Geschützrohr schwenkte hektisch auf und ab, aber ein Ziel fand er nicht. Auch die beiden Helikopter standen hilflos im aufsteigenden Rauch, denn noch gab es hier Bäume, die sie an einer Landung hinderten.
Cording stellte erleichtert fest, dass er das Schlagen ihrer Rotorblätter vernehmen konnte, nicht sehr laut, aber immerhin. Die Maschinengewehrsalve, die kurz darauf neben ihm einschlug, hörte er schon beträchtlich deutlicher. Diesmal brauchte man ihn nicht an den Füßen in die Höhle zu zerren, diesmal sprang er von selbst in Deckung als hätte man ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Über der Plattform, auf der er eben noch gelegen hatte, stürzte die Decke ein. Kopfgroße Felsbrocken hagelten auf die Männer nieder. Die beiden Ökokrieger, die neben ihm auf allen Vieren den schützenden Katakomben entgegen krochen, wurden von der Bühne geschossen wie Blechenten auf dem Jahrmarkt.
Cording lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch. Er kannte diesen Moment, in dem sich die Zeit extrem dehnt, in dem eine Gewehrkugel mit der Grazie und Geschwindigkeit einer Daunenfeder angeflogen kommt, in dem man ohne Gefühle und ohne Angst ist. Dies ist der Moment der Aufgabe. Das Leben lässt einen los und plötzlich ist alles im Lot und alles geschieht zur rechten Zeit ...
Als er aus der Starre erwachte, musste er feststellen, das das Leben ihn nicht etwa losgelassen, sondern fest im Griff hatte. Jemand schleifte ihn am Gürtel über den staubigen Boden ins Dunkel. Es war Ed, der ihn aus der Schusslinie zog. Über dem Höhlenausgang lag ein Vorhang aus schwarzem Qualm. Immer noch schossen die Helikopter ihre Maschinengewehrgarben hinein und der Panzer legte wuchtig nach, als wollte er den Berg verrücken. Ed zündete ein Feuerzeug an. Gemeinsam ertasteten sie den Weg in das Höhlenlabyrinth, das ihnen hoffentlich einen Ausgang bescherte.
„Wo sind die anderen?“ fragte Cording, während er sich im Halbdunkel hinter Ed an der Wand entlang tastete. Er hörte immer noch schwer und war nicht sicher, ob Ed ihm überhaupt geantwortet hatte. Den ganzen Weg über quälte er sich mit Schuldgefühlen, schließlich war er es, den die Soldaten als erstes entdeckt hatten. Das gestand er Ed auch ein. Der winkte nur unwirsch ab.
„Es ist Jacks Schuld“, sagte er,„Jack hätte nicht auf den Helikopter schießen dürfen.“
Cording versagten die Beine. Die Anspannung der letzten Stunden fiel mit einem Schlage von ihm ab. Es war nicht er, der die Schießerei ausgelöst hatte, es war Jack! Jack hatte auf den Helikopter geschossen! Cording hatte es nur nicht gehört! Da hatten sie bei dem Einsatz vermutlich neun Tote zu beklagen und alles was er jetzt spürte, war ein Gefühl der Erleichterung.
In den nächsten Stunden war es Cording, der die Führung übernahm. Er war es, der die dunklen Gänge des Labyrinths auskundschaftete und in die Stollen kroch, bis es nicht mehr weiter ging. Der umkehrte, sich um Eds verletztes Knie kümmerte und erneut Anlauf nahm. Irgendwann, es war noch dunkel, witterte er Morgenluft. Waldluft, um genau zu sein. Vom Duft der Sequoias schwer gewordene Waldluft. Er ging zurück und holte Ed. Gemeinsam standen sie am Höhlenausgang und blickten ehrfürchtig an den Stämmen der Mammutbäume empor in einen funkelnden Sternenhimmel. Cording legte seinem Begleiter den Arm um die Schulter. Eigentlich konnte er zufrieden sein, er hatte seine Story. Und er würde wie immer das Beste daraus machen...
