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Das größte Badezimmer der Welt

Das größte Badezimmer der Welt

Arme werden durch ihr Leben oft reich an Erfahrungen, während manche Reiche in geistiger Armut versinken. Ein Erlebnisbericht aus Südamerika.

Was macht Armut aus? Oft genug habe ich sie empfunden und oft genug, aber nicht immer, waren es keine materiellen Ursachen.

Die materielle Variante ist in der heutigen, rein auf bunte Knete ausgerichteten Gesellschaft die, die am einsamsten macht.

Dabei ist diese Haltung der Gesellschaft richtig armselig. Das letzte Hemd hat keine Taschen!

Meine Erfahrung mit finanzieller Armut mündete damals als Arbeitsloser in Selbstmordgedanken, um der Familie mit dem Geld der Lebensversicherung weiter zu helfen. Dazu hätte ich die Versicherungsgesellschaft übertölpeln müssen und genau darauf konzentrierten sich meine Gedanken in der Zeit. Glücklicherweise hatte ich noch Augen, um anderes zu sehen. So kam ich wieder in eine Beschäftigung, drei Wochen vor dem Tag X. Meine Tochter hat es später erfahren und war von den Socken. Ich war so einsam und das in meiner Familie, ich war fixiert. Wann, wo und wie waren geklärt.

Die größte Armut bekam ich da gar nicht mit: Angst.

Ohne wäre ich vernünftiger gewesen.

Das Gefühl der Armut verließ mich nicht oft. „Er hat ein hohes Anerkennungsbedürfnis“, stand im Zeugnis der dritten Klasse. Das stimmt und zeigt schon, dass da große Armut war. In der Grammatik-Arbeit sollten wir die Verben rot und die Subjektive blau unterstreichen. Es gab eine 1 für meine Arbeit. Bei der sehr ausführlichen Auswertung merkte ich, ich hatte alles richtig gemacht, nur die Farben aus Versehen vertauscht. Ich ging also aus lauter Ehrlichkeit vor und zeigte das und erklärte den Lapsus. Die Lehrerin strich die 1 durch und sagte: „Du hast eine 5 verdient, ich belasse es bei einer 3.“ Das war meine einzige Nicht-1 in Deutsch in dem Jahr. Wie arm ist diese Lehrerin gewesen? Ich hatte ihr in meinem Drei-Käse-Hoch-Alter nicht helfen können. Aber ich fühlte ihre Armut in Verständnis, Pädagogik und Großzügigkeit mit meinen 9 Jahren deutlich.

Während meines Berufslebens habe ich eine ganz andere Armut kennen gelernt. Meist war sie gekoppelt an eine weitere Armutsform. Alles nur nach einem Kriterium zu beurteilen, ist so armselig. Das meist verwendete Kriterium ist: „Krieg ich Geld dafür oder büße wenigstens keines ein?“ Das angekoppelte Kriterium ist noch armseliger: Arschkriecherei, bewusstes Unterdrücken eigenen Denkens. Das kennen alle nicht völlig verarmten Menschen aus eigenem Erleben.

Auch erschreckend ist die kulturelle Armut der sich selbst als „zivilisiert“ nennenden Welt. Von den jüngsten Verrohungen, wie Genderei abgesehen, besteht das aus Angeben auf Angebliches, künstlich hoch gehaltene Einzelerscheinungen et cetera, Pseudoverhalten, ohne zu wissen, was das Wort Kultur bedeuten könnte. In meiner Heimatstadt gibt es viele Liebhaber der klassischen Musik. Sie machen vielleicht 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung aus. Zu Silvester wird im Gewandhaus immer seit schier undenklichen Zeiten die 9. Sinfonie von Beethoven mit Schillers Ode an die Freude aufgeführt. Mit klassischer Musik kann der überwiegende Teil nichts, absolut nichts, anfangen, aber an dem Tag ist er im Gewandhaus, im neuen Jahr bis auf seinen letzten Tag allerdings nie wieder.

Hier in Südamerika wird alles farbenfroh mit den unterschiedlichsten Motiven bemalt, Hochhäuser, Fußwege, Autos. Die „Bemaler“ sind ganz normale Menschen, wollen ihre Gefühlswelt offenbaren. Im vollbesetzten Linienbus wird oft genug lauthals gesungen. Die Sänger sind nur ganz einfach lebensfroh. An den Straßenkreuzungen stellen Laien ihre Zirkusfähigkeiten unter Beweis. Gewiss machen sie es zum Lebensunterhalt, aber es ist — wie die beiden Arten davor — lebende Kultur, die der „zivilisierten“ Welt abgeht.

Die größte Armut betrifft jedoch Menschen, die materiell Müllionäre sind — der Rechtschreibfehler ist gestattet? —, aber nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen. Ich habe einem einmal sogar schon direkt ins Gesicht gesagt: „Du bist mit deinem Vermögen ein armes Schwein“.

Sicher haben sie in ihrer Armut auch Menschen mit viel weniger Geld. Sie sind gemeinsam arm dran.

All diese Armut ist enorm schwer zu heilen, die materielle relativ einfach. Das setzte aber die Beseitigung der zuletzt genannten Armut voraus. Das ist nicht zu erwarten.

Hört das Gejammer endlich auf?

