Wo die Spitzenpolitiker der Welt erscheinen, verneigt sich das Volk. Wenn sie sich die Hände schütteln, ernten sie Beifall. Sie residieren in Regierungssitzen, Villen und Luxushotels, reisen in Limousinen, Privatjets und Staatsflugzeugen und treffen sich in klimatisierten Konferenzräumen. Wenn sie im Blitzlicht selbstsicher lächeln, gleichen sie den Prinzessinnen und Prinzen, den Königinnen und Königen im Märchen. Sie haben es geschafft. Wie Aschenputtel und Dornröschen haben sie sich über die anonyme Masse der Menschen erhoben und werden bejubelt und beklatscht. Sie sind ganz oben — die Manager, Diplomaten, Oberbefehlshaber und Staatspräsidenten.
Vor allem die Staatspräsidenten sind die Hauptdarsteller im Marionettenspiel der Politik. An den unsichtbaren Fäden des globalisierten Finanzkapitals hängend, tanzen sie für ein belustigtes Publikum. Sie suchen und verweigern das Gespräch, bestätigen und widerrufen, überreichen Glückwünsche und Protestnoten, kooperieren und verhängen Sanktionen, umarmen und bekriegen sich. Sie gehen über die Bühne, doch die Menschen an den Fäden bestimmen die Richtung. Sie bewegen die Lippen, doch die Stimmen ertönen aus der Kulisse. Sie machen Geschichte, doch nicht aus freiem Willen.
Berechnung
Und sie machen Geschenke, denn Geschenke erhalten die Freundschaft. Oder wie der englische Dramatiker William Shakespeare meinte: „Wo Geld vorangeht, sind alle Wege offen.“ Aus Anlass eines Staatsbesuchs, auf Gipfeltreffen und internationalen Kongressen, wo die Teilnehmer über das weitere Schicksal der Menschheit beraten und entscheiden, wechseln Kostbarkeiten ihre Besitzer. Und geknausert wird nicht. Was sie schenken, ist geschaffen von den besten Handwerkern; gefertigt aus den erlesensten Materialien wie Gold und Silber, Emaille und Porzellan, Jade und Elfenbein; bestückt mit Rubinen, Diamanten und anderen Edelsteinen. Was sie schenken, ist Kunst.
Dass Kunst ins Museum gehört, leuchtet ein. Darum wohl ließ der frühere französische Präsident François Mitterrand für die Gaben, die er erhalten hatte, in Château-Chinon ein Museum einrichten. „Es scheint mir selbstverständlich“, so Mitterrand, „daß die Geschenke, die ich in meiner Funktion als Präsident der Republik erhalte, allen zugänglich sind.“ Damit machte er — ganz großer Staatsmann — diese Geschenke seinen Untertanen zum Geschenk. Allerdings muss, wer die Herrlichkeiten optisch genießen will, Eintritt bezahlen.
Jedem Museum, so sehenswert die ausgestellten Gegenstände auch sein mögen, haftet etwas Absurdes an. Die scheinbare Lebendigkeit des Ausgestellten kontrastiert unangenehm mit der kalten Umgebung. Der ausgebreitete Jahrmarkt der Eitelkeiten vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass unser Lebenslicht täglich bedroht ist. Im Museum beschleicht den Besucher das dumpfe Gefühl der Vergänglichkeit, die Ahnung von der sterblichen Größe irdischen Strebens.
Hingabe
Im Mittelhochdeutschen bedeutete schenken: zu trinken geben. Der Eine füllte den Becher des Anderen, stillte dessen Durst. Diese Herkunft verweist auf den Sinn jedes Geschenkes: der Eine befriedigt ein Bedürfnis des Anderen. Schenken hat mit Hingabe zu tun und setzt den Mut zum Verzicht voraus. Ich enthalte mich, damit du zum Zuge kommst. Geschenke haben ihren Ursprung in der Dankbarkeit. Sie machen Freude. Sie sind Liebesbeteuerungen.
Im Märchen „Die Sterntaler“ erzählen die Brüder Grimm von einem Mädchen, das seine Eltern verliert. Es ist so arm, dass es nur noch die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot besitzt. Draußen auf dem Feld schenkt es einem hungernden Mann das Brot und ein paar frierenden Kindern Mütze, Röckchen, Hemd und Leibchen. Nackt steht es im dunklen Wald unter dem Sternenhimmel und hungert und friert nun selbst. Bis auf einmal die Sterne herabregnen, lauter Goldstücke, in ein neues Hemd vom allerfeinsten Linnen. In dieser Geschichte klingt die Wahrheit an, dass in der freiwilligen Entäußerung (seiner selbst) das eigene Wohlergehen keimt.
Das Glück, das Anderen beschert wird, kehrt ins eigene Herz zurück.
Arglist
Dass das Gegenteil ebenfalls zutrifft, wird im Märchen vom „Schneewittchen“ offensichtlich. Die stolze Königin, die gern die Schönste im ganzen Land wäre, muss vom Spieglein erfahren, dass ihr Stiefkind tausendmal schöner ist als sie. Angestachelt durch Neid und Hochmut, trachtet sie dem Kind nach dem Leben. Nach mehreren Versuchen, Schneewittchen zu töten, verkleidet sie sich als Bauersfrau und schenkt ihm einen vergifteten Apfel. Das tote Mädchen wird von den sieben Zwergen in einem Sarg aus Glas aufgebahrt. Ein Königssohn, der diesen entdeckt, darf ihn ins Schloss seines Vaters überführen. Schneewittchen erwacht aus dem Scheintod, und der Prinz nimmt es zur Frau. Die stolze Stiefmutter aber wird zum Hochzeitsfest eingeladen und muss in rot glühenden Eisenschuhen tanzen, bis sie tot umfällt.