David Apfelbaum, Inhaber des „Hotel Davi“ in San Francisco, war extra aus seiner Penthousewohnung herunter gekommen, um sich von seinem deutschen Gast zu verabschieden. Sie setzten sich abseits des hufeisenförmigen Tresens ins Séparée des hauseigenen Restaurants. Vor dem Eingang pöbelte ein hagerer Mann Passanten an. Er hatte sich Lappen um die Füße gewickelt und steckte in einem zerrissenen Armeemantel. Nach einigem Zögern trat er ein. Seine stechenden Augen bewegten sich wie Suchscheinwerfer im Raum. Als er David entdeckte, marschierte er direkt auf ihn zu.
„Erinnern Sie sich an mich?“ fragte er. „Vor fünf Jahren haben Sie mir angeboten, dass ich jederzeit zu Ihnen kommen darf, wenn ich hungrig bin...“
David bedeutete der Kellnerin durch eine unauffällige Geste, dass der Herr zu speisen wünschte. Der kleine Tiger, wie der „San Francisco Chronicle“ den untersetzten Mann mit dem schütteren Haarkranz einmal genannt hatte, galt unter den Obdachlosen des Theatre Districts als Wohltäter. Aber nicht nur die Obdachlosen kamen gerne hierher, auch für die Prominenten der Stadt hatte das Restaurant einen besonderen Reiz. Sie fanden Gefallen an dem perversen Vergnügen, der Fütterung der „menschlichen Raubtiere“ beizuwohnen. Der Laden gehörte zur Stadt wie die City Hall, Alcatraz oder die eingestürzte Golden Gate Bridge.
Die Telefonistin kam an den Tisch und teilte Cording mit, dass ein Anruf aus Hamburg in der Leitung sei. Es war sein Chefredakteur. Mike bestand darauf, dass er den Flug nach Deutschland cancelte, und sich stattdessen nach Baja California aufmachte.
„Kann das nicht New York übernehmen?“ fragte Cording genervt.
„Nichts da. Es ist unsere Geschichte und damit basta!“
„Was machst du denn für ein Aufhebens um ein paar Wale, Mike? Ich versteh das nicht“.
„Ein paar Wale?! Es sind Hunderte, die sich da unten an die Strände werfen. Das ist kollektiver Selbstmord!“
„Das ist doch eine typisch TV-Geschichte, so was transportiert sich über Bilder und nicht über Worte. Oder soll ich die Viecher etwa fragen, was sie sich dabei gedacht haben?“
„Hör zu, ich hab keine Zeit, weiter mit dir zu diskutieren. Wenn Du an deinem Job hängst, dann fährst du da jetzt runter. Machs gut.“
Was blieb ihm anderes übrig, als den Heimflug zu stornieren und beim Autoverleih in der Geary Street vorstellig zu werden? Er entschied sich für ein weinrotes BMW-Cabrio. Das würde zwar Ärger mit der Buchhaltung geben, aber er könnte einfach behaupten, dass sie etwas Billigeres auf die Schnelle nicht parat gehabt hätten. Wer wollte ihm das Gegenteil beweisen? Hinter Monterey stellte er mit einem zufriedenen Grinsen fest, dass diese ungeplante Verlängerung seiner Dienstreise durchaus auch angenehme Seiten hatte.
„Hier also hält sich Gott versteckt!“ hatte D. H. Lawrence entzückt notiert, als er 1925 die unwegsame mexikanische Halbinsel Baja California besuchte. Cording hielt den Kopf in den Fahrtwind, um der brennenden Stirn Linderung zu verschaffen, aber ebenso gut hätte er ihn in einen Hochofen stecken können. Wenn Gott diesen 1200 Kilometer langen Wurmfortsatz Kaliforniens tatsächlich zu seinem Versteck erkoren hatte, musste er verdammt hitzeresistent sein. Zuzutrauen war es ihm. Damit wäre er wohl der einzige, der alle Voraussetzungen mitbrachte, die vom Menschen verursachte Klimakatastrophe zu überleben.