Eine Erbärmlichkeit nach der anderen aufzuzählen, ist wenig erbaulich. Ja, es hört auf! Zum Abschluss statt eines erhobenen Fingers — kommt immer darauf an, welcher: der kleine kündet ja von angeblicher Vornehmheit, ein anderer ganz und gar nicht — folgt eine Geschichte über eine lediglich materiell Arme.

Warm und sicher

Meine neue Unterkunft macht mich schon etwas stolz. Ich habe da ja auch eine ganze Weile gebraucht, sie fertigzustellen. Das Wichtigste an einer Unterkunft ist aber etwas ganz anderes: der Standort. Und den habe ich großartig gewählt. Ich komme nicht direkt aus Valparaiso, bin erst vor gut 10 Jahren hierher gekommen. Da hatte ich Aussicht auf einen guten, netten Job. Das war er auch. Dann fing der Sohn des Chefs an, sich für mich zu interessieren. Ich hatte zu der Zeit leider keinen festen Freund. So musste ich mich selbst verteidigen. Das tat weh. Der einzige Judo-Wurf, den ich kenne, hat super funktioniert. Er tat ihm so weh, dass er zu seinem lieben Papa ging und ihm beichtete, wer ihm das angetan hatte. So war ich meinen Job los und ohne Job fehlt das Geld. Das braucht man auch, um Miete zu bezahlen. So war ich mein Zimmer ein paar Monate später auch los.

Das ist alles lange her und ich habe nicht aufgegeben. Nie geschnüffelt, gespritzt oder Tabletten eingeworfen, obwohl es mir immer mal wieder angeboten wird. Da bin ich hartnäckig. Das ist auch der Grund für meinen wirklich tollen Erfolg mit der Unterkunft.

Anfangs habe ich in Parkanlagen geschlafen. Im Winter dann an den Abzugsschächten der U-Bahn. So konnte es nicht ewig weitergehen. Ich beschloss also, mir eine dauerhafte Bleibe zu beschaffen.

Sie ist auf dem Grünstreifen der parallel zum Strand verlaufenden Hauptmagistrale. Dahin verirrt sich in der Nacht kein Gewalttäter, die Autos sind einfach unberechenbar mit Tempo 80 oder mehr. Am Tage bin ich im Blickfeld des großen Gemüsemarktes, auch das sind sichere Stunden. Außerdem bekomme ich für ein paar Hilfsleistungen immer auch ein paar Früchte. Hunger wurde für mich seitdem zum Nebenthema. Der Grünstreifen besteht aus Hartholzgestrüpp, reichlich einen halben Meter hoch. Ich habe mich da reingezwängt und muss regelmäßig ausästen. Mein Pappkarton, eigentlich sind es zwei nebeneinander, ist dadurch aber auch ziemlich stabil geschützt und verschwindet darin. Ich habe ihn mehrlagig ausgestattet, so ist es im Sommer frischer und im Winter wärmer. Auch eine Folie habe ich am Gestrüpp verankert. Vorräte an sauberer Wäsche und manchmal Esswaren befinden sich gute 20 Meter weg in einem anderen Versteck.

Saubere Wäsche und Körperhygiene sind mir wichtig. Wenn die Sonne anfängt nachzulassen, gehe ich los. Zwischen meiner Magistrale und dem Strand ist ein Hindernis, die Eisenbahnstrecke zum Hafen. Die ist eingezäunt, vielleicht dreimal so hoch wie ich. Barfuß kann ich aber meine großen Zehen in den Maschen des Drahtes unterbringen und so bin ich ganz schnell oben und genauso schnell auf der anderen Seite wieder unten. Dann habe ich das größte Badezimmer der Welt, den Ozean, erreicht. Der ist auch im Sommer nicht sonderlich warm, ich bin jedoch hart im Nehmen. Früchte, die Schaum absondern, gibt es in Valparaiso genug. So kann ich mich und meine Wäsche immer sauber halten. Und eine besser funktionierende Toilettenspülung hat bestimmt auch niemand. Durch die Hafengleise habe ich mein Badezimmer auch ganz allein für mich.

Die Polizei hat in der Zeit, seit ich hier wohne, erst einmal vorbeigeschaut. Die beiden waren freundlich und nach ein wenig Small Talk zogen sie weiter. Auch meine Gesundheitsvorsorge nehme ich ernst. Es ist ja klar, mit jedem neuen Jahr werde ich älter. Zwei Straßenzüge weiter ist eine Arztpraxis. Mit dem Arzt habe ich einen Deal geschlossen. Er bekommt immer mal wieder ein paar der Früchte vom Markt, seltener einen gefangenen Fisch und ich darf mich bei Bedarf behandeln lassen.

Das Fischefangen ist ein großes Vergnügen, die Haken sind Eigenproduktion, die Schnüre waren ein Zufallsfund. Viel zu fangen gibt es nicht, ich habe aber Zeit und Geduld. Habe ich es geschafft, so mache ich ein offenes Feuer und bereite die Beute zu. Geröstet, gekocht oder gebraten, Fisch naturell schmeckt immer.

So habe ich ein gutes Leben in einem komfortablen Zuhause und täglich zu tun. Nur einen festen Freund nicht. Dafür aber Gespräche mit anderen Anglern über ihr kärgliches Los. Ich erzähle dann selten, höre lieber zu. Da kann ich noch was lernen.


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