Was in den Märchen so klar zum Ausdruck kommt, ist im Alltag viel schwerer zu erkennen. Zwischen falschen und echten Geschenken zu unterscheiden, ist eine große Kunst, denn ein Geschenk verpflichtet denjenigen, der es erhält. Nicht das Geschenk selbst ist von Bedeutung, sondern die Haltung des Schenkenden. Ge-schenkt werden können in erster Linie natürlich Gegenstände, aber auch ein Lächeln und ein Blick, Beachtung und Freundschaft, Vertrauen und Gunst, Glauben und Zeit, Freiheit und sogar das Leben.
Das alles kann den Empfänger bereichern, aber auch bedrängen.
Geschenke können prahlen und heucheln, schmeicheln und werben, einschüchtern und erpressen, bestechen und korrumpieren. Sie können Geschäfte einleiten und sogar dem Schlachtruf vorangehen.
Es gibt sinnvolle und nützliche Geschenke, aber auch überflüssige und schädliche. Der amerikanische Dadaist und Fotograf Man Ray schuf von 1921 bis 23 ein Objekt und nannte es „Geschenk“: Ein mit Nägeln durchbohrtes Bügeleisen.
Niedertracht
Wo die Mächtigen der Welt erscheinen, bleibt kein Auge trocken. Spitzenpolitiker beschenken Spitzenpolitiker: Wie du mir, so ich dir. Danach setzen sich die Politiker an den Konferenztisch und drücken beide Augen zu. Es werden Beschlüsse gefasst und Resolutionen verabschiedet, Verträge abgeschlossen und Schlussdokumente unterzeichnet — und doch ändert sich kaum etwas. Der Wachstumswahn greift um sich und der neoliberale Zeitgeist greift nach dem Osten.
Die echten Geschenke der Politiker gelten der Menschheit: Baschar al-Assad stürzt Syrien in einen blutigen Bürgerkrieg, Donald Trump verbrüdert sich mit Kim Jong-un, Wladimir Putin annektiert die Krim, Xi Jinping macht aus China eine Polizeidiktatur, Angela Merkel begünstigt Waffen- und Chemie-Exporte in Krisenherde, Jair Bolsonaro zerstört den brasilianischen Regenwald, Shinzo Abe baut Atomkraftwerke …
Die echten Geschenke sind Nationalismus und Fremdenhass, Hunger und Verschuldung der Dritten Welt, Drogenhandel und Geldwäscherei, gentechnische Experimente an Föten und Freisetzung genmanipulierter Organismen, Gifttransporte auf Straße und Schiene, Umweltkatastrophen und Waldbrände, Kloake Nordsee und Plastikmüll in den Meeren, wachsender Autoverkauf und Treibhauseffekt, verseuchte Böden und verstrahlte Lebensmittel, Sommersmog und Wintersmog, Ozonloch und Artensterben ... Das echte Kollektivgeschenk der politischen Elite ist die Gleichgültigkeit gegenüber der Klimakatastrophe, die Untätigkeit angesichts des ökologischen Selbstmords der Menschheit.
Doch Staatspräsidenten sind „auch nur Menschen“. Und trotz der Insignien der Macht sind sie der Zeit und ihren Einflüssen ebenso ausgesetzt wie der Mann und die Frau von der Straße. Wer nur sie anklagt, ist ungerecht. Sie bilden nur die Spitze des (schmilzenden) Eisbergs. Sie können auch nicht, wie sie wollen, und handeln nur unter Druck. Das macht sie nicht besser, relativiert aber ihre Verantwortungslosigkeit. Eine Gesellschaft, die sich selbst umbringt, besteht aus vielen Einzelwesen, die sich selbst umbringen.
Bescheidenheit
In dieser Situation geht es nicht mehr darum, einander Tennisschläger und Schmuck und Reisegutscheine und Armbanduhren zu schenken. Die Menschheit liegt in Agonie. Oder kann es uns wie Schneewittchen ergehen, das nur scheintot im Glassarg lag und zu neuem Leben erwachte?
Dafür allerdings hätten wir einen Beitrag zu leisten: die Bereitschaft zur Bescheidenheit und zum persönlichen Engagement. Nicht nur die da oben müssten sich ändern, sondern auch wir uns selbst.
Dieser Einsatz beinhaltete den tatsächlichen Verzicht auf einen Großteil von Konsum und Mobilität sowie den Willen zur internationalen Zusammenarbeit im Kampf gegen den drohenden Öko-Kollaps. Keine leeren Worte mehr: Taten. Wir müssten unsere Fähigkeiten — in Beruf und Freizeit — in den Dienst der Schöpfung stellen, sie der menschlichen Gemeinschaft zum Geschenk zu machen. Wir müssten bereit sein, uns selbst zu schenken.
Dann wären unsere Liebesbeteuerungen wie die Sterne im Märchen, die herabregnen und das Schicksal der Anderen vergolden. Dann wäre der Himmel durch unsere Hingabe auf der Erde gegenwärtig. Dann wären wir selbst die Beschenkten. Und dann wären Museen der zwischenmenschlichen Eitelkeit überflüssig.
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