Baja war ein widerstandsfähiges Fleckchen Erde, das es verstanden hatte, sich die Menschen vom Hals zu halten. Die erfolgsverwöhnte Spezies des Homo Sapiens scheiterte bis heute an der grandiosen Feindseligkeit des Landes, das in der Mitte des amerikanischen Kontinents noch immer zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Erde gehörte. Seine von der Sonne gebackenen Gebirge, seine weiten Sandwüsten und abgrundtiefen Canyons duldeten den Menschen allenfalls als Gast.
Die erst 1973 gebaute Mex 1, auf der sich Cording jetzt bei geschlossenem Dach Richtung Süden bewegte, war die einzige Zivilisationswunde, die man der Halbinsel hatte zufügen können. Sie schlängelte sich 1700 Kilometer von Tijuana nach Cabo San Lucas. Wie gelassen Baja das asphaltierte Implantat zur Kenntnis nahm, ließ sich aus den Trümmern entlang der Strecke ablesen : blutrote Splitter von Rücklichtern, geborstene Windschutzscheiben, bis zum Dach verschüttete Autowracks und rostige Auspuffrohre, die aus dem Sand ragten, wie die Arme von Ertrinkenden - das alles zeugte davon, mit welcher Souveränität der Wüstenstrich sich der Automobilmachung zu erwehren wusste. Wo ein Fahrzeug stecken blieb, lag es für immer.
Mit jedem Kilometer, den Cording in diese unwirtliche Landschaft vordrang, verstärkte sich der Eindruck, auf einem anderen Stern unterwegs zu sein. Sämtliche Farben wirkten wie auf schwarz gemalt, dies war der dunkelste Sonnenhimmel der westlichen Hemisphäre. Die Temperaturen erreichten 55 Grad im Schatten, aber wo war schon Schatten? Immer schienen die hintereinander gestaffelten Bergrücken zum Greifen nah, so klar war die Luft. Allmählich entwickelte er ein Gefühl für die erhabene Schönheit dieses gnadenlosen Paradieses. Er war überwältigt von den Cardón-Kakteen, die als gigantische Zeigefinger oder mächtige Kandelaber bis zu zwanzig Meter in den Himmel ragten. Gelegentlich witterte er das Parfüm des Meeres.
Er fuhr rechts ran und studierte die Karte. Den Abzweig nach Bahia de los Angeles hatte er gerade passiert. Bis zur Lagune Ojo de Liebre waren es noch etwa fünfzig Meilen. Als er vom Standstreifen auf die Straße zurückkehrte, hätte er fast einen Campingbus gerammt, der von dem plötzlichen Ausweichmanöver aus der Bahn geworfen wurde und nun heftig schlingernd in die Spur zurückfand. Es handelte sich um eine ganze Kolonne solcher Gefährte, in die er geraten war
Ziel dieser Untergangstouristen waren die warmen Salzwasserlagunen bei San Ignazio, Guerrero Negro und Bahia Magdalena. Vor langer Zeit waren sie schon einmal Schauplatz eines tierischen Massensterbens gewesen. Die Lagune Ojo de Liebre, wo sich die meisten Wale an Land warfen, trägt im englischen den Namen Scammon’s Lagoon, benannt nach dem Walfängerkapitän Charles Melville Scammon. „Die Küsten von Baja sind voller riesiger Knochen“, notierte er vor zweihundert Jahren in sein Tagebuch, „es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die Grauwale nicht mehr unter den lebenden Rassen weilen werden“. Da auch seine Nachfolger in seinem Sinne wüteten, war der weltweite Bestand auf 250 Exemplare geschrumpft, bevor man die Tiere 1937 endlich unter Schutz stellte. Heute schätzte man ihre Zahl auf 30.000.
Seit Urzeiten zogen die Grauwale in immer gleichen Formationen aus den arktischen Meeren in ihr pazifisches Winterquartier. Auf der zehntausend Kilometer langen Wanderung legten sie täglich 200 Kilometer zurück. Cording hatte sich die Bilder der gestrandeten Wale vor seiner Abreise aus San Francisco noch einmal im Fernsehen angesehen. Er glaubte nicht an die Mär vom kollektiven Selbstmord. Für ihn war das nichts weiter als ein Mediencoup, ein Verkaufsschlager, der das Mitleidspotential eines Massenpublikums bediente. Seiner Meinung nach musste es eine logische Erklärung für das Verhalten der Tiere geben. Der Mensch funkte im Meer inzwischen auf allen Frequenzen. Allein das Unterwasserradar der Militärs dürfte ausreichen, das sensible Ortungssystem der Wale außer Kraft zu setzen. Wieso sie trotzdem in ihre Kinderstube zurück fanden, um zu sterben blieb ihm allerdings ein Rätsel.
Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war sein Chefredakteur, wer sonst. Wie immer war er sehr kurz angebunden.
„Sorry“, sagte Mike, „die Londoner haben umdisponiert. Sie haben nun doch ein Fernsehteam runtergeschickt. Müsste schon vor Ort sein. Tut mir leid. Wo bist du gerade?“
„Kurz vor der Lagune Ojo de Liebre “.
„Na ja, dann schau dir das Spektakel halt an, wenn du willst, aber komm so schnell wie möglich zurück nach Hamburg.“
Er hatte es Mike ja gesagt, dies hier war eine TV-Geschichte.
Um Himmels Willen! Was tat sich denn da vorne in den Dünen? Sah aus wie bei einem Freilichtkonzert oder Rodeo. Autos, Wohnwagen und Zelte, so weit das Auge reichte. Auf der Straße war kein Durchkommen mehr. Cording setzte den BMW zurück und parkte am vorläufigen Ende der Blechschlange. Dann griff er nach dem Strohhut, den er sich in Tijuana gekauft hatte, und stapfte auf glühend heißem Untergrund auf jenen langen Kamm zu, der ihm auf den letzten Kilometern den Blick aufs Meer beharrlich verstellt hatte.
Dahinter ging es sanft bergab. Der Ozean glitzerte in der Mittagssonne. Er lag da wie gebügelt. So regungslos wie die schiefergrauen, zehn Meter langen gestrandeten Kolosse, die im flachen Wasser dümpelten, während hunderte mit Eimern bewaffneter Helfer versuchte, ihre austrocknenden Körper feucht zu halten. Auf den sandigen Rängen dieses absurden Theaters hockte das ehrfürchtige Publikum. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen, viele beteten. Über ihnen kreiste surrend ein Zeppelin mit roter Aufschrift: EMERGENCY-TV.
Cording stand eine Weile ratlos auf der Stelle, bevor er sich seinen Weg an den Strand bahnte. Er schritt die Front der grauen Kadaver ab. Zwischen all den erloschenen Augen, die er auf seinem Weg links liegen ließ, war eines, das ihn erwartete. Sie blickten sich an. Er ging nicht in die Knie, er streichelte das Sterbende nicht, wie so viele andere um ihn herum, er stand aufrecht und blickte ihm ins Auge. Es war, als schaute er in ein warmes, gleißendes Licht. Im Blick des sterbenden Wals war mehr Frieden und Liebe, als er unter Menschen je finden würde.
Er hatte noch den Jetlag in den Knochen, als die Chefredaktion und ihn zum Rapport bestellte. Cording rief ein Taxi. In der Bogenstraße wütete das in leuchtende Overalls gekleidete Kettensägenkommando des städtischen Gartenbauamts. Die Männer arbeiteten schnell. Er war gerade zwei Monate fort gewesen, und schon standen statt der vertrauten Bäume nur noch Stümpfe in den Straßen seines Viertels. Seit Holz extrem knapp geworden war, machten sie mit ihren Motorsägen nicht einmal mehr vor den Alleen halt.
Er lehnte den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Er vermisste das Lichtgeflacker auf seinen Lidern, wenn die Sonne durchs Blätterwerk der Kastanien brach, die im Mai weiß aufschäumten. Noch vor zehn Jahren hatte er ihre herabrieselnde Blütenpracht vom Balkon aus mit Händen greifen können.
„Was ist los?“ fragte er, als der Fahrer den Motor abstellte.
„Polizeikontrolle,“ antwortete der Mann und trommelte mit den Fingern ungeduldig aufs Lenkrad. „Das ist schon das dritte Mal heute, dass ich in so eine Scheißkontrolle gerate!“ schimpfte er.
„Nach wem suchen die denn?“
„Nach Arbeitslosen.“ Der Fahrer blickte Cording im Rückspiegel prüfend an. „Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?“
„Sagen Sie es mir“.
„Sehen Sie die Tankstelle da vorne?“
„He! Was ist denn mit der passiert?!“
„Da ist gestern jemand reingedonnert. Ein illegaler Taxifahrer, ein Arbeitsloser. Das Ding flog innerhalb von Sekunden in die Luft. Peng! Zwölf Tote. Darum die vielen Kontrollen. Also bleiben Sie lieber sitzen. Zu Fuß geht es auch nicht schneller
Cording sank in den Sitz. Er fühlte sich einfach nur noch müde. Als der Senat vor fünf Jahren das Umsiedlungsgesetz verabschiedete, hatte er für seine damalige Zeitung einen Kommentar geschrieben, der ihm eine Menge Ärger und schließlich die Kündigung eingebracht hatte. Damals betrug die Arbeitslosenquote in Hamburg fünfunddreißig Prozent. Wer in einer solchen Situation den gesamten Stadtkern für ein Drittel der Bevölkerung sperrte, provozierte genau das, was er verhindern wollte: den Bürgerkrieg. Die Befürworter des Gesetzes behaupteten, dass man die Infrastruktur der Stadt vor Anschlägen schützen müsse. Die Masse der Beschäftigungslosen berge zuviel Gewaltpotential, als dass man die Durchmischung zwischen arbeitender und nicht arbeitender Bevölkerung weiterhin akzeptieren könne. Bis zum Jahre 2025 sollten alle Hamburger Betriebe, die mehr als zwanzig Mitarbeiter beschäftigten, in der City konzentriert sein. Unter City verstand der Senat nicht nur den eigentlichen Innenstadtbereich, sondern auch die angrenzenden gutbürgerlichen Wohngegenden Harvestehude, Winterhude und Eppendorf. Wer hier lebte und seinen Job verlor, wurde in die Trabantenstädte verbannt und durfte sich an alter Stätte nicht mehr sehen lassen, nicht einmal zu Besuch oder zum Einkaufen. Es sei denn, er verfügte über ein Bankguthaben von mindestens 100 000 Euro. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann die Zweiklassengesellschaft explodierte. Was hatte das Millionenheer der Ausgegrenzten schon zu verlieren?
„Die Ausweise bitte!“
Das war kein Polizist, es war ein Soldat, der die Hand durchs Fenster streckte! Er fuhr ihnen mit einem Lasergerät über die Augen, verglich die Ergebnisse mit den biometrischen Daten auf den Ausweisen und winkte sie durch. Cording ließ sich an der Staatsoper absetzen und schlenderte Richtung Gänsemarkt. Früher spielten hier Straßenmusiker, zauberten Pflastermaler die Mona Lisa aufs steinige Parkett, surften Kinder auf Skateboards durch die Menge. Heute war der Platz tot, heute huschten die Beflissenen über ihn hinweg in die Bürohäuser, als könnten sie nur dort den Beweis ihrer Existenz erbringen. Cording fragte sich, wer wirklich im Getto lebte: die Arbeitslosen oder die Beschäftigten? Waren nicht diejenigen, die ihr Leben nur noch über ihre Arbeitsleistung definierten, nicht genauso gefangen?
Hier können Sie das Buch bestellen: equilibrismus.org

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.